Kufungisia sagen die Menschen in Simbabwe zu Depressionen. Hilfe für psychisch Kranke gibt es nur für einen Bruchteil. Dann hatte ein Psychiater aus der Hauptstadt Harare die Idee, Großmütter zu Laientherapeutinnen auszubilden. Sie sitzen auf Freundschaftsbänken, hören zu und retten Leben.
Im Schatten eines Avocadobaumes erwartet Melenia Motokari ihre Patienten. Locken winden sich um den Kopf wie ein dunkler Heiligenschein. Motokari strahlt die Gelassenheit einer 73-Jährigen aus, die sechs Kinder geboren und 23 Enkelkinder aufgezogen hat. Dorcas Gumbeze, gerade halb so alt wie sie, rutscht auf den freien Platz neben ihr.
„Willkommen, mein Kind", begrüßt Melenia Motokari die junge Frau.
„Hallo, Gogo, Großmutter", antwortet die Besucherin. Gogo ist die liebevolle Bezeichnung für alte, kluge Damen. Mit gesenktem Kopf starrt Gumbeze auf ihre Finger, kratzt am dunkelblauen Nagellack. Schweigen. Motokari nimmt ihre Hand. „Du kannst mir anvertrauen, was auf dir lastet." Zum ersten Mal blickt ihr Gumbeze in die Augen. „Ich traue mich nicht, meiner Familie und Freunden zu gestehen, dass ich HIV-positiv bin", beginnt sie stockend. „Ich hab’ Angst, dass sie mich dafür verachten."
„Es gibt keinen Grund, dich schuldig zu fühlen", sagt Motokari. Gumbeze bleibt stumm. Aber nach einer Weile scheint sich ein Knoten zu lösen. Es ist das erste Mal, dass sie über ihren Kummer spricht. Über die Angst zu sterben, die Angst vorm Leben. Über ihren Traum, nicht mehr ihren Körper zu verkaufen. Motokari hört zu und schreibt mit. Es wird eine lange Liste. Auf ihrem Schoß liegt ein Fragebogen. „Hast du in letzter Zeit Probleme, dich zu konzentrieren?" „Ja", antwortet Dorcas Gumbeze leise. „Fehlt dir die Kraft, für dich oder andere zu sorgen?" „Ja." „Plagen dich Albträume?" „Ja." „Schon mal daran gedacht, dich umzubringen?"
Selbstmord ist die häufigste Todesursache
Stummes Nicken. Am Ende hat die junge Frau elf von 14 Punkten zugestimmt. Elf Symptome, die zeigen, dass ihre Seele krank ist. Motokari wird sie nicht von HIV und Prostitution erlösen, aber sie kann versprechen, kommende Woche wieder für sie da zu sein.
Was sich an diesem Morgen im Garten der Klinik Glen Norah am Rand der Hauptstadt Harare abspielt, gleicht einer stillen Revolution in einem Land, in dem Menschen mit psychischen Problemen stigmatisiert sind. Jeder Sechste ist mit HIV infiziert, fast jeder Vierte leidet an Kufungisisa. Es ist das Wort für Depression und bedeutet in der Landessprache: Wenn du zu viel denkst, Sorgen nachts in den Schlaf kriechen, Angst alle Kraft raubt. Es ist ein Tabu, über psychische Krankheiten zu sprechen. Obwohl oder gerade weil Selbstmord eine häufige Todesursache in Simbabwe ist. In Entwicklungsländern werden psychische Erkrankungen durch Konflikte, Krisen und Armut verschlimmert. Diktator Robert Mugabe hat Simbabwe über Jahrzehnte in den Ruin regiert, bis die Kornkammer Afrikas zu einem der ärmsten Länder der Welt verkam. Ein bleibender Reichtum des Landes sind Großmütter wie Motokari, die Geduld und Zeit mitbringen, um Leid zu lindern. Sie warten auf Freundschaftsbänken und hören zu.
Im Zentrum von Harare, nur 40 Autominuten entfernt und doch in einer anderen Welt, steht Dixon Chibanda vor der Fensterfront seiner Privatpraxis. Die Mittagssonne bricht durch das Glas. Villen verstecken sich hinter haushohen Mauern. In einem Land mit gut 15 Millionen Einwohnern ist Chibanda einer von zwölf Psychiatern. „Viel zu wenige", sagt er. In seiner Praxis empfängt der 51-Jährige vermögende Patienten. „Zu mir kommen Menschen, die in Depressionen fallen, weil ihr Haustier gestorben ist."
