Immer mehr Menschen studieren. Doch die Qualität der Studiengänge lässt oft zu wünschen übrig, sagt Dieter Dohmen, Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie. Seine Hauptkritik: „Die Unis bilden nicht für die heutige Berufswelt aus."
Herr Dohmen, derzeit studieren in Deutschland 2,9 Millionen Menschen. Sind das nicht zu viele?
In meinen Augen nicht. Die Wirtschaft verändert sich dramatisch. Wir brauchen überall höhere Qualifikationen. Drei Viertel der Jobs sind heute Dienstleistungen, ein großer Teil davon erfordert eine akademische Ausbildung. Wir werden in Zukunft noch mehr Studierende haben, auch weil mehr Menschen als früher ein zweites oder auch drittes Studium anschließen und immer mehr beruflich Qualifizierte später noch studieren.
Die Akademisierung wird also noch weitergehen?
Ich denke ja. Sie ist ein ganz großer Trend, weltweit und seit Jahrzehnten. Es gab in Deutschland lange einen Stillstand bei etwa 18 Prozent Akademikern in der Berufswelt. Seit etwa 2005 aber steigt dieser Anteil wieder stetig an. Zurzeit gehen 50 Prozent eines Jahrgangs an eine Hochschule, allerdings werden da auch ausländische oder ältere Studierende mitgezählt.
Das sind ja sogar mehr als Abitur machen!
Das scheint auf den ersten Blick so. Auf 100 junge Menschen, die das klassische Abitur haben, kommen derzeit noch mal etwa 50, die die Studienberechtigung über den beruflichen Bildungsweg, also duale Ausbildung, schulische Ausbildungen oder auch Oberstufenzentren, erworben haben. Man muss auch sehen, dass etwa ein Fünftel der Studienanfänger aus dem Ausland kommt. All dies führt dazu, dass wir so viele Studienanfänger haben, das wird gerne übersehen.
Hochschulen oder Professoren beklagen manchmal, dass Abiturienten heute nicht mehr automatisch fürs Studium geeignet sind.
Ja, das beklagen manche, und sicherlich gibt es einige Studienanfänger, die wirklich ungeeignet sind. Man muss aber auch die Frage stellen, ob sich die Hochschulen genug auf notwendige Veränderungen in den Schulen, und damit auch auf veränderte Voraussetzungen der Studienanfänger, einstellen. Das Studium ist heute nicht mehr das, was es früher war – nämlich die ausschließliche Vorbereitung auf die Wissenschaftskarriere. Neun von zehn Studierenden gehen in die Wirtschaft oder den öffentlichen Dienst. Auch verzahnen sich die Wege zwischen Beruf und Studium zunehmend. Das ist auch richtig so. Das klassische Studium nach dem Abitur strebt zwar immer noch die Mehrheit der Studierenden an, aber ihr Anteil und ihre Bedeutung sinken.
Es gibt eine riesige Vielfalt an Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten. Wie kann ein junger Mensch da durchblicken und verstehen, was er machen soll, wo er oft nicht mal weiß, was er will?
Das kann er fast nicht: Viele werden vom Elternhaus geprägt. Akademikerkinder gehen oft den klassischen Weg mit Abitur und dann fünf Jahre Studium bis zum Master am Stück. Wer diese klare Vorstellung nicht hat, für den ist es viel schwieriger. Es gibt über 10.000 Studienmöglichkeiten, 350 duale Ausbildungen und dann noch mal etliche Hundert schulische, zum Beispiel zum Erzieher oder Kranken- und Altenpfleger. Bei dieser Vielfalt kann man sich kaum sinnvoll informieren. Die BA, die Bundesagentur für Arbeit, kommt mit einer punktuellen Standardberatung an die Schulen, Jugendliche brauchen aber individuelle Beratung und Unterstützung. Auch die Schulen können die Beratung nicht leisten. Wir brauchen ganz neue Beratungsinstitutionen für die jungen Menschen, die das für sie Richtige suchen.
Aber ist das subjektive Interesse des Jugendlichen immer das Maß aller Dinge? Es hat ja doch keinen Sinn, wenn er etwas studiert, was nachher gar nicht gebraucht wird.
Es funktioniert nicht, sich an einem Bedarf der Wirtschaft zu orientieren. Die Bundeswehr macht mit ihren Bewerbern Tests und ordnet sie dann entsprechend nach Bedarf zu. Aber es funktioniert nicht. Was allein zählt, ist die eigene Überzeugung, das eigene Interesse, die Begeisterung für einen Beruf. Man kann niemanden in etwas hineindrängen, was ihn nicht interessiert. Und ob jemand im Beruf erfolgreich sein wird, entscheidet sich nicht im Vorhinein. Der Vater von Mario Götze hat einmal darauf hingewiesen, dass die Chancen seines Sohnes, Fußballprofi zu werden, bei eins zu – ich weiß nicht wieviel – Millionen lag …
Und wer ist schuld am krassen Lehrermangel?
