Als Harald Gregorius seine Rente antrat, machte er sich auf zu einem besonderen Abenteuer. Der heute 67-Jährige lief den 643 Kilometer langen Olavsweg in Norwegen und machte viele besondere Erfahrungen mit der Natur und den Menschen.
Was mache ich aus meiner ‚Restlaufzeit‘?“, fragte sich Harald Gregorius vor drei Jahren, als er mit strammen Schritten auf die Rente losmarschierte. Füße hochlegen und nichts tun, kam für den St. Ingberter nicht infrage. „Ich wollte den Abschied aus dem aktiven Berufsleben bewusst als Zäsur gestalten, ich wollte mir klar darüber werden, wie es weitergeht, wenn ich meinen Lebensabschnitt als Unternehmens- und Suchtberater beende.“
Der heute 67-Jährige entschied sich fürs Pilgern. Allerdings nicht auf dem bekannten Jakobsweg in Richtung Santiago de Compostela, sondern auf dem weniger bekannten Olavsweg von Oslo nach Trondheim.
„Ich bin bewusst nicht geflogen“
„Von diesem Weg hatte ich erfahren, als meine Tochter in Norwegen studierte.“ Fortan ließ ihn der Gedanke nicht los, selbst auf den Pfaden des norwegischen Königs Olav II. Haraldsson zu wandern. Ein Weg, der sich rund 643 Kilometer über 20.000 Höhenmeter durch die atemberaubende Landschaft Norwegens schlängelt. Akribisch bereitete er sich auf die Tour vor. „Zuerst musste ich als ‚Herr der Ringe‘ deutlich abnehmen, zusätzlich habe ich mich ärztlich auf Herz und Nieren durchchecken lassen.“ Mit 17 Kilo Gepäck, guten Wanderschuhen und einer Fülle von Infos über die Strecke startete Harald Gregorius mit dem Zug nach Kiel, dann mit der Fähre nach Oslo. „Ich bin bewusst nicht geflogen, damit meine Seele Zeit hat mitzukommen. Ich wollte langsam in mein Abenteuer starten. Und alleine! Eine Entscheidung, die vor allem meiner Frau große Sorgen bereitete. Sie fürchtete, dass mich tagelang keiner finden würde, wenn ich verunglücken würde. Doch für mich war es wichtig, ohne Begleitung die Strecke zu bewältigen. Ich wollte alleine verantwortlich sein für meinen Weg.“
Viele Stunden und Tage wanderte Harald Gregorius alleine durch die Weiten Norwegens. „Das Grün war berauschend. Die Stille, in der ich nur meinen Atem und meine Schritte hörte, werde ich nie vergessen. Die Beschilderung des Weges ist mancherorts sehr zurückhaltend. Man muss sehr genau hinsehen, um nicht vom rechten Pfad abzukommen. Dieses achtsame Schauen, die Ruhe und die Weite des Landes haben mir geholfen, mich auf mein Inneres zu fokussieren.“ Der Rentner hatte viel Zeit, sich in seine Gedanken zu vertiefen. „Ich habe viel über mein Verhältnis zu meinem Vater nachgedacht. Er hatte immer gesagt: ‚Wenn du etwas willst, dann rock, es alleine,. Eine Haltung, die ich verinnerlicht hatte. Auf meinem Pilgerweg habe ich mich dann gefragt: Warum will ich alles alleine machen? Warum ist das so wichtig? Weil mein Vater es mir so vorgelebt hat. Aber wo ist das Problem, auch mal um Hilfe zu fragen?“ Unterwegs machte der Wanderer dann die Erfahrung, dass es sehr entlastend sein kann, andere um Hilfe zu bitten. „Die Menschen, die ich nach dem Weg gefragt habe, haben mir freundlich Auskunft gegeben. Sie waren sogar überglücklich, mir zu helfen. Das hat mich tief berührt. Ich habe erkannt: Ich muss nicht meinen Vater kopieren, ich kann auch um Hilfe bitten, muss nicht alles alleine rocken. Eine sehr wertvolle Erfahrung für mich.“
Die Unterkünfte auf dem Olavsweg sind einfach, einige sogar leerstehend, also ohne Bewirtschaftung. Oft stellen ältere Ehepaare ihre Wohnhäuser zur Verfügung, die schon ein- oder zweihundert Jahre alt sind und die sie behutsam restauriert haben.