Er kennt auch die andere Seite. Er spricht von der Armut, die in den Townships grassiert, von Säuberungsaktionen der Regierung, die Hunderttausende obdachlos zurückließen, von den 80 Prozent seiner Landsleute, die arbeitslos sind. „Wir sind ein traumatisiertes Volk."
Chibanda studierte mit einem Stipendium in der Tschechoslowakei, wollte ursprünglich als Kinder- oder Hautarzt praktizieren. Dann brachte sich einer seiner Freunde um. „Ich war entsetzt, dass ich seine schwere Depression nicht erkannt hatte." Anfang der 90er-Jahre kehrte er zurück nach Simbabwe und arbeitete in der Psychiatrie, eigentlich nicht mehr als eine Pflichtstation. „Doch was ich dort erlebte, erinnerte mich an den Film ‚Einer flog übers Kuckucksnest‘, Menschen, die wie Zombies durch die Gänge wandeln, gefesselte Patienten, falsch eingesetzte Elektroschocks." Chibanda reiste durch Afrika: nach Ghana, nach Benin, Malawi, Sambia. Er traf auf Voodoo-Zauberer, Exorzisten, Hexer und andere selbsternannte Propheten, die „Verrückte" heilen wollten. Doch nichts prägte ihn so, wie diese Sommernacht 2005, als ihn ein befreundeter Arzt anrief. „Eine ehemalige Patientin von dir ist mit einer Überdosis Medikamenten eingeliefert worden", sagte der Kollege. Chibanda erklärte, welche Antidepressiva die junge Frau brauche, dass sie überwacht werden und direkt nach ihrer Entlassung zu ihm kommen müsse. Es vergingen Tage, eine Woche. Sie kam nicht. Eines Tages rief ihre Mutter an. Ihre Tochter hatte sich an einem Mangobaum erhängt. Als er noch unter Schock fragte, warum sie nicht zu ihm gekommen wären, sagte sie, dass sie die 15 Dollar für den Bus nicht aufbringen konnte. „Spätestens an diesem Punkt war mir klar, dass wir denen helfen müssen, die es sich nicht leisten können."
Rückgrat, Herz und Verstand vieler Familien
Er brauchte Verbündete und fand die Großmütter: Rückgrat, Herz und Verstand vieler simbabwischer Familien. „Für mich sind sie die Hüterinnen von Weisheit und Erfahrung", sagt er. „Sie sind empathisch, die besten Zuhörerinnen, Geschichtenerzählerinnen und Trösterinnen, leben in den Dörfern, wo sie gebraucht werden, und haben Zeit."
Chibanda konnte auf ein vorhandenes System aufbauen: Seine Helferinnen haben bereits seit vielen Jahren fürs Gesundheitsamt gearbeitet. Manche ziehen seit 40 Jahren durch ihre Viertel, erklären, wie Händewaschen den Ausbruch von Cholera verhindern kann, klopfen an Türen und fordern Familien zu HIV-Tests auf. Die Menschen nennen sie „Gemeinde-Großmütter".
Zwölf Jahre sind vergangen, seitdem er die ersten Großmütter ausgebildet hat. An einem Donnerstagmorgen im Juni fährt er in seinem blauen Landrover zu ihnen nach Mbare, dem ältesten, größten Vorort Harares – und dem ärmsten. „Vergiss nicht durchzuatmen", mahnt ein Sticker auf seinem Kofferraum. Minibusse mit mehr Passagieren als Sitzen brettern über staubige Straßen, in die sich unzählige Schlaglöcher gefressen haben. „Gott will das Beste für uns. Gott ist unser Versorger", prangt auf einem der Vans, auf einem anderen: „Bete, bis sich etwas ändert." Im Innenhof der kleinen Poliklinik parkt Chibanda. Seine „Golden Ladys", die trösten und helfen, statt auf höhere Mächte zu hoffen, erwarten ihn bereits. Einmal pro Woche sprechen sie mit ihm über ihre Probleme. Sie haben die Bänke zusammengerückt, sitzen Tee trinkend in der schwachen Morgensonne. „Viele Patienten nehmen ihre Medikamente gegen das HI-Virus nicht mehr, weil Priester und Scharlatane sagen, sie sollen lieber auf Gott vertrauen", sagt Constance Makokowa, 68 Jahre alt, die selbst gestrickte Wollmütze tief über den Lockenkopf gezogen.
