Dr. Andreas Lengeling ist Beauftragter für Tierversuche in der Grundlagenforschung der Max-Planck-Gesellschaft und verweist auf die Erfolge der Wissenschaft durch Tierversuche.
Ärzte, Tierschützer, Wissenschaftler – sie alle kritisieren Tierversuche, zumindest einige unter ihnen. Dabei gibt es einige Beispiele dafür, dass Tierversuche zu Durchbrüchen in der medizinischen Forschung geführt haben. Andreas Lengeling von der Max-Planck-Gesellschaft fallen spontan drei Beispiele ein: „Einer meiner Favoriten ist die Entdeckung monoklonaler Antikörper durch Mausexperimente", sagt er. Dafür haben George Köhler und Cesar Milstein 1984 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin bekommen. Monoklonale Antikörper sind eine wichtige Grundlage neuer Diagnoseverfahren und Therapien – etwa in der Krebsfrüherkennung durch Nachweis von Tumormarkern oder als Reagenzien in der Serumdiagnostik wichtiger Infektionserkrankungen aller Art. „Ein konkretes Beispiel für eine Therapie mit monoklonalen Antikörpern ist ‚Trastuzumab‘, ein Mittel, das erfolgreich als Therapeutikum bei bestimmten Formen des Brustkrebses eingesetzt werden kann", sagt Lengeling.
„Fundamentale Errungenschaft der Immunologie"
Ein weiteres Beispiel für erfolgreiche Tierversuche ist die Funktionsaufklärung der Toll-like-Rezeptoren durch Bruce Beutler und Jules Hoffmann, die im Jahr 2011 für diese Forschung den Nobelpreis bekamen. Durch die Entdeckung der beiden Forscher in Versuchen mit Fliegen und Mäusen lässt sich erklären, wie in den Körper eingedrungene Mikroorganismen erkannt und zerstört werden und wie die Abwehr von Viren unterstützt wird. „Mittlerweile hat man auch entdeckt, das Toll-like-Rezeptoren bei der Entstehung von Autoimmunerkrankungen und Allergien eine wichtige Rolle spielen. Die Entdeckung dieser Rezeptoren durch Tierversuche ist eine der ganz fundamentalen Errungenschaften der Immunologie", sagt Lengeling. Als letztes Beispiel nennt er den amerikanischen Wissenschaftler George Snell (Nobelpreis für Physiologie und Medizin, 1980). Er entdeckte den sogenannten MHC-Komplex in Mäusen. Dieser Genkomplex kodiert bei Wirbeltieren, einschließlich des Menschen, Oberflächenproteine die für Gewebeverträglichkeit und Immunerkennung verantwortlich sind. Sie dienen der immunologischen Identifikation körpereigener Zellen und körperfremder Proteine. MHC-Proteine sind sehr wichtig für die Transplantationsmedizin. „Sie spielen eine so essenzielle Rolle für die Gewebeverträglichkeit, dass ohne ihre Entdeckung und Verständnis ihrer Funktion kein einziges Organ erfolgreich von einem Spender in einen Patienten transplantiert werden könnte", erklärt Andreas Lengeling, für den damit klar ist, dass Tierversuche eine wichtige Rolle in der Medizinforschung einnehmen. „Tierversuche ermöglichen uns, zu verstehen wie Organismen, komplizierte Organsysteme und ganze Populationen funktionieren und mit ihrer Umwelt interagieren", sagt er. „Sie bilden also häufig die Grundlage dafür, elementare Fragen zu beantworten, die das Leben an sich betreffen: Wie sind verschiedene Lebensformen organisiert? Wie können die komplexen Leistungen erbracht werden, die wir bei Tier und Mensch beobachten können? Wie entsteht Leben? Was beeinflusst Alterungsprozesse? Was läuft schief, wenn es zur Entwicklung von Erkrankungen kommt?"
Tierversuche bieten also Antworten auf Fragen über die Funktionsweise des menschlichen Körpers und bilden damit die Grundlage für die Entwicklung von Therapien für humane Erkrankungen. Sie hätten aber noch einen weiteren Vorteil, gibt Lengeling zu bedenken. „Wir brauchen Tierversuche etwa auch, um Tieren zu helfen und den Tierschutz zu gewährleisten, wenn wir Tierärzte an lebenden Tieren ausbilden oder Medikamente entwickeln, mit denen erkrankte Tiere behandelt werden können." Tierschutzorganisationen würden das oft vergessen, wenn sie Tierversuche pauschal ablehnten. Dass die moderne Verhaltensforschung Tieren Intelligenz, Gefühls- und Leidensfähigkeit bescheinigt und Tierärzte deshalb behaupten, Tiere empfänden bei Versuchen Angst, ist dem Lager der Befürworter bewusst. „Jede verantwortungsvolle Forscherin oder jeder verantwortungsvoller Forscher muss das berücksichtigen", findet auch er. „Das funktioniert nur, wenn man ein tiefes Wissen über die Tierart hat, die man in seinen Versuchen einsetzt, damit unnötiges Tierleid verhindert werden kann."
