Jutta Schneider möchte in St. Wendel auf links liegen gelassene Kunstwerke aufmerksam machen. Die Tour wurde als erste im Saarland mit dem Siegel „Reisen für alle" ausgezeichnet. Denn die Gästeführerin hat sich auf Menschen mit körperlichen Einschränkungen spezialisiert.
Jutta Schneider trägt einen Sonnenhut mit breiter Krempe, dem Wetter geschuldet eine kurze Hose und kurzärmlige Bluse. Sonnenbrille trägt sie aus Prinzip nie bei ihren Führungen, denn so kann sie ständig Blickkontakt mit ihren Gästen halten. Hinter ihrem Rücken steht das Mia-Münster-Haus, das vor lauter Baugerüsten und weißen Planen kaum zu erkennen ist. Die 59-jährige ausgebildete Gästeführerin hat sich soeben den vier Teilnehmern ihrer Stadtführung vorgestellt. Unter ihnen sind eine Frau und ein Mann mit einem Rollstuhl, ein anderer Mann trägt ein Cochlea-Implantat (CI), denn er ist von Geburt an taub. „Kunst in der Stadt" heißt die Gästeführung, in deren Mittelpunkt der Bildhauer Leo Kornbrust und die Skulpturen in der Stadt stehen. „In St. Wendel gibt es sehr viele Skulpturen, doch die meisten sieht man nicht, weil man einfach an ihnen vorbeigeht", sagt Schneider. Mit der Gästeführung will sie auf diese links liegen gelassenen Kunstwerke aufmerksam machen, gleichsam das Auge für Kunst im öffentlichen Raum schulen.
Schneider nimmt es jedenfalls mit Humor, dass derzeit das Mia-Münster-Haus, wie sie sagt, „christomäßig verpackt ist" und die davorstehende Wendelin-Skulptur „einen Wintermantel anhat". Ihre „Kunst in der Stadt"-Tour wurde vor Kurzem von „Reisen für alle" zertifiziert. Bisher ist es im Saarland die erste Gästeführung mit diesem Gütesiegel. Durch das Kennzeichnungssystem sollen bundesweit barrierefreie Tourismusangebote vorangebracht werden. Da sie bei ihrer Führung eine Kommunikationsanlage, ausgestattet mit Kopfhörern für jeweils ein Ohr und Induktionsschleifen für CI-Träger einsetzt, können auch hörgeschädigte Menschen entspannt zuhören. CI-Träger und Hörgeräte-Träger empfangen die akustischen Signale über eine um den Hals gehängte Induktionsschleife.
Induktionsschleifen für Hörgeräte-Träger
In der Vergangenheit machte Schneider die Erfahrung, dass es in ihren Führungen immer einen gab, der lustlos der Gruppe hinterhertrottete, erzählt sie. Die gebürtige Schiffweilerin zweifelte beinahe an der Qualität ihrer Führungen, bis sie merkte, dass die Personen einfach nicht richtig hören können. Irgendwann ging sie auf die Leute zu, die sich mehr oder weniger ausgeklinkt hatten, und fragte sie, was sie verbessern kann. „Seitdem ich die Kommunikationsanlage einsetze, laufen meine Führungen richtig gut", sagt sie. Immer, wenn jemand sagt, dass er das Gerät nicht brauche, werde sie hellhörig und vermute, dass derjenige Hörschwierigkeiten hat. Und meistens liege sie da nicht falsch. „Das ist für viele Hörgeräteträger immer noch eine Hemmschwelle, offen ihr Handicap zu zeigen", sagt Schneider. Und viele, etwa Schwerhörige, empfänden ihre Beeinträchtigung noch immer als Makel. Als nächstes Projekt schwebt ihr vor, auch Gästeführungen für Sehbehinderte anzubieten.
Wenige Meter weiter bleibt Schneider, die Gästegruppe im Schlepptau, neben dem ebenfalls verpackten Kugelbrunnen an der Rückseite des Mia-Münster-Hauses stehen. Kornbrust hat das Brunnenumfeld in den 80er-Jahren zusammen mit einem seiner Schüler gestaltet. Schneider fordert die Vierer-Gruppe auf, zwei auf den ersten Blick unscheinbare Kunstwerke zu suchen. „Ich würde an ihrer Stelle auf den Boden schauen", sagt Schneider leicht amüsiert. Sogleich ruft die Begleiterin der Rollstuhlfahrerin –
sie hat ein schneckenförmiges Relief im Boden gesichtet. Das andere Kunstwerk ist da schon schwieriger zu finden: Es ist eine längere, ebenerdig verlaufene Rinne –
ein Geländer daneben soll verhindern, dass man darüber stolpert. „Einige öffentliche Kunstwerke in St. Wendel sind jüdischen Personen und jüdischem Leben gewidmet. Andere greifen aber auch die Belange von Menschen mit Behinderung auf", erzählt sie. Da subtropische Temperaturen herrschen, kürzt sie den Kunst-Spaziergang durch St. Wendel ab und meidet Stehpausen in der prallen Sonne.
Unscheinbare Kunstwerke
Knapp eineinhalb Stunden sind vergangen, als Schneider mit den Teilnehmern den St. Wendeler Stadtpark, die letzte Station der Führung, erreicht. Davor war sie mit den Führungsteilnehmern durch verwinkelte Gassen zur Basilika St. Wendelin gegangen und hatte am Fruchtmarkt die obeliskähnliche Pyramide des St. Wendeler Bildhauers gezeigt. „Das hier ist wirklich blöd, das ist mir noch gar nicht aufgefallen", sagt Schneider, als ihr eine unebene Stelle auffällt, die vor allem die zwei Rollstuhlfahrer unsanft durchrüttelt. Im Park sitzen zwei Männer auf einer Bank, halten Bierflaschen in der Hand und grüßen die Gästegruppe. Mitten auf dem Grün steht eine Steinskulptur von Kornbrust. Schneider findet, dass sie aussieht als wäre sie aus mehreren Steinen entstanden, aber tatsächlich sei sie aus einem Guss. „Es weiß kaum noch jemand, dass hier Kunstwerke stehen", sagt die Gästeführerin. Das letzte Kunstwerk, das Schneider ansteuert, ist der einst intakte Brunnen von Wilhelm Knapp, auf dem St. Wendels Stadtgeschichte auf Mosaiksteinen dargestellt ist.
Zurück auf dem Platz, wo die Führung gestartet ist, findet Jutta Schneider Zeit durchzuschnaufen. „Ich liebe es einfach, das Land und die Region zu präsentieren. Das macht mir Riesenspaß, gerade auch mit Menschen, die sich bei Gästeführungen ausgeschlossen fühlen", sagt sie. 2013 ließ sich die kaufmännische Angestellte zur Gästeführerin ausbilden. Zwei Jahre darauf erweiterte sie ihren Kundenstamm, indem sie Kontakt zum Netzwerk Hören knüpfte. Einmal monatlich führt sie Patienten der Bosenbergklinik – allesamt CI-Träger – durch Ottweiler. Neben ihrer Anstellung bei einer Versicherung kommt sie pro Jahr auf gut 40 Führungen, die sie als eigene Veranstalterin und im Auftrag der Tourist-Informationen Ottweiler, Nonnweiler, Neunkirchen und vom Wendelinushof organisiert. Dem Projekt Kulturschlüssel stellt sie regelmäßig ein Kartenkontingent für ihre Führungen zur Verfügung. Dazu leistet sie etwa 25 Dienste im Keltenpark in Otzenhausen. Zu tun hat sie es meist mit Gruppen aus dem Saarland und Rheinland-Pfalz.