Besucher könnten den Eindruck haben, dass sie hier gar nicht so richtig willkommen sind. Das Villnösstal verlangt Respekt. Wem es sich offenbart, wird verzaubert werden von so viel Schönheit und steinerner Pracht.
Das Schild, das wenige Kilometer nach Brixen den Weg ins Villnösstal weisen soll, ist leicht zu übersehen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die meisten Fahrer auf der Brenner-Autobahn ohnehin viel weiter in den Süden wollen. Gut so. Aber das Tal tut auch nichts, um wirklich auf sich aufmerksam zu machen. Im Gegenteil. Es ziert sich. Fast scheint es, als sei nicht jedermann willkommen im Villnösstal, das sich über 24 Kilometer stetig aufwärts windet bis St. Magdalena, dem letzten Flecken, bis es nicht mehr weitergeht. Schon am Eingang zum Tal stehen die Felsen hoch und bedrohlich dicht am Straßenrand, daneben ein wild schäumender Bach. Nichts also, das lieblich einlädt zu dieser ersten Begegnung. Das Tal, es flößt Respekt ein auf den ersten Blick und es verlangt behutsame Annäherung. Nicht der Tourist hat hier das Sagen, es ist das Tal, das seine Besucher mustert. Dem Neugierigen und Bescheidenen offenbart das Tal jedoch all das Schöne, Seltene und Wertvolle, das es zu bieten hat.
Schon nach wenigen Kilometern, kurz hinter dem Säge- und Kieswerk, weitet sich nun die Landschaft und gibt den Blick frei auf sattgrüne und gepflegte Wiesen an steilen Hängen. Hier das Gras zu mähen, Kühe und Schafe weiden zu lassen, ist Schwerstarbeit und hohe Kunst. Wie lässig über die Abhänge gestreut liegen auf mittlerer Höhe die großen Höfe, weiß getüncht die Steinsockel, aus Holz das obere Stockwerk. Hoch und auf der Sonnenseite des Tals musste Jahrhunderte gesiedelt werden, denn erst 1860 wurde die erste Straße durchs Tal gebaut, fortgerissen immer wieder von Hochwasser, Schlamm und Geröll. Auf der anderen Seite des Tals steht der Wald, tief und dunkel. Seine Fläche reicht bis kurz unter die Raschötz, ein karges, schräges Felstableau, das sich von Ost nach West auf 2.300 Meter Höhe über Kilometer zieht. Keine Seilbahn, kein sanfter Weg schlägt Schneisen hier, wer dort hinauf will, muss Anstrengung ertragen, stundenlang. Was dem Fremden als pure Idylle erscheint, ist eine Landschaft, die der Natur in harter Arbeit abgerungen wurde.
Teil des Unesco-Welterbes
Nur wenige Kurven noch hinauf ins Tal und schon ragt auf, was alle Blicke immer wieder auf sich zieht und alles unter sich beherrscht: die Geislerspitzen, Wahrzeichen und Glanzstück am Ende des Villnösstals, jene schroffe und kahle Dolomitengruppe, die bis zu 3.025 Meter in den Himmel ragt und alles unter sich so klein und unwichtig erscheinen lässt. Zu den Gipfeln führt der schnellste und bequemste Weg über St. Peter, Hauptort im Zentrum des Tals. Hier ist der Mittel- und Ausgangspunkt für die meisten Aktivitäten von Einheimischen und Touristen. Man bekommt, was man braucht. Es gibt einen kleinen Supermarkt, eine Pizzeria, ein Eiscafé, einen Frisör, einige gute Restaurants, die Touristeninformation und eine wirklich sehenswerte Pfarrkirche. 1796 erbaut, ist sie eigentlich für den kleinen Ort zu prächtig geraten mit all dem üppigen Spätbarock im Innern, zu teuer auf jeden Fall, sodass der heutige Kirchturm erst 100 Jahre später daneben errichtet werden konnte. Und weil das Geld knapp war in der Pfarrei, wurden einzelne Stühle und Bankreihen gegen Stuhlgeld für wohlhabende Bauernfamilien reserviert und vermietet – bis in die 60er-Jahre. Die sonntägliche Messe ist gut besucht, auch weil vor dem Gottesdienst die Gräber neben der Kirche sorgsam gepflegt und danach beim Wein im „Gasthof Kabis" die letzten Neuigkeiten ausgetauscht werden. Zur Haltestelle der Busse, die nahe zu den Bergen fahren, sind es fünf Minuten Gehweg, die Endstationen Ranui und Zanser Alm sind das Ziel.
