In Neuseeland locken Glühwürmchen tief unter der Erdoberfläche ihr Futter an – und Touristen, die zu Tausenden in die Höhlen hinabsteigen.
Es gibt Dinge, die sind so schön, dass sie niemand glaubt. „Das sind keine LEDs, wirklich nicht", versichert der Höhlen-Guide, nachdem er die Frage an diesem Tag schon zum dritten Mal gehört hat. „Was wir hier sehen, sind die Wunder der Natur." 45 Meter unter der Erdoberfläche, inmitten von Stalaktiten und Stalagmiten, funkeln die Sterne – zumindest sieht es so aus.
Das „Wunder" ist eine ganze Kolonie von Glühwürmchen, die sich in den Höhlen von Waitomo in Neuseeland niedergelassen haben. Oder um ganz genau zu sein: leuchtende Mücken, die im Englischen aber „Glow Worms" genannt werden. Schwer vorstellbar, dass in dieser dunklen, feuchten Unterwelt überhaupt etwas lebt. Aber so ist es. Rund 17.000 Glühwürmchen hängen an der Decke der Grotte. Ihr Leuchten lockt Insekten an, die den kleinen Krabblern als Nahrungsquelle dienen. Pure Biologie. Eigentlich. Aber eben auch unheimlich schön. Ein Sternenzelt tief in der Erde.
Trotzdem ist von Romantik zunächst nicht viel zu spüren, denn in den Höhlen wimmeln nicht nur Insekten, sondern auch Menschen. Mehrere Gruppen werden gleichzeitig durch die 15 Grad kühlen Katakomben geführt. Zwar mahnen Schilder, man solle doch bitte den Mund halten, aber davon ist beim Abstieg nicht viel zu spüren. „Schhhhh!", zischt der Guide, als ein junges Paar abermals tuschelt. „Und macht das Handy aus!" Helle Lichtquellen oder laute Geräusche sind in den Höhlen streng verboten, weil sie die Glühwürmchen stören – und diese dann weniger leuchten.
Helles Licht und laute Geräusche verboten
Nach ein paar Metern scheint die Anweisung aber schon wieder vergessen, selbst bei denjenigen, die sie durchsetzen sollen. Plötzlich ermuntert der Guide zum Singen. „Hier unten ist die Akustik so toll, dass wir sogar Konzerte veranstalten", erklärt er, bevor er die gedimmten Lampen, die den Weg beleuchten, komplett ausschaltet. „Jetzt müsst ihr euch nicht mehr genieren, denn euch sieht niemand." Trotzdem: Kein Ton. Nur in der Ferne ist fröhlicher Gesang zu hören, nachdem eine Gruppe südkoreanischer Touristen ein Volkslied angestimmt hat. Als das Schummerlicht wieder angeht, sind viele selige Gesichter zu erkennen. Nur eines fehlt noch immer: das Leuchten der Glühwürmchen.
Ganz einfach machen es einem die Tiere nicht. Menschen sind eben keine Insekten, und deshalb müssen sie erst in die Hocke gehen, den Oberkörper nach vorne strecken und den Hals verrenken, bevor sie das bläuliche Glimmen erblicken. „Die Weibchen sind heller als die Männchen", erklärt der Guide. „Ihr seht, das ist wie bei den Menschen." Ein kurzer Lacher, dann geht’s weiter, denn die nächste Gruppe wartet bereits.
Die Höhlen von Waitomo zählen zu den beliebtesten Touristenattraktionen Neuseelands. Eine halbe Million Menschen steigen jedes Jahr in die Tiefe, manche für einen Rundgang, andere für eine Bootstour, zum Abseilen oder – die härteste Variante – fürs sogenannte Black Water Rafting. Dabei sausen Abenteuerlustige auf Gummireifen durch das unterirdische Wassersystem. Glühwürmchen gibt es nicht in jedem Abschnitt; bei manchen Touren geht es eher um Adrenalin als um die Wunder der Natur.
