Wandern mit Kindern – an dem Vorhaben sind schon viele Eltern gescheitert. In Reit im Winkl im Chiemgau versucht man es mit erfahrenen Müttern: Sie führen die Kleinen als Wanderguides auf die Alm.
„Wir gehen nicht wandern, wir gehen nicht wandern!" Man könnte den Satz hier noch zehnmal abdrucken, und es würde nicht reichen – so oft wiederholt ihn Adrian, vier Jahre alt, mein Sohn, und gerade mit einer ziemlichen dicken Schmolllippe ausgestattet. Mantraartig geht das so über Minuten: „Wir gehen nicht wandern, wir gehen nicht wandern!" Bis mir die Ohren qualmen.
Sein Bruder Jakob (8) kommt irgendwie dazwischen: „Doch!", schallt es druckvoll vom Sofa in der Ferienwohnung. Schnell aber stellt sich heraus, dass es mit seiner Lust auch nicht weit her ist. Mit „doch" wollte er nur das Gegenteil dessen von sich geben, was sein Bruder gerade trötet. Wir haben ein echtes Motivationsproblem, das weiß ich, das weiß Daniela, die Mutter der beiden. Und es reicht, dass wir Eltern uns in die Augen blicken, um zu wissen: Jetzt wird’s schwer. Unsere Verabredung mit Marlies, einer erfahrenen Mutter von zwei Söhnen, die heute unsere Wanderführerin sein soll, droht zu platzen.
„Wandern gehen, das bedeutet Wunder sehen!"
„Wandern mit Müttern" – dieser Ansatz erschien uns, als wir davon lasen, einen Versuch wert. „In Reit im Winkl übernehmen einheimische Mütter die Rolle von Wanderführern und begleiten Familien auf leichten, kindergeeigneten Ausflügen", hieß es. Doch von Wie-die-Kinder-erst-mal-zum-Wanderparkplatz-kriegen – dazu stand da nichts. Irgendeiner der Sätze zündet dann doch. Vielleicht war es der: „Da sind noch ganz viele andere Kinder in eurem Alter." Ich spreche dies mit leicht schlechtem Gewissen aus, weil ich nichts über die Zusammensetzung der Wandergruppe weiß. Fünf Minuten nach elf und damit fünf Minuten zu spät kommen wir mit dem Auto auf dem Wanderparkplatz Hindenburghütte in Reit im Winkl-Blindau an. Hastig raffen wir die Sachen aus dem Kofferraum zusammen. Klar, dass die Rücksäcke noch nicht ganz perfekt gepackt sind. Hier noch eine Regenjacke reingestopft, da noch eine Sonnenkappe, und wo ist die Sonnenmilch? Egal. Die Gruppe wartet.
Kurz darauf stehen wir vier mit den anderen zwölf plus Marlies Hand in Hand im Kreis. Mit Marie und Lina, mit Elif und Ela, mit Maxi und Viktoria, zwischen drei und elf Jahre alt. Und den jeweiligen Eltern, auch eine Oma ist dabei. Marlies, um die 50, beugt sich nach vorn und sagt im sanften, hinwendenden Ton einer Kindergärtnerin: „Zur Begrüßung sagen wir wie in Reit im Winkl?" Wartet kurz ab, und fährt fort, da aus den verschüchterten Kindergesichtern keine Antwort kommt: „Griaß di!" Und strahlt.
„Wandern gehen", das bedeute „ja genau: Wunder sehen", strahlt Marlies weiter. „Grüne Frösche und blaue Beeren zum Beispiel." „Blaubeeren!", ruft Jakob, auf Knopfdruck begeistert. „Ja, von denen haben wir ganz viel da oben!", knüpft Marlies an. Ein erster Funke ist übergesprungen. Alle Kinder schaffen den Weg bis zur ersten Rast, die das Grüppchen allerdings schon nach fünf Minuten an einem Waldspielplatz einlegt, wo Marlies die Kinder bittet, die Augen zu schließen. Aus dem Rucksack fischt sie ein Buch und liest daraus ein Märchen vor: „Hänsel und Knödel".
