Für den Winter haben Designer den Herrenschal zum herausragenden Accessoire der Saison erkoren. Und zwar im XXL-Format, meist aus dicker Wolle gearbeitet und asymmetrisch von einer Schulter bis zum Boden baumelnd.
Eigentlich ist es ziemlich überraschend, dass die Menswear-Designer nach den Handtaschen, die im Sommer erstmals in verschiedenen Kollektionen aufgetaucht waren und für den nahenden Winter zu einem neuen maskulinen Must-have erklärt wurden, plötzlich auch die Schals zu einem unabdingbaren Accessoire der Herrenmode machen möchten. Über die Gründe dafür lässt sich wild spekulieren. Vermutlich geht es einfach nur ums liebe Geld, weil der Umsatz mit Männerschals weltweit bislang relativ bescheiden ausgefallen sein dürfte und die Designer daher wahrscheinlich eine vermeintlich überaus lukrative Marktlücke für sich entdeckt haben mögen.
Nur dürfte es für die Designer eine ziemlich diffizile Angelegenheit werden, der breiten Männerwelt den Schal ganz prinzipiell als Mode-Accessoire schmackhaft zu machen. Diesbezügliche Versuche in der Vergangenheit hatten nur wenig Erfolg. Das liegt wohl daran, dass die Mehrheit der Herren allenfalls einen Schal umlegt wenn sie sich krank fühlt oder wenn sie damit die Anhängerschaft zu einem Sportverein, hierzulande vor allem zu einem Fußball- oder Eishockey-Club, dokumentieren möchte. Abseits des rein Funktionalen hat sich der Schal in der Herrenmode eigentlich bislang nur bei der kleinen Gruppe der stil- und modebewussten Männer vom Typ des modernen Dandys durchgesetzt. Schon allein das richtige Binden und Knoten des Schals stellt die meisten Männer vor eine Herausforderung. Während Frauen mit ihrem Lieblingsteil rund um den Hals machen können, was sie wollen, sehen die meisten Herren nach Schal-Feldversuchen einfach nur schief gewickelt aus.
Vielfalt an Material, Farbe und Printmustern
Zur Lösung dieses rein praktischen Problems sind daher Herrenmode-Labels wie Valentino, Dunhill, Loewe, E. Tautz, Bobby Abley oder Etro auf die ebenso schlichte wie geniale Idee gekommen, ihre Schals in XXL-Länge und Überbreite zu gestalten und diese Unmenge an Stoff, sämtliche gängigen Bindetechniken schnöde außer Kraft setzend, ganz lässig ein- oder zweimal um den Hals zu schlingen und den Schal asymmetrisch von einer Schulterseite bis fast auf den Boden herabhängen zu lassen. Im Englischen wird diese Tragweise als One-Side-Swoosh bezeichnet. Dies ist ein kinderleichtes Prozedere, das wirklich jeder Mann beherrschen dürfte. Einzige erkennbare Unterschiede: Mal hängt der Schal von der linken, mal von der rechten Schulter herab, mal ist das Schalende glatt gehalten, ein andermal fransig gestaltet (wie bei Acne Studios oder Dries Van Noten). Und natürlich gibt es bezüglich Material, Farbe und Printmustern jede Menge Alternativen. Dicke Strickteile, wie von Großmuttern in Heimarbeit gearbeitet, haben deutlich die Nase vorn. Einzig Dior tanzt in Sachen Schal-Gestaltung aus der Reihe, weil der neue Chefdesigner Kim Jones künstlerisch-hochwertige Teile entworfen hat, die an der Unterseite des Kragens mit Knöpfen befestigt und hauteng um Hals und Körper getragen werden.
Wer in den Medien erstmals auf die Idee gekommen ist, die XXL-Schals „Harry Potter Scarves" zu taufen, lässt sich nicht ermitteln. Fest steht aber, dass die neuen Statement-Schals kaum Ähnlichkeit mit dem besagten Gryffindor-Hogwarts-Wollschal haben. Viel naheliegender wäre es gewesen, die neuen Accessoires einfach „Lenny Kravitz Scarves" zu nennen. Schließlich ist der US-amerikanische Musiker jahrelang im Web veräppelt worden, nachdem er sich im Jahr 2012 einen ultralangen Schal zugelegt hatte. Es wäre so etwas wie eine späte Genugtuung für die Rock-Legende gewesen, denn was einst mitleidig belächelt wurde, hat sich nun zu einem Fashion-Trend gemausert.