Die Politik und die Kultusministerien, nicht nur, aber auch in Berlin, haben die demografische Entwicklung, die sich seit 2012 abzeichnete, komplett verschlafen. Es gab keine aktualisierte, vorausschauende Planung, als die Geburtenzahlen anstiegen. Sie denken in Regierungszeiten und Legislaturperioden. Die heutigen Kultusminister baden das aus, was ihre Vorgänger angerichtet haben. Das gilt vor allem für Grundschulen, Berufsschulen und Sekundarschulen. Hier haben die Schulverwaltungen versagt. Es lag nicht an zu wenigen Studienanfängern für diese Fächer. Die gab es immer genug. Es gibt aber zu wenig, die am Ende im Lehrerberuf ankommen. Gymnasiallehrer haben wir mehr als genug, es fehlen Grundschullehrer und Lehrer für die Klassen 6 bis 10.
Sind die Universitäten für das digitale Zeitalter gerüstet?
Es tut sich was, aber es geht eher langsam voran. Die meisten Universitäten pflegen noch immer die alten Zugangs- und Karrierewege. Bei Berufungen von Professoren zählt immer noch primär die akademische Reputation. Ob jemand eine gute Lehrkraft ist und Studierenden das Fach gut beibringen kann, spielt immer noch nicht die Hauptrolle. Viele Universitäten sind einfach nicht reformfreudig. Neue Lehrmethoden über Video-Tutorials werden noch kaum genutzt. In den USA ist das anders. Es gibt einige Pioniere, die agiles Lernen in Teams praktizieren. Hier wird wirklich gelernt und nicht nur unterrichtet. Das sind dann ganz andere Lernprozesse. Die Unis bilden noch immer zu wenig für das heutige Berufsleben aus. Sie müssen ihr Selbstverständnis völlig ändern, ohne wissenschaftliche Exzellenz zu vergessen.
Das machen die Fachhochschulen wohl besser, oder nicht?
Ja, allerdings stellt sich da oft die Frage: Kann ich mein Wunschfach da studieren? Wie weit komme ich dann? Im öffentlichen Dienst in Deutschland hat man mit einem Abschluss einer FH, oder wie es jetzt heißt, einer Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW), immer noch nicht die gleichen Chancen wie mit einem Uni-Abschluss. Obwohl die Arbeitgeber mit den FH-Absolventen viel zufriedener sind.
Bologna, die große europäische Hochschulreform, sollte das ja besser machen.
Ja, alte Trennungen sind überwunden, dafür sind neue entstanden: Nach dem Bachelor kommt man oft nicht weiter, der Weg zum höheren Dienst ist für Bachelorabsolventen immer noch versperrt. Ein Relikt aus alten Zeiten. Wer sich alle Wege offenhalten will, muss einen Master machen. Das System ist nicht wirklich flexibler geworden.
Was sollte sich ändern?
Die Hochschulen müssen flexibler werden, mehr modulare Studienwege anbieten. Auch müssen wir Abbrechern bessere Chancen bieten, weiter zu machen. Noch immer ist es so, dass einem Abbrecher, der den Abschluss noch machen will, formal gar nichts oder nur wenig angerechnet wird und er daher wieder ganz von vorne anfangen muss. Die Hochschulen müssen künftig viel mehr Studienangebote im Lego-Bausteinprinzip anbieten. Sicher ist, dass es in Zukunft weniger um Wissen, als um Kompetenzen geht. Zeugnisse sagen aber faktisch nichts über Kompetenzen aus. Für mich als Arbeitgeber werden Zeugnisse tatsächlich immer weniger bedeutsam; sie helfen vielleicht noch über die erste Hürde, danach interessieren sie mich nicht mehr.
Aber Kompetenzen sind sehr viel schwieriger festzustellen.
Ja, viel schwieriger, das kostet die Universitäten, aber auch die Arbeitgeber sehr viel mehr Aufwand. Aber es ist richtig. Auch die Betriebe brauchen hier Unterstützung. Wir müssen auch erworbene Kompetenzen durch früheres Lernen viel besser erkennen und berücksichtigen. Das ist eine große Aufgabe für die Hochschulen und andere Bildungsanbieter. Es erfordert einen grundlegenden Mentalitätswandel. Jeder Mensch kann Dinge, man muss dieses Potenzial nur erkennen und heben.