Als sie das Buch zuklappt, kramt die Wanderführerin Wäscheklammern hervor, beschriftet sie mit den Namen der Kinder und heftet sie ihnen an. Ihr gelingt es, die Sprösslinge an den Spielgeräten vorbeizulotsen – auf einen mal steinigen, mal laubbedeckten Pfad, der schnell steiler und schmaler wird, über rutschige Holzbrückenkonstruktionen führt und dann die volle Aufmerksamkeit der Eltern erfordert, damit vor allem die Kleineren auf dem glitschigen Grund nicht ausrutschen. Ein Plätschern dringt in die Ohren. Da, ein Wasserfall! Rechts und links türmen sich Felswände auf, die sich mit jedem Schritt weiter verengen: Das zusammengewürfelte Familien-Trüppchen ist in der Klausenbach-Klamm angekommen. Und niemand mault. „Schaut mal, da war die Natur mit dem Lineal zugange", haucht Marlies und zeigt auf eine Felskante.
In der Pause malen die Kinder
In der Felsspalte scheint es ein paar Grad kühler zu sein, es ist dunkler, es riecht nach Moos und Feuchtigkeit. Die Atmosphäre ist da, Marie (9) steht der Mund offen, Elif (4) und Ela (6) bekommen noch größere Augen als ohnehin schon. Ich nutze die Gelegenheit und frage Marlies nach ihren besten Tricks: „Wie bekommt man Kinder denn bitteschön zum Wandern?" Sie hat selbst zwei Söhne, die zwar schon im Studentenalter sind, mit denen sie aber alles durchgemacht hat. Und vor allem: Sie sind in der Bergwelt von Reit im Winkl mit den Chiemgauer Alpen aufgewachsen, wo das Wandern fast schon zum Erziehungs-Einmaleins gehört. „Es muss kurz und knapp sein, und unterwegs müssen knackige Sachen dabei sein – wie die Klamm."
Die Klamm war offenbar so knackig, dass zumindest Adrian auf dem folgenden, zugegeben eher uninspirierenden Schotterweg in ein neues Motivationsloch plumpst, während der Rest der Rasselbande in versprengter Ordnung, aber als sich formendes Kollektiv weitertrabt. Dass sie sich von den Rockzipfeln lösen, ist ein gutes Zeichen. Nur der Vierjährige wirft sich an Mamas Schienbein und piepst: „Ich kann nicht mehr!" Daniela sagt: „Wir können jetzt umdrehen, aber dann müssen wir das jetzt machen – oder wir müssen weitergehen." Klare Ansage, kein Feedback. Marlies eilt zu Hilfe, kniet sich in Adrians Blickhöhe. Aber es hilft nichts. Die Handbremse sitzt fest. Weil ich den Wanderversuch mit Kindern nicht so schnell aufgeben will, lasse ich mich schneller als sonst erweichen – mit dem Ergebnis, dass Adrian bald weiter wandert: auf meinen Schultern. „Alles bis zu 400 Höhenmetern macht Spaß auf einer halbtägigen Wanderung", klirren Marlies Worte in meinen Ohren nach. Und ich meine, Blicke der anderen Eltern zu spüren, die jetzt gute Argumente brauchen, um ihren Nachwuchs nicht auch schultern zu müssen. Zum Glück ist der nächste Rastplatz bald erreicht, als wir links in eine Lichtung mit Hütte, Grillplatz und Teich einbiegen, wo Marlies Stifte aus ihrem Rucksack holt: „Schaut mal, sucht euch so einen glatten Stein", sie hebt einen Stein auf, „und malt darauf, was ihr im Wald mögt!" Die Idee zieht, nur Adrian ist immer noch nicht so weit. Jakob malt einen Pilz, Maxi einen Frosch, Ely ein Blatt. Erst eine ganz schön große Libelle über dem Teich reißt die Kinder aus ihrer künstlerischen Kontemplation, alle stürzen hin. Das Insekt tanzt, das Wasser plätschert, und Marlies sagt strahlend: „Manche kaufen sich eine CD, um bei solchen Geräuschen zu entspannen, und wir haben das live hier." Dann geht es hoch zur Demel-Alm auf knapp 900 Metern – aber nicht ohne eine Warnung.