Die Geschichte des Schals, wie wir ihn heute kennen, ist übrigens noch gar nicht so alt, wie man meinen könnte. Das Wort selbst wurde vom indo-persischen Begriff „Shal" abgeleitet und verweist damit schon in etwa auf das Gebiet, aus dem das Kleidungsstück ursprünglich stammt. Zwar nicht aus Indien oder Persien, sondern aus der Himalaya-Region Kaschmir. Dort war die Schalherstellung im 16. und 17. Jahrhundert regelrecht explodiert, weil die Produkte in der indischen Nobelklasse sehr begehrt waren. Über die indische Kolonialmacht Großbritannien gelangten die großen, quadratischen oder rechteckigen Kaschmirtücher aus Seide oder Wolle Ende des 18. Jahrhunderts auch nach Europa. Zunächst erfreuten sie sich vornehmlich bei der Damenwelt großer Beliebtheit, nicht zuletzt weil Anfang des 19. Jahrhunderts in Frankreich und England eine eigene Schalindustrie aufgebaut werden konnte. Im Bürgerlichen Zeitalter und spätestens mit Beginn der Industriellen Revolution wurden Schals auch in der Herrenwelt salonfähig, sie mutierten zum Schlips des malochenden Mannes, nachdem die Tüchlein als Accessoire des distinguierten Dandys kurze Zeit zuvor noch viel verspottet worden waren. Allerdings waren die neuen Schals nun aus Leinen oder Baumwolle gefertigt und konnten daher nicht nur den Schweiß der Fabrikarbeiter aufsaugen, sondern fanden sich auch rund um die Hälse von Cowboys oder Matrosen.
Ein praktisches Accessoire bei Flugreisen
Noch in den Goldenen Zwanziger Jahren war der Arbeiter an seinem Schal zu erkennen, während die gehobene Schicht bunte Krawatten trug. Während der beiden Weltkriege wurden Männerschals vor allem durch die Flieger populär, die das Stück Stoff als Kälteschutz umlegten. In den 70er-Jahren wurde der Palästinenserschal in Kombination mit Parka und langen Haaren ein Kennzeichen der aufbegehrenden männlichen Jugendbewegung. Mit Mode hatte das wenig gemein. Der Männerschal war danach auf dem Rückzug – mit Ausnahme der oben schon genannten Reservate Fankultur und Genesungshilfsmittel. Es gab immer wieder Versuche, ihn als maskulines Fashion-Accessoire zu etablieren. Schon 2010 waren auf den Laufstegen XXL-Exemplare in Wolldecken-Format zu sehen gewesen. 2014 und 2015 hatten es die Designer nochmals mit großen Schals samt Paisley- oder Karoprints sowie Blockstreifen und Patchworkmustern versucht. In der großstädtischen Streetwear tauchten in den folgenden Jahren riesige Schals auf, im Format irgendwo zwischen Plaid und Tischdecke. Von dieser Warte aus betrachtet könnte der aktuelle Statement-Schal-Trend als logische Fortsetzung eines aufstrebenden Straßenlooks auf der Fashion-Bühne angesehen werden. Auch in der kommenden Sommersaison 2020 werden Schals als Männer-Accessoire eine hervorgehobene Rolle spielen, wobei auch kürzere Exemplare ihren Weg in die Handelsregale finden werden.
Nicht ganz einleuchtend ist der schon seit Ewigkeiten in den Medien immer wiederholte Sermon, dass ausgerechnet der Mann mit der Auswahl seines Schals etwas über seinen Charakter oder sein Ego offenbaren möchte. Ist das etwa bei den Frauen nicht genauso? Stimmt es wirklich, das der „Schal ein Spiegel der Männerseele" sein soll, wie es die „Welt" vor einigen Jahren mal behauptet hatte? Oder um eine weitere Formulierung der „Welt" zu zitieren: „Männer ticken so, wie sie ihren Schal tragen?" Ins gleiche Horn stieß etwa zeitgleich auch der „Tagesspiegel": „Für Männer war die Art, ihn zu tragen, früher schon Zeichen ihres Selbstbildes und ihrer Ego-Projektionen." Da gefällt es uns schon besser, dass die „Zeit" den Riesenschal gewissermaßen als schützenden „Airbag" gegen alle unerwarteten Fährnisse des Lebens charakterisiert hatte, der auch bestens als Nackenstütze auf Reisen dienen kann.