Noch immer stehen wir Europäer unter dem Schock der verlorenen amerikanischen Rückendeckung. Umso wichtiger ist Außenpolitik zur Sicherung von Interessen im internationalen Kontext, so der Politologe Josef Janning: „Sie ist nicht die Sahne auf dem Kuchen, sondern die Grundlage von Politik."
Herr Janning, die Zeiten sind offensichtlich aus den Fugen. Wie ist es, unter diesen Umständen über Außenpolitik nachzudenken?
Es ist spannend und schwierig zugleich. Was in der heutigen Lage und den zahlreichen Krisen außenpolitisch zu tun ist, liegt ja nicht auf der Hand. Es ist ja nicht so, dass Außenpolitik daraus besteht, sich etwas wünschen zu können, entsprechend zu handeln und dann wird das dann so. Außenpolitik hat viel mit Möglichkeiten und Grenzen zu tun, und auch damit, wie andere darauf reagieren, was man selbst tut. Oft genug ist Außenpolitik deswegen ein schwieriges Geschäft: Auf der einen Seite soll sie das Gute befördern, sie hat einen moralischen Anspruch, auf der anderen Seite ist sie zutiefst Realpolitik: Sie muss mit Akteuren zurechtkommen, die nicht gut sind und die nach diesen Maßstäben nicht zu messen sind.
Wir hören von schlimmen Dingen in der Welt und haben spontan das Gefühl, da müssen wir doch etwas tun. Aber was können wir tun? Und gab es diese Wahrnehmung der Machtlosigkeit immer schon?
Die Vorstellung von Gestaltungsfähigkeit, von Macht und Machtlosigkeit bewegt sich in Zyklen. Nehmen Sie nur die letzten Jahrzehnte als Beispiel: Wer in den Zeiten des Kalten Krieges aufgewachsen ist, erinnert sich an eine Zeit, in der die großen Entscheidungen zwischen den beiden Supermächten USA und UdSSR fielen. Alle anderen hatten sich damit zu arrangieren.
Soweit deutsche Außenpolitik in der Lage war, die amerikanischen Entscheidungen am Rande mitzugestalten, oder die sowjetische Politik in gewisser Weise zu beeinflussen, soweit besaß Deutschland auch Gestaltungsmacht. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes glaubten viele, es gebe keinen großen Konflikt mehr, der die Welt spalten könne. Außenpolitik erlebte eine Phase geradezu überbordenden Gestaltungswillens, in der so gut wie alles möglich wurde. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die Konflikte in vielen Teilen der Welt gelöst waren, die Entwicklung vorangetrieben würde und Armut beseitigt werden könnte.
Und das ist jetzt nicht mehr so?
Nein, die letzten Jahre sind wieder geprägt von der Einsicht in der Begrenztheit der Mittel. Wir erleben in gewissem Maße eine Rückkehr zur Machtpolitik des 19. Jahrhunderts, die aber mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts ausgetragen wird. In diesem Licht erscheinen Deutschland und Europa eher als machtlos, weil sie der Großmachtpolitik von Amerikanern und Chinesen nur wenige harte Machtfaktoren entgegensetzen können. Wir Europäer haben die Kompetenz, Zusammenarbeit zu gestalten. Wenn man aber nicht kooperieren, sondern gewinnen will, dann sind unserer Fähigkeiten weit weniger relevant.
Die Zeiten, in denen wir uns auf andere verlassen können, seien „ein Stück weit" vorbei. War dieser Satz der Kanzlerin wirklich eine Zäsur?
Dieser Satz ist das, was man in der Sprache der Finanzmärkte „hedging" nennen würde. Es ist der Versuch eines Spitzenpolitikers, eine absehbare Veränderung schon mal zu benennen, damit später niemand sagen kann, sie sei verschwiegen oder verkannt worden. Nachfolgende Schritte erhalten so eine Art Ursprung. Aus meiner Sicht ist das in der Tat für Merkel eine Art Erkenntnisschock gewesen: Eine Beziehung, die sie als feste Konstante der deutschen Außenpolitik angenommen hatte, befindet sich unversehens in einem elementaren Umbruch.
Daran erinnert uns der US-Präsident ja praktisch täglich.
Ja, doch dieser Umbruch beginnt aber nicht erst mit der Person des Präsidenten, seiner Rhetorik oder Erratik, sondern dahinter steckt ein tiefer struktureller Wandel in der Außenpolitik der USA.Die Amerikaner verstehen sich nicht mehr als europäische Macht, sondern konzentrieren sich nun auf die aus ihrer Sicht viel wichtigere Herausforderung China. Dabei ist das europäische Interesse an den USA als Rückversicherung gegen eine Aggression von russischer Seite eher zweitranging. Diese Erkenntnis hat die Bundesrepublik erreicht wie ein Schock.
In der Konsequenz müssen die Europäer ihre Sicherheit von nun an mit eigenen Mitteln organisieren. Und das heißt, Deutschland muss eine besondere Rolle spielen, weil wir nun mal das größte Land in einer exponierten und verletzlichen EU ist. Wenn es um Sicherheit geht, dann ist Deutschland das Land, auf das alle Nachbarn schauen.
