Er erhielt sowohl den Siemens-Musikpreis als auch den „Praemium Imperiale", die „Nobelpreise der Musik". Star-Violinist Gidon Kremer wird jetzt am Berliner Konzerthaus mit einer zehntägigen Hommage geehrt.
Kremer tritt dabei selbst aufs Podium. Aber auch befreundete Kollegen machen mit: die Pianistin Martha Argerich, die Dirigenten David Zinman und Christoph Eschenbach oder das von Gidon Kremer gegründete Ensemble Kremerata Baltica.
Obwohl Kremer als einer der weltweit Besten seines Fachs gilt, sind ihm Glanz und Glamour fremd. Die Bezeichnung „Stargeiger" ist ihm fast unangenehm, im Berliner Konzerthaus möchte er sich nicht etwa feiern lassen. „Die Hommage ist ein Selbstporträt mit Künstlern, in denen ich etwas suche, das mir selbst besonders nah ist", meint der Geiger. „Ich möchte, dass die Menschen im Publikum etwas aus meiner Welt für ihr Leben mitnehmen."
Anhand von Mozarts Violinkonzerten etwa, die von unzähligen Geigern auf der ganzen Welt gespielt werden, lassen sich die besonderen Qualitäten Kremers erkennen. In seiner Einspielung von 2006 sorgt Kremer immer wieder für Überraschungsmomente: durch rhythmische Flexibilität, feinfühliges Vibrato und originelle Verzierungen, aber auch durch energische Akzente und Kontraste. Hier klebt kein Zuckerguss an Mozarts eleganten Melodien. Kremers Klang ist direkt und geradlinig; auch „unschöne" spitze oder kratzige Töne haben ihren Platz.
Engagement für osteuropäische Musik
Aber der Geiger gibt sich nicht mit dem herkömmlichen Repertoire von Bach bis Brahms zufrieden, sondern setzt sich intensiv für Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ein. Dabei engagiert er sich besonders für osteuropäische und baltische Komponisten – so steht beim Eröffnungskonzert der Veranstaltungsreihe im Konzerthaus das „Offertorium" der tatarischen Komponistin Sofia Gubaidulina auf dem Programm.
Gidon Kremer kam am 27. Februar 1947 im lettischen Riga als Spross einer jüdisch-baltisch-deutschen Musikerfamilie zur Welt. Er studierte in Moskau bei dem weltberühmten Geiger David Oistrach. Bald feierte er große Erfolge – obwohl er sich weigerte, das Klischee des üppig schwelgenden „russischen Geigentons" zu bedienen und überdies gern neuere Werke spielte, was bei den Kulturfunktionären auf wenig Anklang stieß. Das führte zu Repressalien: Kremer wurde immer wieder mit Reise- und Auftrittsverboten belegt, bis er 1980 in die BRD auswanderte.
Doch auch im Westen eckt er bei Veranstaltern immer wieder an. So sorgte der Musiker bei den elitären Salzburger Festspielen fast für einen Eklat, weil er das beliebte Beethoven-Violinkonzert mit neu komponierten Kadenzen von Alfred Schnittke „verhunzen" wollte. Da der kommerzielle Konzertbetrieb wenig Raum für neue oder fremdartige Klänge lässt, schaffte sich Gidon Kremer eigene künstlerische Freiräume. Anfang der Achtziger gründete er ein Festival im österreichischen Lockenhaus, wo sich Musiker in spontanen Gruppierungen zum zwanglosen Kammermusizieren zusammenfinden. Ganz ohne Star-Rummel. Zu seinem 50. Geburtstag erfüllte sich der Geiger einen weiteren Traum: Zusammen mit jungen Musikern aus Lettland, Estland und Litauen gründete er ein Kammerorchester, Kremerata Baltica, das sich vor allem unbekannten und neuen Komponisten widmet.
Für junge Musiker ist Gidon Kremer seit Jahrzehnten ein wichtiger Mentor. Unter ihnen die litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die mit nur 29 Jahren Chefdirigentin des renommierten City of Birmingham Symphony Orchestra wurde. Im Berliner Konzerthaus wird sie am 24. Oktober am Pult stehen – zusammen mit Kremerata Baltica.
