Verwalten statt agieren, investieren statt sparen – das ist der eindringliche Appell, den der französische Wirtschaftswissenschaftler Philippe Dessertine an die europäischen Regierungen richtet. Um das Ruder herumzureißen, verlangt er von der Politik vor allem eines: Tacheles reden.
Die westlichen Wirtschaftssysteme von heute finden keine Antworten mehr auf die Herausforderungen von morgen. Die Politik schaut zu, verwaltet, reagiert, statt zu agieren. Und die Gesellschaft verschanzt sich zunehmend hinter nationalen Grenzen, aus Angst vor dem sozialen Abstieg: Auf diesen Nenner bringt der französische Wirtschaftswissenschaftler Philippe Dessertine die aktuelle Situation Europas.
Der angesehene und gefragte Universitätsprofessor und Buchautor aus Paris berät unter anderem öffentliche und private Finanzinstitutionen, mahnt die europäischen Wirtschafts- und Staatenlenker zu einer richtungweisenden Zusammenarbeit und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund.
Prof. Dessertine, Sie zeichnen ein düsteres Bild von Europa. Woran liegt’s?
Wir stehen an der Schwelle zu einem Wechsel beim Leadership in der Welt und zwar wirtschaftlich und demografisch. Wirtschaftswachstum und das dazugehörige Tempo bestimmen im 21. Jahrhundert die asiatischen Länder, allen voran China und Indien. Demografisch gesehen wird Afrika im 22. Jahrhundert der am stärksten wachsende Kontinent sein. Jahrhundertelang hat Europa den Ton in der Welt angegeben und den Führungsanspruch untermauert. Der Verlust des Leaderships und die Migrationsfrage machen vielen Europäern Angst. Da ist zum einen die Digitalisierung, die zu einem noch nie gekannten technologischen Wandel führt, der unser Wirtschaftssystem komplett auf den Kopf stellt. Zum anderen sehen viele Europäer mit großer Sorge, dass immer mehr Menschen zu uns kommen, die anders denken und funktionieren. Diese Ängste der Bürger muss die Politik ernst nehmen und gleichzeitig Wege für die Zukunft aufzeigen. Das geschieht momentan so nicht.
Was soll die Politik denn tun?
Tacheles reden und den Menschen reinen Wein einschenken. Unsere Wirtschafts-, Finanz- und Sozialsysteme nach 1945 sind so angelegt, dass sie Wohlstand in der westlichen Welt sichern und vermehren. Sie stoßen aber aufgrund des weltweiten Bevölkerungswachstums und der Globalisierung mittlerweile an ihre natürlichen Grenzen. Diese Systeme sind nicht für acht und mehr Milliarden Menschen ausgelegt. Sie würden nicht einmal in China mit einer Milliarde Menschen funktionieren. Wohlstand und Reichtum sind auf dieser Erde höchst unterschiedlich verteilt und wir werden es durch nationale Abschottung nicht verhindern, dass Menschen, denen es undenkbar schlecht geht, dorthin gehen, wo es ihnen vermeintlich besser geht. Der Schlüssel liegt in der Kooperation.
Es kommt erschwerend hinzu, dass Europa die Digitalisierung verschlafen hat, sprich die Musik für wirtschaftlichen Fortschritt und Entwicklung spielt woanders. Die USA und China haben uns in der Informationstechnologie längst abgehängt, bei der Cloud-Technologie verlieren wir wieder den Anschluss, von der Blockchain-Technologie ganz zu schweigen.
Hat Europa bei den ersten industriellen Revolutionen noch den Ton angegeben, hecheln wir nun hinterher, ängstlich und von dem Wunsch beseelt, es werde schon alles nicht so schlimm kommen.
Wir sind also ein Volk von Angsthasen geworden?
Die meisten von uns können sich nicht vorstellen, welch gigantisches Ausmaß der technologische Wandel oder besser gesagt Bruch mit sich bringt. Als noch Pferdegespanne das Straßenbild in den Städten prägten, hat sich wohl niemand vorstellen können, wie schnell das Automobil die Arbeitswelt verändern würde. Gleiches gilt für die Eisenbahn oder die Fliegerei. Bei der Digitalisierung wird es noch schneller gehen.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie China. Die Chinesen haben den Anspruch, in zehn zukunftsweisenden Bereichen in wenigen Jahren Weltspitze zu sein vor den USA. Sie investieren zig Milliarden in Künstliche Intelligenz, IT, Mobilfunk, Regenerative Energien, E-Mobilität und so weiter, nehmen Flops in Kauf, aber die Richtung stimmt. Und was machen wir? Wir kleckern, statt zu klotzen, geben uns mit wenig zufrieden und verlieren uns in Details. Ich glaube, dass Europa das Ausmaß dieses Wandels nicht verstehen will. Dabei haben wir durchaus unsere Stärken, insbesondere Deutschland und Frankreich. Wir müssen sie nur nutzen, statt Ängste zu schüren und nur die Risiken zu betonen.