Denn auf einer Alm können einem schließlich Kühe begegnen, die nicht von einem tickenden Elektrozaun auf Distanz gehalten werden. „Wenn ihr die anschaut, gehen sie auf Euch zu. Aber ein Wanderstock hilft", sagt Marlies. „Zur Not müsst ihr der Kuh damit eins auf die Nase hauen." Jakob stochert bald darauf im Klausenbach, der das Klausental durchzieht, das sich in geschwungenen, saftigen Wiesen bis in die Höhen und bis nach Österreich zieht. Kühe als braune Tupfer im satten Grün der Hänge, doch die Kinder sind auf der Suche nach Forellen, die sie nach kurzer Zeit im fließenden Wasser stehend auch entdecken.
Die Wanderlust greift um sich
„Die letzte Kua macht’s Gatter zua!": Den Spruch haben die Kinder noch alle drauf, den Marlies für den Fall, dass wir ein Gatter passieren würden, aufsagte. Jetzt ist es so weit. Rechts von uns liegen zwei Prachtexemplare von Kühen malmend im Gras. Dass so ein Viech losstürmt, wenn man es fixiert – kaum vorstellbar. Aber die Kinder wenden ihren Blick ehrfürchtig schnell ab. „Jetzt holts eure Brotzeit aus dem Rucksack", sagt Marlies, als wir an der Alm angekommen sind. Stullenverzehrend sitzt das Grüppchen vor der Hütte. Dann gibt’s Adrians großen Auftritt: Mit den Wäscheklammern heftet Marlies Fotos von Tieren an die Rücken der Kinder, die anderen müssen sie beschreiben, ohne sie beim Namen zu nennen. Eltern sehen ihre Kinder ja gern im rosaroten Licht. Aber tatsächlich ist es Adrian, der als einziger ohne Hilfe errät, wer er ist: ein grüner Frosch. Von da an scheinen ihm auch Froschbeine gewachsen. Den Rückweg hüpft er fast im Alleingang und zieht dabei den weit größeren Maxi an der Hand mit sich, Mama und Papa sind abgemeldet. Überhaupt scheint die Wanderslust um sich gegriffen zu haben, alle Kinder folgen dem Weg. Unfassbar. Geht es jetzt erst richtig los? Oder spornt das nahende Ende zu Höchstleistungen an? Tugay aus Berlin, der Papa von Elif und Ela, hat eine einfache Erklärung: „Es geht bergab." Er freut sich, dass er es sich anstrengen muss: „In Berlin haben auf jedes Blatt schon zehn Hunde gepinkelt. Hier können die Kinder mal Sachen anfassen." Und Tanja, die Mutter von Marie, die es am Berg „etwas steil" fand, und der dreijährigen Lina, die gut gelaunt schweigt, sagt: „Ohne die Gruppe hätten wir die Kinder nie zum Wandern gebracht." Auch ihr Mann findet: „Die Rechnung ist aufgegangen."
Und wie fanden es unsere Kinder? Jakob lapidar: „Gut!" – was immer ein gutes Zeichen ist. Adrian: „Nicht sehr megagut. Aber das Spiel war gut." Ist Wandern unter dem Strich was für Euch? „Nein", kommt es wie aus einer Kehle zurück. Man kann aber auch blöde Fragen stellen, denke ich mir. Zurück am Wanderparkplatz Hindenburghütte, heißt es Abschied nehmen. Alle sollen sich im Kreis noch mal an den Händen nehmen: „Ihr wart’s a ganz, ganz netter Haufen!", sagt Marlies und kehrt uns mit einem strahlenden „Pfiat di!" und der Bitte, wieder mal nach Reit im Winkl zu kommen, den Rücken.