Ein Deutscher gründete 1901 in Ostpreußen die erste Vogelwarte der Welt, heute markieren russische Forscher dort jährlich Hunderttausende Vögel. Eine wichtige Einnahmequelle für die Wissenschaftler ist der Tourismus.
Die ersten Vögel müssten schon in die Falle geflogen sein. Um 8 Uhr morgens macht sich Professor Leonid Sokolov, 69 Jahre, eisklare Augen, auf den Weg durch den Kiefernwald. Das Gezwitscher wird lauter. Bald mündet der Trampelpfad in die Dünenlandschaft, in der eine gigantische Konstruktion aus Fischernetzen steht: 15 Meter hoch und 35 Meter breit am Eingang, insgesamt 70 Meter lang. Sokolov läuft hinein. Die Falle wird enger und führt ihn in einen mannshohen Käfig, in dem rund zwei Dutzend Vögel flattern. „Das sind Buchfinken und Rotkehlchen", sagt er. „Sie legen nachts bis zu 400 Kilometer zurück." Mit kreisenden Bewegungen pflückt er sie von den Käfigwänden, einen nach dem anderen, und steckt sie behutsam in seine Netzkiste.
Im Herbst ziehen die Vögel in den Süden, im Frühling vom Winterquartier zurück in ihre Brutheimat auf dem Baltikum. Die Falle auf der Kurischen Nehrung, einer Halbinsel an der Ostsee südlich von Litauen, liegt auf ihrem Weg. Hier ruhen sie sich aus, suchen nach Insekten und fressen sich Fett für den Weiterflug an. Im Jahr 1903, als das Gebiet zu Ostpreußen gehörte, gründete der deutsche Ornithologe Johannes Thienemann im Küstendorf Rossitten die erste Vogelwarte der Welt. Seit dem Zweiten Weltkrieg kreuzen die Zugvögel hier russisches Territorium. Aus Rossitten wurde Rybachy. Russische Wissenschaftler eröffneten 1957 eine neue Vogelwarte und nahmen die Arbeit ihrer deutschen Kollegen wieder auf.
Drei Millionen Vögel wurden schon beringt
Professor Leonid Sokolov hat heute Schicht in der Feldstation Fringilla, lateinisch für Buchfink. Er trägt die eingefangenen Vögel in ein Holzhäuschen. Seit 43 Jahren kommt er zur Zugsaison aus Sankt Petersburg nach Rybachy, immer von April bis November. Er zieht den ersten Buchfink aus seiner Kiste und biegt einen kleinen, nummerierten Aluminiumring um das Vogelbein. „Wir haben in den vergangenen 60 Jahren rund drei Millionen Vögel beringt", sagt Sokolov. „Manchmal waren es 9.000 am Tag." Seine Hände arbeiten flink. Er steckt den Buchfinken kurz kopfüber in ein Röhrchen auf einer Digitalwaage, notiert Gewicht, Ringnummer, Geschlecht und ob es sich um einen Jungvogel handelt. Er pustet die Bauchfedern zur Seite und prüft die gelbliche Fettreserve am Hals. Ein Gramm gibt Energie für 200 bis 300 Kilometer Flug ohne Pause. Sokolov entlässt den Vogel durch das offene Fenster.
Mit der Beringung experimentierte der deutsche Gründer der Vogelwarte bereits vor 115 Jahren. Weil man mit der Vogelforschung damals kein Geld verdienen konnte, hatte Johannes Thienemann in Magdeburg Theologie studiert. Sein Forscherdrang zog ihn auf die Kurische Nehrung. Die Artenvielfalt begeisterte ihn, doch beschrieb er in seinen Aufzeichnungen auch Unzufriedenheit angesichts ziehender Vogelschwärme: „Denn unwillkürlich drängt sich die Frage auf unsere Lippen: Woher kommt ihr? Wohin geht ihr? Sobald die Vögel unseren Blicken entschwunden sind, hört die Forschung auf." Die nummerierten Ringe sollten das ändern.
Thienemanns Idee: Jedes Mal, wenn ein Vogel mit Ring irgendwo auf der Welt gefunden und den Wissenschaftlern gemeldet werden würde, wüsste man etwas mehr über die Flugrouten seiner Art. Heute sind diese bereits gut dokumentiert, vor allem innerhalb Europas. Dennoch ist die alte Methode aufschlussreich: Die Ornithologen erfahren, wie sich Vogelpopulationen verändern, wie alt bestimmte Arten in freier Wildbahn werden oder welchen Einfluss der Klimawandel auf Anzahl und Flugverhalten hat. Natürlich wird bei Weitem nicht jeder Vogel wiederentdeckt, von drei Millionen beringten waren es bisher gerade 12.000.