„Einmal hatte ich mich verlaufen, irrte wie Hänsel und Gretel durch den Wald, fand den richtigen Weg nicht mehr.“ Harald Gregorius war in einem Sumpfgebiet gelandet. „Überall Mücken, ich hatte schon zehneinhalb Stunden auf dem Buckel und war einfach fertig. Mit letzter Kraft habe ich mich zu einem Haus geschleppt, das auf dem Hinweg noch verlassen war. Mittlerweile waren die Besitzer zurück, sie luden mich ein, bei ihnen zu übernachten. Am nächsten Morgen hatte die Frau den Frühstückstisch für mich gedeckt, und ihr Mann fuhr mich mit dem Wagen zu dem Punkt, von dem aus ich mich verlaufen hatte. Er wollte kein Geld, er war einfach nur gastfreundlich.“
Ein anderes Mal war Gregorius auf einem Plateau und hörte, wie eine Frau nach ihm rief und auf ihn zukam. „Ich dachte: ‚Oh Gott, ich bin auf einem Privatgelände gelandet und die Frau will mich verscheuchen‘. Doch weit gefehlt, sie hatte Eiscreme in der Hand, die sie mir anbot und dabei stolz berichtete, dass sie schon 93 andere Pilger mit Eis versorgt habe. All diese Einheimischen, die ich auf meiner Strecke getroffen habe, waren neugierig, hilfsbereit, nie raffgierig.“ Ähnlich gute Erfahrungen machte der Saarländer mit anderen Pilgern.
Der Olavsweg ist zwar touristisch nicht so überlaufen wie der Jakobsweg, auf dem pro Jahr rund 300.000 Pilger unterwegs sind. Doch von den durchschnittlich jährlich 2.000 Olavs-Pilgern hat der Vater dreier erwachsener Kinder schon den einen oder die andere getroffen.
„Die Erfahrungen mit anderen Pilgern waren sehr bereichernd für mich. Schnell haben wir intensive Gespräche über unsere Leben geführt, mit drei Deutschen und zwei Norwegern hat sich eine intensive Freundschaft entwickelt. Wir besuchen uns gegenseitig in Hamburg, Schwerin oder an der holländischen Grenze. Diese neuen Freundschaften entschädigen mich für die Kontakte, die durch die Verrentung weggebrochen sind. Sie helfen mir auch, über den Zaun zu schauen und neue Gedanken zuzulassen.“
„Ein Gefühl großer Demut“
Neben diesen zwischenmenschlichen Erlebnissen war Harald Gregorius immer wieder aufs Neue von der überwältigenden Natur beeindruckt.
„Einen meiner schönsten Momente auf meiner rund sechswöchigen Pilgertour erlebte ich auf einer Hochebene am Steinhaufen Allmannrøysa. Hier hat man das Gefühl, als würde man in den Himmel hineinlaufen. Ich habe plötzlich gespürt, wie klein ich eigentlich bin. Ein Gefühl größter Demut überkam mich. An diesem symbolischen, spirituellen Platz entledigen sich die Pilger ihrer Seelenlast, heißt es. Ich habe einen kleinen Sandstein vom St. Ingberter Stiefel inmitten der anderen Steine abgelegt – sozusagen ein Stück meiner saarländischen Heimat in Norwegen hinterlassen.“
Dass nicht alles reibungslos verlief, will der Pilger-Neuling nicht verschweigen. „Als mich der große Pilgerkoller übermannte, bin ich auch mal eine Strecke mit dem Zug gefahren. Und verlaufen habe ich mich natürlich auch. Rund 30 Kilometer an Umwegen habe ich in meinem Reisetagebuch vermerkt. Aber ich habe mir keine Blasen gelaufen, das ist doch auch erwähnenswert.“
Pünktlich zum Olavsfest im Nidarosdom kam er in Trondheim an: Zufrieden mit sich und reich beschenkt durch vielfältige Glücksmomente mit den Menschen und der Natur. Seine Eindrücke hat Harald Gregorius in einem Buch verarbeitet. „Danke Olav“ heißt der Titel, ein Ausspruch, den er immer dann gen Himmel geschickt hat, wenn er nach langem Suchen wieder ein Hinweisschild im Baum oder an einer Wegkreuzung entdeckt oder nette Menschen kennengelernt hatte. „An dem Buch habe ich über ein Jahr gearbeitet und rund 2.000 Fotos dafür ausgewertet. Mein Freund Anders Seim, ein gebürtiger Norweger, hat es sogar für mich ins Norwegische übersetzt.“
Das Buch und seine Vermarktung helfen ihm, seinen Alltag bunt und sinnvoll zu gestalten. Als Wanderbuchverkäufer zieht er durch die Lande, erzählt Fremden von seinen Pilgererlebnissen und hält Vorträge. Seine Frau wandert mittlerweile mit.