„Was können wir tun, um mehr Leute zu erreichen?", fragt Chibanda. „Wir brauchen mehr Anzeigen in unseren Zeitungen", sagt Makokowa. „Wir müssen mehr junge Menschen erreichen, vielleicht werben wir für die Parkbank an den Minibussen." Die größte Aufgabe ist es, den Menschen die Angst zu nehmen. Erst hießen die hölzernen Therapieplätze „Bank für psychische Gesundheit". Kaum einer kam. Es klang nach Verrücktheit, Schwäche, Scham. Dann machten die Großmütter von Mbare „Freundschaftsbank" daraus. Mittlerweile gibt es mehr als 100, verteilt auf 72 Krankenstationen in Harare, der Nachbarstadt Chitungwiza und in Gweru, vier Autostunden entfernt von der Hauptstadt. Die Großmütter sind zu einer kleinen Armee gewachsen, der mehr als 300 Seelsorgerinnen im Kampf gegen Kufungisisa angehören.
Inzwischen gibt es über 100 Seelsorgerbänke
Vom Markt weht der Duft gebackener Maiskolben herüber, Rufe fliegender Händler, die Bananen und unter der Hand Cannabis verkaufen. Am Klinikeingang wirbt ein Schild für Vorhautbeschneidungen. Im Schatten des Vordachs warten Mütter mit Neugeborenen auf die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung. Wenn früher Patienten über Kopfschmerzen klagten, wurden sie mit ein paar Pillen abgespeist. Heute erkennen die Krankenschwestern, wenn die Frauen nach der Entbindung unter Depressionen leiden. Großmütter laden sie zu sich auf die Bänke ein: Eine Frau mit Halluzinationen ist dabei, in deren Kopf jede Nacht Motoren dröhnen. Ein junger Mann, der sich mit codeinhaltigem Hustensaft berauscht. Die junge Mutter mit ihrem Baby, deren Vater seinen Lohn und die Sorgen in Maisbier ertränkt, statt ihre Schulgebühren zu bezahlen. Die Großmütter hören Geschichten von Gewalt in der Ehe und sexuellem Missbrauch, von Armut, Angst, Einsamkeit. Und immer wieder von HIV.
Chibanda schult die Frauen in Problemlösetherapie mit Rollenspielen. Sie nutzen dafür eine eigene vertraute Sprache. Die erste Stufe ist Kuvhura pfungwa, den Geist öffnen, die zweite Kusimudzira, sich aufrichten. Der nächste Schritt: Kusimbisa, stärker werden. Ein Sprichwort in Simbabwe besagt: „Es gibt nur einen Weg, einen Elefanten zu essen: einen Bissen nach dem anderen". Die Großmütter helfen ihren Patienten, ihre Probleme zu erkennen und kleiner zu machen, selbst Wege zu finden, mit ihren Sorgen umzugehen. Für jede Sitzung setzen sie Ziele. „Nur eines mussten wir uns abgewöhnen", sagen die Gogos von Mbare. „Zu viele Ratschläge zu geben. Tu dies, mach das."
Nach einer Stunde schrillt Chibandas Handywecker, Signal zum Aufbruch. „Pressekonferenz mit Lokaljournalisten", sagt er. „In wenigen Tagen fliege ich nach London und erzähle auf einer Konferenz von euch." Er wirbt um Unterstützung, neue Partner. Chibanda arbeitet mit Psychiatern und Psychologen aus Großbritannien zusammen, mit der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die Organisation Grand Challenges aus Kanada finanzierte die Freundschaftsbänke mit. Psychologen und Sozialarbeiter, Chibanda arbeitet ehrenamtlich. Constance Makokowa umarmt ihn zum Abschied und knufft ihn. „Wann nimmst du uns endlich einmal mit?"