Leonid Sokolov checkt die Falle jede Stunde. 200 Arten haben die Forscher um Rybachy registriert und beringt. Im Laufe eines Frühlingstages kommen Kohlmeisen, Mönchsgrasmücken, Wintergoldhähnchen – und jede Menge Touristen. Pro Jahr besuchen 20.000 bis 30.000 Menschen die Feldstation, vor allem Russen. „Für sie ziehe ich jetzt meine Uniform an", sagt Professor Sokolov, als der erste Bus vorfährt. Er meint die Kette mit dem Waldeulen-Anhänger und seinen Anglerhut mit der Feder des seltenen Seeadlers. Für den Ausflug auf die Kurische Nehrung ist die nahende Schülergruppe über 5.000 Kilometer aus dem sibirischen Irkutsk angereist. Sokolov präsentiert ihnen die Quietschemaus, mit der die Forscher Eulen anlocken, und erklärt das Zwitschern des männlichen Buchfinken mit Parallelen zu einem russischen Rockstar: „Er signalisiert damit, dass er jetzt eine tolle Wohnung hat. Je schöner er singt, desto mehr Weibchen wollen sich mit ihm paaren."
Auch wenn sich die Fragen der Wissenschaft verändert haben: Der Vogelzug fasziniert Experten und Laien heute ebenso wie zu Zeiten Johannes Thienemanns. Immerhin migriert der Kuckuck aus Kamtschatka im Osten Russlands jährlich rund 35.000 Kilometer, einmal nach Südafrika und zurück. Die Mönchsgrasmücke fliegt drei Tage und Nächte nonstop über das Mittelmeer oder durch die Sahara und legt dafür zuvor 100 Prozent ihres Körpergewichts in Fett zu. Vor allem die zielsichere Navigation der Vögel gibt noch immer Rätsel auf. Manche Vögel landen Tausende Kilometer entfernt von ihrer Heimat auf demselben Baum wie im Winter zuvor.
Die Touristen haben das Budget erhöht
Im Hauptgebäude der Vogelwarte versucht Direktor Nikita Chernetsov (46), dem Mysterium der Navigation auf den Grund zu gehen. Dabei helfen ihm und seiner Forschungsgruppe die Rotkehlchen im ersten Stock, die in ihren Käfigen auf alten sowjetischen Wetterkarten hocken und in einem Salat aus Eiern, Karotten, Käse und Würmern picken. „Es herrscht mittlerweile Konsens darüber, dass Zugvögel einem inneren Kompass sowie einer inneren Karte folgen", sagt Chernetsov. „Sie orientieren sich also mittels zweier getrennter Prozesse." Die Richtung finden Vögel anhand von Sonne, Sternen und Magnetfeldern. Den Raum erfassen sie wahrscheinlich ebenfalls über Magnetfelder sowie durch eine olfaktorische Karte, also ihren Geruchssinn. „Offen ist zum Beispiel noch die Frage, wie Vögel Magnetfelder überhaupt sensorisch wahrnehmen können." Vielleicht wird die Antwort darauf eines Tages in Rybachy gefunden.
Die Besuchermassen in der Außenstation Fringilla sind für die Vogelwarte und die weitere Forschung überlebenswichtig – auch wenn bis zu 800 Touristen an sonnigen Tagen schon mal die wissenschaftliche Arbeit verlangsamen. Direktor Chernetsov verdankt ihnen etwa 20 Prozent seines Budgets. „Die meisten sind nicht mal besonders interessiert an Vögeln, sondern kommen zum Badeurlaub her", sagt er. „Das hat sich erst in den letzten 15 Jahren so entwickelt." Die plötzliche Beliebtheit der Kurischen Nehrung scheint ihn immer noch etwas zu wundern. Doch zumindest für dieses Phänomen hat der Direktor schon eine schlüssige Erklärung: Der fallende Rubelkurs habe Urlaub in der EU für viele Russen unerschwinglich gemacht. „Die Gegend hier gilt für manche als das kleine Westeuropa innerhalb Russlands." Dann schmunzelt er. „Ich halte das für nicht ganz zutreffend." Aber zum Glück, sagt der Direktor, sei seine Meinung in dieser Frage nicht relevant. Die Zukunft der Vogelforschung in Rybachy ist jedenfalls erst einmal gesichert.