Das wollten wir ja gar nicht.
Nein, Angela Merkel will mit ihrer Botschaft die Deutschen auf die Auseinandersetzung mit dieser Frage vorbereiten, denn sie regiert in einem Land, das gar nicht aufgeschlossen ist für die Antwort. Es ist misslich für Europa, dass das wichtigste Land mittendrin liegt, keine Außengrenzen hat, an denen Krisen sich manifestieren, sondern um das herum nur Freundschaft herrscht – eine der größten Errungenschaften der deutschen und europäischen Einigung.
Das klassische Trauma deutscher außenpolitischer Strategen, demzufolge Deutschland immer nur einig und erfolgreich sein konnte um den Preis antideutscher Koalitionen, hat die EU aufgehoben. Das ist eine große Leistung – aber es ist gleichzeitig die Achillesferse der neuen Zeit, weil von diesem Deutschland, das strategischen und sicherheitspolitischen Fragen lieber ausweicht, nun die Frage nach der Organisation europäischer Verteidigung beantwortet werden muss. Wir dagegen wollen gar nicht in diesen Kategorien von Krieg und Militär denken, sondern viel lieber in denen von wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie.
Darauf waren wir auch mal stolz.
Ja, natürlich. Nun stehen wir aber vor der Frage, wie kann sich Europa behaupten in einer Welt, die sich nicht in Richtung auf den Traum von einer guten Welt hin bewegt, sondern die eine Reihe von machtpolitischen Abgründen aufweist, die sich durch bloßes Zureden nicht überwinden lassen.
Sie erwarten mehr Führungswillen von Deutschland. Aber gibt es nicht auch die Gefahr von Alleingängen – wie etwa in der Euro- und der Flüchtlingskrise?
Das ist ein Dilemma. Von Deutschland wird eine Führungsleistung erwartet. Berlin ist für Entscheidungen in der EU unverzichtbar. Ohne die Deutschen hat vieles keinen Zweck. Wenn die Bundesregierung nicht erklärt, was sie möchte, entsteht Unsicherheit. Führung besteht ja nicht darin, dass Deutschland sagt, was gemacht wird. Führung bedeutet vielmehr, das gemeinsame Beste zu definieren und für solche Ansätze Unterstützung zu gewinnen.
Insbesondere die großen Staaten in der EU haben gewissermaßen die Pflicht, ihre Vorstellungen anderen mitzuteilen, damit diese sich darauf einstellen können. Kleinere Staaten leben ja mit der historischen Erfahrung, dass es besser ist, sich offen zu halten für die Vorstellungen der großen. Das bedeutet, dass die größeren mehr als die kleineren sagen müssen, was sie denn wollen. Frankreich, Großbritannien und Deutschland, die großen Drei in der EU, stehen für rund zwei Drittel der Verteidigungsaufwendungen in der EU – was eines der sicherheitspolitischen Probleme Europas zeigt: Die Gliederung in viele kleine Staaten mit jeweils nationalen Armeen ist die ineffizienteste Form, Sicherheit für den Raum der EU zu schaffen.
Ist die immer weitere Integration in Richtung „Vereinigte Staaten von Europa" langfristig die einzige Option? Oder gibt es Alternativen?
Die Option, dass Staaten auch selbst handeln, bleibt wichtig für Europa. Sonst können sie auch keine Initiativen übernehmen, um Uneinigkeit unter den Staaten zu überwinden. Es gibt die These, dass den deutschen Interessen am meisten gedient wäre, wenn Deutschland sich auflöste in einem europäischen Verbund. Diese Vorstellung ist heute obsolet, da die klassische Idee des europäischen Bundesstaates nicht zu verwirklichen ist. Deutschland muss deshalb nationale Handlungsspielräume behalten, um im eigenen Interesse, aber auch im Sinn des europäischen Interesses handeln zu können.
Hat denn nationale Initiative wirklich einmal zu mehr Europa geführt?
Wir verdanken ganze Teile der europäischen Integration einer deutsch-französischen Initiative, zum Beispiel Schengen. Es gab ursprünglich keinen Konsens über die Freizügigkeit der Personen, wohl aber über freien Waren- und Kapitalverkehr. Aus deutscher und französischer Sicht aber hing die Freizügigkeit von Waren und Kapital untrennbar zusammen mit der der Menschen. Wie sollte der Lkw die Grenze passieren ohne den Fahrer? Deshalb sind Deutsche und Franzosen vorangegangen, und übernahmen den acquis der Benelux-Staaten. Das Signal an die anderen Staaten war: Ihr könnt euch anschließen, wenn ihr wollt. So ist es gekommen, andere Staaten haben sich angeschlossen, bis dann schließlich Schengen in den Vertragsrahmen der Union übernommen wurde. Wenn diese Möglichkeit nicht existiert, über eigene Initiativen den Mehrwert von Zusammenarbeit zu demonstrieren, kann Europa nicht vorankommen. Solche Fälle wird es immer geben: Die Unvollendung ist Europas Finalität.