Zur Faszination gehört das Gefühl, in eine völlig fremde, exotische Welt vorzudringen. Der Pioniergeist trieb auch den englischen Forscher Fred Mace im Jahre 1887 in die Höhlen von Waitomo. Zusammen mit dem einheimischen Maori-Häuptling Tane Tinorau erkundete er in einem Floß das weit verzweigte System. „Die Höhlen haben sich seitdem kaum verändert, aber der Besuch war komplett anders", erzählt Hiria Kohe-Love (36), die selbst von Tinorau abstammt und heute das touristische Programm in den Höhlen verantwortet. „Damals musste man mutiger sein", sagt sie. „Die Leute haben sich abgeseilt und Karbidlampen vor sich hergetragen. Es dauerte Stunden, den richtigen Weg zu finden." Frauen und Kindern war der Abstieg damals nicht erlaubt. Schon früh erkannten die Maori, dass in diesem Erlebnis ein wirtschaftliches Potenzial steckt. 1889 öffneten sie die Höhlen erstmals für die Öffentlichkeit, damals mit einem Eintrittsgeld von zwei Schilling. Doch der Friede währte nicht lange. Die Regierung enteignete die Maori und übernahm selbst die Verwaltung. Die Tourismusbehörde errichtete ein Hotel und baute die Höhleneingänge aufwendig aus. Wo vorher Leitern und Holzpfähle gewesen waren, entstanden Betontreppen und metallene Handläufe. Selbst Queen Elisabeth II., die noch heute das Staatsoberhaupt Neuseelands ist, besuchte 1953 die berühmten Glühwürmchen-Höhlen.
Ein Maori-Häuptling zeigte einst einem Forscher die Höhle
Erst 1989, fast ein Jahrzehnt nach der Enteignung, erhielten Tinoraus Nachfahren ihr Land zurück. Noch heute sind die meisten Höhlenarbeiter Maori. Von den Einnahmen, die durch private Tour-Anbieter erzielt werden, erhalten sie eine Gewinnbeteiligung. So hat sich das Verhältnis zwischen Maori, Regierung und Geschäftsleuten in der jüngsten Vergangenheit spürbar gebessert – auch deshalb, weil alle an einem Strang ziehen müssen, um ihre wichtigste Attraktion zu erhalten.
Längst warnen Wissenschaftler vor einer „Übervölkerung" der Höhlen durch menschliche Besucher. Womöglich könnte das Kohlendioxid, das durchs bloße Atmen entsteht, die Glühwürmchen schädigen. Während die Tiere seit Jahrtausenden unter den gleichen Bedingungen leben, sind die Langzeiteffekte durch menschliche Besucher bislang kaum erforscht. Wenn sich Feuchtigkeit oder Sauerstoffgehalt zu stark ändern, könnte das zu einem Massensterben der leuchtenden Knirpse führen, wie schon einmal in den 70er-Jahren. „Das wollen wir unbedingt vermeiden", beteuert Hiria Kohe-Love. „Deshalb haben wir überall Sensoren installiert, die ständig die Luft- und Wasserqualität messen."
In der Höhle steuert die Gruppe unterdessen dem großen Finale entgegen. Über eine Treppe werden die Besucher abermals in die Tiefe geführt, diesmal zu einer Bootsanlegestelle. Dicht an dicht sitzen alle nebeneinander. Das Holzboot wackelt und schwankt; dann geht auch die letzte Taschenlampe aus. „Schhhht!", zischt abermals der Guide, als das Tuscheln wieder losgeht. Sekunden später verschlägt es allen die Sprache: Die Sterne sind aufgegangen, 45 Meter unter der Erde. Hunderte, vielleicht Tausende Glühwürmchen erhellen die Dunkelheit. Die Pärchen im Boot kuscheln sich eng aneinander, einige fassen sich an den Händen. Andere schauen mit offenem Mund nach oben. Ein echtes Highlight.
Allen verschlägt es die Sprache
Als das Tageslicht näherkommt, ringen die Besucher nach Worten. „Cool gemacht und atemberaubend", meint Kathrin Haas. Die 28-Jährige fährt zusammen mit ihrem Mann Tobias (33) im Camping-Van durch Neuseeland. „Hoffentlich sehen wir auf unserer Reise auch einen echten Sternenhimmel, der so schön aussieht", sagt die junge Frau. Tobias Haas ist vor allem von der Führung beeindruckt: „Die Guides haben sich richtig Mühe gegeben, das hat man gemerkt. Wir hatten lange überlegt, welche Tour wir buchen und waren froh, dass wir etwas Seriöses gefunden haben."
Glühwürmchen-Höhlen gibt es in Neuseeland längst nicht nur in Waitomo, und nicht alle werden von touristischen Anbietern bewirtschaftet. Wer also lange genug sucht, findet vielleicht auch heute noch eine unerforschte Höhle, in der man sich wie Fred Mace und Tane Tinorau auf ihrer ersten Expedition fühlen kann. Der Nachteil: Ganz ungefährlich sind solche Erkundungen auf eigene Faust bis heute nicht. Und bei den Einheimischen auch nicht sonderlich beliebt – auch im idyllischen Neuseeland kämpft man gegen Müll und Graffiti.