„Tierversuche ermöglichen uns, zu verstehen"
Daraus folge die erste moralische Forscherpflicht: „Wissen schützt Tiere". Zudem müsse man sorgfältig ethisch abwägen, ob ein Tierversuch nötig ist – ein oft sehr anspruchsvoller und schwieriger Prozess. Ein möglicher Erkenntnisgewinn steht dabei dem Tierleid gegenüber. Allerdings ist nicht vorhersehbar, ob ein Experiment tatsächlich erfolgreich verläuft. „Das über den Versuch induzierte Tierleid kann man dagegen in den meisten Fällen relativ exakt voraussagen", sagt Lengeling. Eine ethische Verpflichtung sieht er gegenüber Menschen und Tieren. Wie man sie konkret im Einzelfall bewerte, hänge von den individuellen ethischen Grundsatzpositionen und der Moralvorstellung ab.
Dass Tierversuchsgegner pauschal die Sinnhaftigkeit von Tierversuchen ablehnen, ärgert Andreas Lengeling. „Ich habe ein Problem damit, dass sie mit Zahlen operieren, die die Relevanz von Tierversuchen oder deren Übertragbarkeit mit unter einem Prozent beziffern. Da stellt sich die Frage: Auf welcher Basis wurden solche Zahlen ermittelt? Hier muss man auch Transparenz und Ehrlichkeit von den Tierversuchsgegnern einfordern." Denn wenn die Relevanz der Übertragbarkeit von Tierversuchen für den Menschen unter einem Prozent liegen würde, gäbe es dem Wissenschaftler zufolge keine moderne Medizin. „Wir würden nur in Ausnahmefällen das 35. Lebensjahr erreichen und hätten Kindersterblichkeitsraten zwischen 25 und 35 Prozent", ist er sicher. Auch Impfstoffe und Mittel wie Antibiotika gäbe es ebensowenig wie Mittel, um tödliche Infektionserkrankungen wie Kinderlähmung, Tetanus, Tollwut, Pocken und jüngst Ebola zu bekämpfen. „Außerdem gäbe es keine Therapien gegen Aids und Krebs, keine Behandlung gegen Schlaganfälle und Herzinfarkte, keine Transplantationsmedizin, kein Insulin, keine schmerzfreien Operationen", zählt Lengeling auf. Zugleich lasse sich aber nicht leugnen oder herunterspielen, dass es in einigen Bereichen der tierexperimentellen Forschung Probleme mit der Übertragbarkeit von Ergebnissen aus Tierversuchen auf den Menschen gegeben hat oder noch immer gibt. Hier sollte man im Einzelfall überprüfen, wo genau die Probleme bei der Übertragbarkeit liegen. Seit den 60er-Jahren sind etwa 2.000 verschiedene Medikamente für den Menschen zugelassen worden. Etwa 40 davon sind wieder vom Markt verschwunden, im Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten, Deutschland und Frankreich, weil sie gravierende Nebenwirkungen hatten.
Die Kritik, dass vor allem Kostengründe für Tierversuche sprechen, weist Andreas Lengeling von sich. „Ich würde sagen, es ist eher das Gegenteil der Fall", sagt er. „Kostengründe sprechen gegen Tierexperimente, weil diese, wenn man mit Wirbeltieren arbeitet, immer teuer sind. Das fängt mit einer sehr aufwendigen Infrastruktur für Tierhäuser und Tierlabore an und setzt sich fort bei den Kosten für gut ausgebildetes Personal." In den Tierhäusern arbeiten Fachwissenschaftler, Tierärzte, Tierpfleger und weiteres technisches Personal, das man für die Betreuung und Versorgung der Tiere benötigt. „In der Regel verhält es sich sogar so, dass die meisten Wissenschaftler versuchen, ihre Fragestellungen zunächst mithilfe von aufwendigen Zellkulturmethoden zu beantworten, bevor sie für den sogenannten In-vivo-Versuch ins Tier gehen", erklärt der Wissenschaftler. Man testet eine neue Hypothese also erst einmal an geeigneten Zellen im Zellkulturlabor, bevor man aufwendige Tierversuche plant und bei den zuständigen Behörden einen Tierversuchsantrag stellt. „Wenn man es schafft, ohne Tierversuche auszukommen, ist dies immer die kostengünstigere Alternative."
„Wir werden weiterhin auf Tierversuche angewiesen sein"
Auch die Befürworter sind also bestrebt, Möglichkeiten zu finden, um nicht mehr an Tieren forschen zu müssen. Doch wird die Forschung aus Sicht der Wissenschaftler irgendwann ohne Tierversuche auskommen? „Wir werden die Anzahl von Tierversuchen reduzieren können, aber ich halte es für unrealistisch, dass wir irgendwann komplett auf Tierversuche verzichten können", sagt Lengeling. „Es wird möglich sein, durch synthetische Biologie und moderne Zellkulturtechniken Tierversuche in einigen Bereichen der Biomedizin ganz zu ersetzen." Das geschieht schon in vielen Bereichen der Toxikologie und der personalisierten Medizin, die sich gerade entwickeln. „Trotzdem muss man ehrlich sein und darauf hinweisen, dass dort, wo wir auf das Verständnis der komplexen Wechselwirkungen verschiedener Organsysteme oder organübergreifender Systeme wie dem Immunsystem, dem zentralen Nervensystem oder dem endokrinen System, das Botenstoffe und Hormone produziert, die im ganzen Körper auf viele verschiedene Zellen wirken, angewiesen sind, nicht auf Tierversuche verzichten können." Man müsse der Tatsache ins Auge sehen, dass wir noch sehr viel lernen müssen, wie solche lebenden und komplexen Systeme wirklich funktionieren. „Um dies leisten zu können, werden wir weiterhin auf Tierversuche angewiesen sein", sagt Lengeling.