Auch für die großen Staaten der EU ist ein nationaler Alleingang praktisch nie eine dauerhaft attraktive Option. Die eigenen Anliegen und Fähigkeiten im Rahmen der EU zu hebeln, ist selbst für die größten Staaten Anreiz genug.
Ist die deutsche Öffentlichkeit wirklich bereit, mehr europäisch zu denken – Beispiel Flüchtlingspolitik? Und wäre das nötig?
Größere Gesellschaften haben grundsätzlich ein größeres Problem mit der Integration anderer Perspektiven. In kleineren Staaten gelingt das leichter. Das haben unsere Studien zum Zusammenhalt von Gesellschaften gezeigt. In großen Staaten lebt ein deutlich geringerer Anteil der Bevölkerung in Kontakt mit Menschen aus anderen Ländern, weil die Grenzen viel weiter entfernt sind. In Deutschland und Frankreich ist der Anteil der in grenznahen Regionen lebt, vergleichsweise klein. Hier liegt die europäische Dimension für viele Menschen nicht auf der Hand, sondern muss erst im politischen Diskurs hergestellt werden.
So hätte man in der Flüchtlingskrise das Thema Solidarität auch anders anpacken können als nur über Verteilungsquoten. Finanzielle Leistungen wären auch eine Form von Solidarität gewesen. Da das Problem Deutschlands nicht Geld war, hat man das nicht als Solidarleistung definieren wollen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass einige Staaten absolut unwillig sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Hier wie dort ist häufig die innenpolitische Debatte wichtiger ist als eine europäische Lösung.
Was eigentlich immer schon so war.
Trotzdem waren seit 1945 die Außenminister die beliebtesten Politiker, weil sie für den Frieden zuständig waren. Kaum ein Außenminister hat es je geschafft, unbeliebt zu werden. Was heute gelingen muss, ist eine bessere und authentische Kommunikation über die Welt, über unsere Position, Rolle und Handlungsmöglichkeiten. In der deutschen Debatte scheint es nur darum zu gehen, das Gute zu tun. Außenpolitik hat aber in allererster Linie die Aufgabe, die elementaren Staatsziele Wohlfahrt und Sicherheit in einer komplizierten Welt zu sichern. Außenpolitik ist nicht die Sahne auf dem Kuchen, sondern die Grundlage: die Sicherung von Interessen.
Oft entsteht der Eindruck in der deutschen Diskussion, die Politik schätze Europa nur wegen der Friedensidee, also nur, weil wir diese historische „Macke" haben. So, als könne man das Engagement in der EU auch lassen. Dabei wird übersehen, dass gemeinsames Handeln, dass die Bündelung von Souveränität eine notwendige Bedingung des Erhalts von Wohlfahrt und Sicherheit darstellt. In der Vermittlungsleistung der Politiker müsste das deutlicher werden.
Bei den üblichen europapolitischen Reden kann ich nach dem ersten Satz schon sagen, wie es weiter geht. Die meisten Menschen können das auch. Sprache wird schnell rituell und die Zuhörer schalten ab. Können wir nicht unsere öffentliche Debatte so führen, dass die Leute aufhorchen?
Der Euro ist ein Beispiel dafür, dass es klare sachlogische Begründungen gibt für die Integration. Ich will damit nicht sagen, dass es gar keine Alternative gibt, sondern einen Mehrwert. Wir haben ein hohes Wohlstandsniveau, das wir wahrscheinlich am besten dadurch halten, dass man möglichst viel gemeinsam tut.
Ist Europa also gar nichts Emotionales? Wie halten Sie’s mit der Europa-Hymne?
Fahne, Hymne und ähnliche Symbole sind sinnvoll, sie machen Gemeinschaftsbezüge sinnlich erfahrbar. Aber es gibt ein Risiko: Es soll ja damit nicht die Stimmigkeit nationaler Symbole aufgelöst werden. Viele Europäer wären zutiefst irritiert, nehmen Sie die Polen, wenn sie den Eindruck hätten, sie müssten jetzt die Ode an die Freude statt ihrer Hymne singen. Das ist ja so nicht gedacht.
Europa ist nicht gedacht zur Abschaffung der Nationalstaaten sondern zu ihrer Rettung. Die EU erlaubt uns, die nationalen Kontexte zu bewahren und trotzdem die eigenen Interessen wirksam gemeinsam zu schützen. Es ist gar nicht die Frage, ob wir Deutsche oder Europäer sein wollen, wir sind beides.
An dieser Aufgabe scheint die politische Klasse in Großbritannien gescheitert zu sein.
Ich sehe in Großbritannien ein für unsere Verhältnisse erschreckendes Maß an Zynismus und Ränkespielerei auf offener Bühne. Bei uns spaßt man mit Politik nicht, dort ist es Show. Hierzulande ist Politik am Ende doch etwas Ernstes, ist das Parlament eine Kathedrale der Demokratie. Im House of Commons zeugt die Auseinandersetzung von einer Erbarmungslosigkeit, die es im Bundestag nicht gibt. Das Thema Europa hatte es Großbritannien immer schon schwer.