Welche Chancen haben wir denn?
Deutschland und Frankreich als die beiden größten Volkswirtschaften in Europa haben die gleiche Kultur, teilen dieselben Werte und haben Milliardenersparnisse auf der hohen Kante, nicht die Staaten, aber Unternehmen oder Privatpersonen. Was wir brauchen, sind Milliardeninvestitionen in Zukunftsfelder. Beispiel Datensicherheit, eines der brennendsten Probleme unserer Zeit, aber es wird zu wenig investiert. Mobilfunk G5 oder Glasfaserausbau. Wir beschäftigen uns lieber mit Problemen, die wir jeden Tag sichtbar erleben wie Verkehrsstaus in den Metropolen auf dem täglichen Weg zur Arbeit. Damit verbunden sind Lärm und hohe Emissionsbelastungen. Oder ein weiteres massives Problem ist der knappe und teure Wohnraum in Großstädten wie Paris oder Lyon in Frankreich oder Berlin, Frankfurt und München in Deutschland.
Diese Problematiken gehören zusammen, und das alles könnten wir entzerren und lösen. Man muss heutzutage nicht in den Hauptstädten leben, um mit Peking oder New York vernetzt zu sein. Man muss nicht physisch im Büro sein, um im Team an Lösungen zu arbeiten. Und es ist ein Trugschluss zu glauben, deutsch-französische Zusammenarbeit funktioniere nur über Paris und Berlin. Bahnbrechende Innovationen sind fast immer in den Provinzen entstanden.
Wir brauchen Investitionen, neue Werkzeuge, denn die alten funktionieren nicht mehr, und verstärkte Kooperation, denn alleine ist jeder für sich genommen zu klein. Die deutsche und französische Politik hat ja zumindest erkannt, dass Zusammenarbeit auch im Kleinen wichtig ist. Der neue Elysée-Vertrag 2.0 legt dafür die Grundlagen.
Wo bleiben die Menschen bei dieser rasanten und beängstigenden Entwicklung? Die Ängste und Abschottungstendenzen sind schließlich real vorhanden, und die Proteste gegen Veränderungen nehmen zu.
Ob wir es in Europa wollen oder nicht, die Digitalisierung können wir nicht aufhalten, bestenfalls mitgestalten. Ängste vor Veränderungen müssen wir ernst nehmen, aber Ängste hat es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben. Der Mensch ist so gestrickt, dass er immer etwas erfindet, was er braucht und womit er besser ist als andere. Proteste gehören ebenfalls dazu, besonders in Frankreich. Die revolutionären Gene stecken uns Franzosen halt stärker im Blut als den Deutschen. Sie gehören zu unserer DNA. Ein Erklärungsversuch liegt darin begründet, dass Frankreich zentralistisch aufgebaut ist und nicht föderal wie Deutschland. Was aus Paris kommt, erregt eben auf Anhieb Widerstand in uns. Zum Beispiel das Steuersystem, alles fließt eben immer erst mal nach Paris. Letztendlich hat ja auch die Gelbwestenbewegung in einer von Paris angezettelten Steuererhöhung für Sprit ihren Anfang genommen. Mittlerweile machen sich aber links- und rechtsextreme Strömungen die Ziele der Gilets Jaunes zu eigen, was wiederum von den meisten Franzosen abgelehnt wird.
Ich denke, dass Ängste der Menschen oder das Gefühl des Abgehängtseins auch Ausdruck in dem Erstarken der rechten Parteien in Europa sind, ob nun der Rassemblement National, früher Front National, oder die AfD oder selbst der Brexit. Diese Entwicklung hat die Politik zu verantworten. Der ehemalige französische Außenminister Laurent Fabius hat einmal gesagt, der Front National wird uns in Frankreich große Probleme bescheren, aber er wird keine Lösungen aufzeigen, um Probleme zu lösen. An diesem Punkt sind wir längst angekommen. Eine falsch verstandene Politik macht Europa zum Sündenbock aller Probleme, ob Migration, Digitalisierung, Steuererhöhungen oder Klimakatastrophe. Hier liegt noch viel Aufklärungsarbeit vor uns.