Nach dem Russland-Grand-Prix in Sotschi gastiert der Wanderzirkus Formel 1 nur zwei Wochen später in Suzuka. FORUM blickt hinter die Kulissen des logistischen Meisterwerks mit seinen Herausforderungen, wenn 750 Tonnen Fracht vom Schwarzen Meer ins 8.000 Kilometer entfernte Japan geflogen werden.
Der Grand-Prix-Sport ist ein geldhungriges, nimmersattes Raubtier. Deshalb beschränken sich seine 21 Auftritte im leitplanken- und glitterumzäunten Käfig auch nicht nur auf neun Vorstellungen in Europa. Gleich auf vier Kontinenten führt die Zirkusdirektion Liberty Media, seit 2017 Formel-1-Eigentümer, ihre Dressur mit weiteren zwölf Veranstaltungen vor. Im Ferrari-Mekka Monza hat sich die Formel 1 am 8. September von der europäischen Bühne verabschiedet. Auf ging’s nach Asien. Im Stadtstaat Singapur wurde der Endspurt eingeleitet. Nur sieben Tage später drehten die Vierrad-Artisten ihre Runden in Sotschi. Zwei aufeinanderfolgende Rennwochenenden werden in der Fachsprache als „Back-to-Back-Rennen" bezeichnet. In dieser Saison sind es vier „Woche-zu-Woche-Rennen". Nach dem Deutschland-GP setzte sich der rasende Wanderzirkus gleich nach Budapest zum Großen Preis von Ungarn in Bewegung. Nach der Sommerpause ging’s dann von Spa in Belgien auf direktem Weg in die Motorsport-Kathedrale Monza nach Italien. Zwei Wochen später stand der Doppelpack Singapur und Russland auf dem Programm. An diesem Wochenende gastiert der Rennzirkus in Suzuka. Mehr als 750 Tonnen Fracht in sieben Jumbos mussten die zehn Teams von Sotschi am Schwarzen Meer auf die 8.000 Kilometer lange Flugreise ins Land der aufgehenden Sonne schicken. 72 Stunden später trifft die Fracht in Suzuka ein. Das Dorf im Fahrerlager wird aufgebaut.
Wird die große „Nummer" in Übersee gemacht, geht die Formel 1 in die Luft. Dann gibt’s jeweils vor und nach dem eigentlichen Rennen ein eigenes Rennen. Es ist dann ein Rennen gegen die Uhr – für Teammanager, Logistiker und Lademeister, die wahre Verpackungskünstler sind. Ein Formel-1-Trip ans andere Ende der Welt nach Australien, Japan oder aber auch über den großen Teich nach Südamerika ist immer wieder eine neue Herausforderung, immer wieder ein Abenteuer – trotz sorgfältigster Planung. Das erste Rennen ist gewonnen, wenn die Autos am Freitagmorgen für das erste Training auf vier Rädern stehen und die Ampel am Ende der Boxengasse zur Ausfahrt auf Grün springt. Wie aber bewältigen die Teams einen solchen Überflug oder eine Seereise?
Überseerennen sind ein echter Härtetest für Logistiker. Sie sind nicht zu beneiden. Damit Mensch und Material pünktlich im Fahrerlager eintreffen, bedarf es einer perfekten Planungsstrategie und einer ausgeklügelten Logistik. Verantwortlich dafür sind die Logistik-Chefs. Sie sind wahre Spezialisten. Einer von ihnen ist Beat Zehnder vom Schweizer Sauber-Team, das seit Saisonbeginn unter dem Namen des Hauptsponsors Alfa Romeo am Start ist. Zehnder ist dienstältester Teammanager. Mit der Erfahrung von 25 Jahren dirigiert der Schweizer seit 1994 Personal und Equipment an Ort und Stelle. Er ist ein Dirigent ohne Taktstock. Mit Verständnis, wo es angebracht und leistungsfördernd ist; mit Härte, wo es die Sache erfordert; mit Gelassenheit, wo sie mehr bringt als purer Aktionismus; mit Talent und Überlegung, wo manch anderer nicht weiterkommt.