Die alles überragende Geisler-Gruppe, deren Silhouette thailändische Waffelpackungen ebenso zieren wie japanische Telefonkarten, hätte solche Werbung nicht nötig. Schon von Weitem machen diese Berge klar: Sie sind die Könige, die Herrscher des Villnösstals. Lieblich und anmutig wollen sie gar nicht sein, sie sind schroff, steil und karg und ihre Erhabenheit wird unterstrichen von den verschiedenen Farben, die sie sich je nach Lichtverhältnissen und Tageszeiten geben; fahl und hell, grau und dunkel, glutrot und golden in den Strahlen der untergehenden Herbstsonne. Was vor Millionen von Jahren aus früheren Atollen und Riffen einer Meereslandschaft nach oben geschoben, durch Druck und Erosion geformt wurde, bestimmt heute das Aussehen dieser Dolomitengruppe. Ihre Präsenz ist ein einziges Machtwort gegenüber dem Menschen. Und es scheint dem Geislermassiv gleichgültig zu sein, seit 2009 als Teil des Unesco-Welterbes geführt zu werden. Wer näher heran will, muss den Adolf-Munkel-Weg gehen und sich dafür einen ganzen Tag reservieren. „Er führt unterhalb der imposanten Geislernordwände entlang und gehört zu den beeindruckendsten Wegen in den Dolomiten." So stand es schon vor 25 Jahren in einem Reiseführer und daran hat sich kaum etwas geändert. Vielfältig am Rande ist die ganze Pflanzenwelt, weit verbreitet auf den umliegenden Almwiesen, im Schatten der Wälder und in der Zwergstrauchheide.
Nun hat sich dies mit dem Unesco-Welterbe allerdings herumgesprochen, und gerade an den Wochenenden bevölkern Busladungen von Tagestouristen – zunehmend aus Fernost – Almhütten, Hofeinfahrten und gesperrte Wege. Jägerzäune und Hinweisschilder richten da nicht allzu viel aus. Während die Gemeindeverwaltung noch überlegt, wie sie effektiver die Beliebtheit ihres Tales gerade an den Wochenenden kanalisieren kann, wählt man sich am besten einen normalen Werktag für die Wanderung. Wer früh aufbricht und die steilsten, anstrengendsten Wege nimmt, bleibt oft für Stunden allein.
„Kein Handy, kein Netz!"