Über Jahrzehnte hinweg hat sich Kremer für Werke eingesetzt, die hinter dem Eisernen Vorhang entstanden. So sorgte er dafür, dass der 1919 geborene, jüdisch-polnisch-sowjetische Komponist Mieczysław Weinberg einem größeren Publikum bekannt wurde. Das Weinberg-Doppelalbum, das Kremer 2014 mit Kremerata Baltica veröffentlichte, schaffte es sogar in die deutschen Klassik-Charts. Erst vor wenigen Monaten präsentierte der Geiger seine Bearbeitung von Weinbergs 24 Präludien, die einst für den berühmten Cellisten Mstislaw Rostropowitsch entstanden.
„Mit Weinbergs Musik beschäftige ich mich zwar schon seit einigen Jahren. Aber aus Anlass seines 100. Geburtstages möchte ich dafür sorgen, dass sein Werk noch stärker in die Öffentlichkeit gerückt wird", erzählt Gidon Kremer. „Weinbergs tragische Geschichte und die emotionale Aussage seiner Werke haben mich von Anfang an sehr berührt. Erst nach und nach erkannte ich, dass Weinbergs Schicksal mich an meinen eigenen Vater erinnert. Dessen gesamte Familie wurde ebenfalls im Holocaust ermordet."
Die jüdischen Weinbergs – das ist eine Geschichte der Flucht: Die aus Bessarabien stammende Familie floh vor Pogromen nach Polen, wo sie 1939 nach dem Einmarsch der Wehrmacht erneut in Gefahr geriet. Als Einziger entkam Mieczysław dem Tod im Konzentrationslager. Der 19-Jährige floh Tausende Kilometer gen Osten; erst nach Minsk, später weiter bis ins mittelasiatische Taschkent.
Politisch einmischen, gegen staatliche Willkür
1943 zog Weinberg nach Moskau, wo er sich als polnischer Jude nach wie vor nicht sicher fühlen durfte. Eine Säuberungsaktion im Jahre 1953 überlebte er nur dank der Fürsprache von Dmitri Schostakowitsch. Die zwei Komponisten waren Freunde. Beide versuchten, an der offiziellen kulturpolitischen Doktrin vorbei zu lavieren; beider Werke waren zeitweilig verboten.
Schostakowitsch hatte auch einen stilistischen Einfluss auf Weinberg, der in seinen Werken sämtliche Möglichkeiten zwischen Filmmusik und Zwölftontechnik nutzte. Weinberg entwickelte so einen klangsinnlichen, ausdrucksstarken Stil, den Musikwissenschaftler gern als „Neoklassizismus" bezeichnen.
Erst seit rund zehn Jahren werden Weinbergs Werke hierzulande entdeckt, woran Gidon Kremer einen großen Anteil hat. Er spielt Weinbergs Violinsonaten am 20. Oktober zusammen mit der argentinischen Pianistin Martha Argerich. Die beiden Musiker sind seit Ende der 70er-Jahre Freunde und musikalische Partner. Martha Argerich hält beider Zusammenspiel für „das Natürlichste auf der Welt".
Gemeinsam mit Yulianna Avdeeva wiederum, die 2010 den Chopin-Wettbewerb in Warschau gewann, führt Kremer am 21. Oktober Weinbergs von jüdischer Folklore inspirierte 6. Violinsonate auf. Das geschieht im Konzertformat „2 x hören", wo dasselbe Stück nach einer Diskussionsrunde erneut gespielt wird. Es gilt: Je mehr der Hörer weiß, desto mehr hört er.
Weinbergs 10. Sinfonie interpretieren Kremer und Kremerata Baltica am 26. Oktober in einem Late-Night-Konzert. Der Titel dieser Veranstaltung, „The Chronicle of Current Events", erinnert an ein handgetipptes Untergrund-Magazin, das ab 1968 in der Sowjetunion kursierte und Menschenrechtsverletzungen aufdeckte. Bei diesem Multimedia-Projekt kooperiert Kremer mit Assistenten des Regisseurs Kirill Serebrennikow, der in Moskau zeitweilig unter Hausarrest gestellt wurde.
Auch auf diese Weise meldet sich
Violonist Kremer zu Wort - äußert sich zur aktuellen Politik, vor allem der in Russland. Protestiert immer wieder gegen jede Form von staatlicher Autorität und fordert eine offene russische Gesellschaft.
Hommage an Gidon Kremer vom 18.-27.10.2019 im Konzerthaus am Gendarmenmarkt: www.konzerthaus.de