„So viel wie möglich, aber so wenig wie nötig mitnehmen"
Der Dirigent Zehnder bucht Flüge und Hotels, berücksichtigt dabei immer die Kosten von Stornierungen, organisiert Flughafentransfers, reserviert Miet- und Lieferwagen, kümmert sich bei den Übersee-Rennen um die Buchung der Pavillons im Fahrerlager (in Europa sind das die Motorhomes der Teams), sorgt für Telefonanschlüsse, erledigt Zollformalitäten. Der wahnsinnige Papierkram, der für den Übersee-Transport erforderlich ist, erfordert von den Logistik-Spezialisten einen außerordentlich hohen Zeitaufwand. Sie müssen jede Transportbox in den Papieren mit einer eigenen Nummer aufführen, jedes Teil in den Kisten einzeln auflisten – und das in bis zu fünffacher Auflistung. Nicht selten setzt sich diese Checkliste aus 20 und mehr DIN-A-4-Seiten zusammen. Eine Liste, die mehr einem Katalog gleicht.
Vor Ort kontaktiert der Schweizer die Schlüsselfiguren an der Rennstrecke. Sie können Ratgeber und Helfer in der Not sein. Was ist, wenn mal etwas fehlt oder ein ungewöhnlicher Wunsch des Teams vor Ort erfüllt werden muss? „Im Regelfall kein Problem, dann wird es halt besorgt", antwortet der Eidgenosse ganz gelassen. Die 20 bis 25 Tonnen Ladung, die mit auf die Reise gehen, sind fein, sauber und peinlich genau in 70 bis 75 maßgeschneiderten Containern für den Bauch des Cargo Jumbos verstaut. Bis zu 8.000 Einzelteile, Ersatzteile in bis zu sechsfacher Ausfertigung für die Rennwagen, eine fast komplette Werkstatt inklusive Staubsauger, Kaffeemaschine, Tischdecken und Sonnenschirme in den Haus- oder Sponsorenfarben. Mit dem Packen sind rund ein Dutzend Leute knapp zwei Tage beschäftigt. Die Packer sind wahre Künstler – Verpackungskünstler. Bei ihrer Arbeit geht es dann zu wie bei einem großen Puzzle. „Logistik hat viel mit Logik zu tun", heißt einer der markantesten Sätze der Logistik-Experten. Beat Zehnder denkt logistisch und spricht logisch: „So viel wie möglich, aber so wenig wie nötig mitnehmen", ist sein Credo. Ein permanenter Balance-Akt. Wer seinen Krempel für den Überseeflug nicht rechtzeitig zusammen hat, ist der Dumme, ihm wird eine saftige Geldstrafe aufgebrummt.
Direkt nach der Zielflagge in Sotschi haben die Teams mit dem Verpacken begonnen. Die kleineren Rennställe beginnen damit oft sogar schon, während das Rennen noch läuft. Dieser Prozess dauert normalerweise sieben oder acht Stunden. Das heißt, dass die Teams nach dem Rennen noch einen ganzen Arbeitstag vor sich haben, um die Autos zu zerlegen und zu warten und gleichzeitig das gesamte Material zu verpacken. Was am längsten bei dieser Arbeit aufhält ist die Kunst, den Kommandostand des Teams so zusammenzulegen, dass er auf eine bestimmte Palette passt. Nichts darf über diese Abmessungen hinausragen, weil es sonst nicht in die Kiste passt, die in den Frachtjumbo verladen wird. „Wir Fahrer kriegen von diesem Drumherum gar nicht so viel mit", sagte der frühere Mercedes-Pilot und Weltmeister 2016, Nico Rosberg. „Wir wissen nur, dass es unglaublich viel Arbeit ist, dies alles binnen weniger Tage auf- und abzubauen." Beim nächsten Doppelpack geht’s vom Mexiko-GP (27. Oktober) direkt zum US-Grand-Prix nach Austin in Texas (3. November). Das Rennen gegen die Uhr beginnt.