Nur fünf Gehminuten von der Poliklinik entfernt sitzt Rudo Chinhoyi vor ihrem Häuschen – und sehnt sich zurück auf ihre Freundschaftsbank. Die 82-Jährige wirkt zerbrechlich, die Arme sind dünn, ein schmutzig weißer Verband schützt ihr gebrochenes Handgelenk. Vor wenigen Tagen stürzte sie aus einem Minibus, jemand hatte sie gestoßen. Wie ihre Kolleginnen verdient sie 122 Dollar im Monat. Allein ihre Miete verschlingt 90 Dollar. „Es reicht nicht", sagt sie. Chibanda hat ihr Schmerztabletten vorbeigebracht. Es ist nicht nur das bisschen Geld. „Ich fühle mich gebraucht. Es macht mich stolz, so vielen Menschen zu helfen." Sie hat längst aufgehört, sie zu zählen. Nun braucht sie selbst Hilfe. Chinhoyi erhebt sich mit verzerrtem Gesicht, geht in das kleine Wohn- und Schlafzimmer, wo sie mit zwölf ihrer Familienmitglieder lebt. „Jede Nacht liege ich wach und weiß nicht, wie es weitergeht." Für eine Operation ihres kaputten Handgelenks bräuchte sie 500 Dollar. Unbezahlbar.
Studie belegt den Erfolg der Laientherapeutinnen
Wie ihre Kolleginnen kennt Chinhoyi viele Sorgen aus eigener Erfahrung. „Manchen kann ich vielleicht besser helfen als jeder Therapeut." Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die Menschen den Großmüttern auf den Bänken so schnell vertrauen. Mehr als 34.000 Menschen haben in den vergangenen Jahren eine Freundschaftsbank besucht. Die Universität von Simbabwe und das King’s College in London haben eine Studie veröffentlicht, die 573 Patienten erfasst. Die Hälfte von ihnen hatte eine Freundschaftsbank besucht. Die andere Gruppe wurde wie üblich mit Medikamenten behandelt. Das Ergebnis: Patienten mit Angstzuständen zeigten nach den Gesprächen mit einer Großmutter viermal weniger Symptome einer Depression, Selbstmordgedanken traten fünfmal weniger auf. Ein halbes Jahr nach den Banksitzungen hatte nur noch jeder siebte Patient Symptome von Kufungisisa. Diese Erfolge sind so beeindruckend, dass Freundschaftsbänke längst nicht mehr nur in Simbabwe stehen. Chibanda hat Laien in Malawi und in Sansibar ausgebildet. Bald starten er und Kollegen in Liberia, einem Land, das hart von Ebola getroffen wurde. Bis Ende 2018 will er mit seinem Team 1.000 Laientherapeuten ausgebildet haben. Seine Methode wird unter Experten bereits heute als Modell diskutiert, wie in sehr armen Ländern Menschen mit psychischen Erkrankungen geholfen werden kann.
In einem kleinen Schuppen am Rande von Harare sitzt Chinhoyis Tochter Farai und häkelt. Farai heißt Glück. Doch das Glück hat die 47-Jährige verlassen. 2008 starb ihre Schwester an Krebs, seitdem sorgt sie für ihre zwei behinderten Nichten, zusätzlich zu ihren Kindern. Irgendwann fehlte ihr die Kraft. Depressionen, Selbstmordgedanken. „Ich hatte bereits Rattengift im Schrank", erzählt sie. „Die Großmutter hat mich gerettet." Jetzt häkelt sie Handtaschen, gemeinsam mit acht Frauen, die Ähnliches erlebt haben.
Die Selbsthilfegruppe ist die letzte Stufe der Freundschaftsbank: Die Frauen sollen sich gegenseitig Mut machen. „Wenn du deine Probleme für dich behältst, wachsen sie", sagt Farai Chinhoyi. Die Idee, eine Häkelgruppe zu gründen, stammt von Chibandas Großmutter, inzwischen 98 Jahre alt. Heute verdienen die Frauen ein wenig Geld mit ihren Häkeltaschen. Und sie sind nicht allein. Farai Chinhoyi belässt es nicht beim Häkeln. Jede Woche fährt sie mit dem Bus in die Klinik nach Glen Norah, wo unter einem Avocadobäumchen Melenia Motokari auf der Bank sitzt. Wie Motokari möchte auch sie sich zur Therapeutin ausbilden lassen. Schon jetzt trifft sie Patienten zum „Circle Kubana Tose", gemeinsam Hände halten. Zwischen den sechs Sitzungen singen, reden und beten sie zusammen. Motokari wird sich am frühen Morgen wieder auf den Weg zur Klinik machen. Sie wird sich unter den Avocadobaum setzen, zuhören, trösten, ermutigen. „Ich komme zu dieser Bank, bis ich irgendwann nicht mehr aufstehen kann."