Ein Studium in zwei Ländern? In Frankfurt an der Oder geht das. Von der Viadrina zum Collegium Polonicum in Słubice, einer Einrichtung der Adam-Mickiewicz-Universität Posen, ist es nicht weit.
Ein frischer Wind weht auf der Stadtbrücke zwischen Frankfurt (Oder) und dem polnischen Słubice. Obwohl die Oder wenig Wasser führt, steigt doch immer etwas angenehme Frische vom Fluss herauf. Der rege Wechsel von einem Ufer zum andern ist für Frankfurter und Słubicer längst selbstverständlich. Sie kaufen ein, gehen zum Arzt, zum Frisör oder sie studieren, wie die 24-jährige Ukrainerin Veronika Dyminska. Mindestens zweimal am Tag läuft sie über die Oderbrücke. Denn die an der Viadrina eingeschriebene Studentin wohnt auf deutscher Seite, ihr Schreibtisch aber steht in Polen, im Collegium Polonicum. Dabei handelt es sich um eine gemeinsame Einrichtung der Viadrina und der Universität Poznań (AMU), der wichtigsten Partneruniversität der Europa-Universität Viadrina (EUV).
Beide Institutionen liegen nur gut einen Kilometer voneinander entfernt. Veronika kam vor zwei Jahren aus der Millionenstadt Kiew ins kleine Frankfurt, schrieb hier ihre Masterarbeit und ist nun Doktorandin am Lehrstuhl für Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas. Hier kann sie beide Uni-Bibliotheken auf deutscher und polnischer Seite nutzen. „Sehr praktisch", findet sie. „Ich könnte meine Doktorarbeit auch an jeder anderen Universität schreiben", meint sie, „aber hier erfährt man viel über Polen und die Anrainerstaaten, was ich so authentisch an anderen Unis nicht bekommen könnte."
Begeistert berichtet sie über ein Projekt, an dem sie im vorigen Jahr teilnehmen durfte. Dagmara Jajeśniak-Quast, Leiterin des Zentrums für interdisziplinäre Polenstudien (ZiP) an der Viadrina, hatte zu einer Exkursion an „die vergessene Grenze" zwischen Polen und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg eingeladen. Das Thema war ein Glücksfall für Veronika Dyminska, denn es flankierte ideal ihre Doktorarbeit über Emigrationsbewegungen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. „Das war ein Highlight!" schwärmt sie. Dagmara Jajeśniak-Quast übrigens ist Absolventin des ersten universitären Jahrgangs an der 1992 wiedergegründeten Viadrina. Sie hat Betriebswirtschaftslehre studiert, promoviert, später in Siegen habilitiert; heute forscht und lehrt sie wieder in Frankfurt (Oder).
Grenznähe als Standortvorteil
„Viele unserer Forschungsthemen liegen quasi auf der Straße, vor unserer Haustür", meint Dagmara Jajeśniak-Quast. „Es ist sehr spannend, als Wissenschaftlerin mit deutsch-polnischem Background hier zu leben. Andere haben es da nicht so einfach." So seien schon mexikanische Kollegen am ZiP gewesen. Sie forschten in ihrem Heimatland über Entwicklungen an der mexikanisch/US-amerikanischen Grenze und waren extra nach Brandenburg gekommen, um von den deutschen Wissenschaftlern zu lernen.
Nach ihrem Empfinden ist es ein großer Schatz der Viadrina, den kaum eine andere Uni in Europa hat, dass nämlich Studierende und Lehrende ohne Probleme gleichzeitig in zwei Ländern agieren sowie arbeiten und forschen können. „Wir denken darüber gar nicht mehr nach", stellt Dagmara Jajeśniak-Quast immer wieder fest. „Manchmal ertappen wir uns, wenn wir Vorlesung halten, dass wir nicht mehr wissen, auf welcher Seite wir gerade sind", sagt sie lächelnd.
Was so harmonisch klingt am Zusammenleben an der deutsch-polnischen Grenze, geht allerdings auf einen langen Prozess mit vielen Höhen und Tiefen zurück. Davon kann Krzysztof Wojciechowski, promovierter Philosoph und als Verwaltungsdirektor Hausherr im Collegium Polonicum, ein Lied singen. Er ist einer der Gründungsväter der Viadrina und war von Anfang an ein überzeugter Befürworter der Idee eines grenzüberschreitenden Wissenschaftsbetriebs. Engagiert baute er interdisziplinäre Studiengänge mit auf und setzte sich unter anderem für den Doppelmaster in deutschem und polnischem Recht ein. Vor einigen Jahren waren noch rund 1.800 Studierende am Collegium Polonicum eingeschrieben. Heute sind es gut 400. Nur einer von vielen Gründen für den signifikanten Rückgang ist eine polnische Hochschulreform, die sich gegen den Wildwuchs von Universitäts-„Filialen" im Land richtete. Da nutzte es Wojciechowski wenig, dass er auf enge Verflechtungen mit der Viadrina verweisen konnte. Alle Studiengänge mit rein polnischen Abschlüssen wurden geschlossen. Doch der überzeugte Europäer und notorische Optimist Wojciechowski klopfte die scheinbar aussichtslose Lage nach ihren Chancen ab. „Wir haben gemerkt, dass Ukrainer und Weißrussen an unseren Angeboten mehr Interesse haben als die Deutschen", meint er. „Für sie ist die Grenznähe ein erster Schritt nach Westeuropa. Das Sprachproblem ist einfacher zu lösen. Die Nähe zu Deutschland macht das Ganze noch attraktiver."
Angestammte Lehrangebote am Collegium Polonicum werden nun neu konzipiert, darunter der Studiengang Polish Studies. Er ist auf die osteuropäische Klientel zugeschnitten. Außerdem besteht die Möglichkeit, ihn mit dem Masterprogramm European Studies an der Viadrina zu verknüpfen. Bereits in trockenen Tüchern ist ein praxisorientiertes Studium der Logistik. Am meisten wird sich jedoch durch das gemeinsame Zukunftsprojekt von Europa-Universität Viadrina und Adam-Mickiewicz-Universität Poznań verändern. Die European New School of Digital Studies ENS soll ihren Sitz im Wesentlichen auf polnischer Seite im Collegium haben.Mit diesem Gesamtpaket hofft Krzysztof Wojciechowski, für die Zukunft gerüstet zu sein und die Studierendenzahl wieder auf 1.000 anheben zu können.