Solcherlei Abgeschiedenheit findet auch, wer sich Günther Pernthaler anschließt. Eigentlich heißen im Tal die meisten Einwohner Pernthaler oder Messner oder Fischnaller, weil die wenigen Familien früher auf ihren abgelegenen Höfen mehr unter sich blieben und über Dorf- und Speckfeste alle dann irgendwie miteinander verwandt und verschwägert wurden. Aber der 48-jährige Günther ist nicht nur ein Pernthaler, sondern auch ein Teilzeitbauer, Bienen- und Schafzüchter, Jäger, Slowfood-Propagandist, Fremdenführer und vor allem ein Geschichtenerzähler. Unterhält er sich mit seinen Einheimischen, versteht man kein Wort. Deutsch ist hier neben dem Italienischen zwar Landessprache, aber die Villnösser haben einen sehr eigenen Dialekt. Sie sind ja auch Südtiroler und keine Deutschen, Österreicher oder gar Italiener. Spricht Günther Pernthaler zu interessierten Touristen, die er kostenlos im Auftrag der Gemeinde über den Bergbauernweg durchs Tal führt, kann man ihn verstehen. Dann erklärt er, warum die reine Grünlandbewirtschaftung und die Milchkühe nicht mehr so viel Gewinn abwerfen, warum das Villnösser Brillenschaf besonders schmackhaftes Fleisch und höchste Qualitätswolle liefert, welche Schutzfunktion ein intakter Wald für Pflanzen, Tier und Mensch erfüllt, und warum er darüber nachdenkt, mit anderen zusammen ein eigenes Villnösser Bier zu brauen. Günther Pernthaler erzählt gern und lacht viel, aber ernst und nachdenklich wird er, wenn es um die Zukunft seines Tals geht. Was die Villnösser in den 60er- und 70er-Jahren im Tourismusgeschäft verschlafen hätten, meint er, sei schon heute und erst recht in Zukunft ein großer Schatz. Ja, ab und zu gäbe es immer mal wieder solche Ideen wie eine Seilbahnverbindung zum benachbarten Grödnertal, wo es gerade in der Wintersaison jede Menge Halligalli gebe. Unsinn, nichts für das Villnösstal. Vom sanften Tourismus hält er dagegen viel, vom Naturparkkonzept für die Geislergruppe und die angrenzende Region mit strengen Auflagen auch, von Reinhold Messner sowieso; für Nachhaltigkeit wirbt er, für ökologische Aufklärung der jungen Leute und sagt, dass man kein Tier schlachten und essen dürfe, das nicht unter der Sonne aufgewachsen sei. Und während es ganz still ist in seinem Wald und plötzlich ein Tannenhäher Alarm schlägt, bleibt er plötzlich stehen und sagt: „ Wissen wir eigentlich, was das für ein Luxus ist? Nur die Stille. Kein Handy, kein Netz. Nur die Stille hier. Das ist unser Luxus!" Man kann den Bauernweg auch alleine machen. Am besten, man sucht sich eine Route, die die kleinen Kirchen im Tal miteinander verbindet: St. Magdalena, St. Johann, St. Jakob und St. Valentin. Aber es braucht gar nicht all die Kirchen, um Glauben und Demut der Bewohner gegenüber dem Schicksal zu erkennen. Kaum eine Weggabelung, kaum eine Anhöhe, auf der nicht ein blumengeschmückter Bildstock oder eine Erinnerungstafel steht. Die Pest wütete schlimm hier während des Dreißigjährigen Krieges, Naturkatastrophen und einzelne Schicksale werden so schnell nicht vergessen: „Franz Obexer, Niedermuntersohn, am 12. August 1942 im Alter von 14 Jahren beim Edelweißpflücken abgestürzt. R.I.P. Vor einem jähen und unvorhergesehenen Tode bewahre uns der Herr." Geschrieben auf einer kleinen Tafel am Wegesrand zwischen Gampen und Zanser Alm.
Auch im Villnösstal gibt es keine verwunschenen Wege, keine Geheimtipps mehr. Aber wer neben dem Imposanten und der Stille die Abwechslung sucht, dem sei als krönender Abschluss seines Besuchs der Aufstieg zum Kreuzjoch und der Dolomitenhöhenweg bis zum Peitlerkofel empfohlen, ebenso wie der Obere und Untere Herrensteig an der Südseite der Ruefenkette. Auf diesen Wegen, die Kondition, Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erfordern, weitet sich nach dem Aufstieg der Blick nahezu unendlich über das Villnösstal hinaus. Während Scharen von Alpendohlen über Felskanten und bizarre Gipfel streifen, sind in der Ferne mit gutem Auge der Großglockner und andere schneebedeckte 3.000er zu erkennen. Aber will man in diesem Augenblick dort überhaupt noch hin?