In Zeiten des Fachkräftemangels müssen sich Unternehmen etwas einfallen lassen, um ihr Personal bei Laune zu halten. Die totgeglaubte Kantine erlebt vielerorts ein Comeback. Nur heißt sie nie so.
Um 11.15 Uhr hat Franky Gissinger nicht viel Zeit zum Reden. Noch eine Viertelstunde, dann werden die ersten Kunden ans Büffett stürmen und nach einem Schnitzel verlangen. Oder doch nur nach einem Salat? So ganz weiß der Chefkoch das nie. „Aber aus Erfahrung schätze ich, dass heute etwa 300 Schnitzel rausgehen werden", meint der 48-Jährige. „Plus, minus zehn."
Um ihn herum herrscht rege Betriebsamkeit. Mehrere Mitarbeiter schnippeln Karotten, wenden Glasnudeln, rühren Erbsen. Zwischen Edelstahltöpfen und Arbeitsplatten huschen Gestalten mit weißen Mützen umher – ein Anblick wie in einer Großküche. Nur dass Gissinger nicht für die Öffentlichkeit kocht, sondern für Angestellte: Er leitet das Betriebsrestaurant der Unternehmensgruppe Fischer im Nordschwarzwald.
Der Dübel-Hersteller ist ein mittelständischer Betrieb, wie er im Buche steht: hoch spezialisiert, 864 Millionen Euro Jahresumsatz, 5.200 Mitarbeiter weltweit. Am Firmensitz in Waldachtal arbeiten 1.300 Angestellte. Sie alle wollen bei Laune gehalten werden. In Zeiten des Fachkräftemangels ist gutes Personal rar, gerade, wenn der Betrieb nicht in der Großstadt, sondern auf dem Land liegt.
„Wir müssen uns attraktiv positionieren", sagt Marc-Sven Mengis, der Vorsitzende der Geschäftsführung. „Anders geht es in der heutigen Zeit gar nicht." Neben einem Fitnessstudio mit eigenen Trainern umgarnt die Firma ihr Personal deshalb seit Langem mit einem eigenen Betriebsrestaurant – das Wort „Kantine" nimmt bei Fischer niemand in den Mund. „Wir sehen das Restaurant als eine Form von Wertschätzung", sagt Mengis. „Außerdem erbringen zufriedene Mitarbeiter ein besseres Ergebnis."
Mit dieser Einstellung ist Mengis nicht allein. In Zeiten, in denen um gute Fachkräfte gerungen wird, erlebt die lange totgeglaubte Kantine plötzlich eine Wiedergeburt. Und die lassen sich viele Unternehmen einiges kosten. Beispiel Fischer: Die Mitarbeiter des Dübel-Herstellers haben jeden Tag die Wahl zwischen fünf Tagesgerichten, zwei Suppen, einem Salat-Büfett und mehreren Desserts.
Zwischen 2,65 Euro („Lieblingsgericht") und 3,90 Euro („All you can eat") zahlen die Mitarbeiter aus eigener Tasche. Die Firma bezuschusst jedes Essen mit einem Betrag zwischen zwölf und 16 Euro; Personal-, Energie- und Raumkosten inklusive. „An unserem Standort in Horb war das Angebot so beliebt, dass andere Firmen das Restaurant mitnutzen wollten", erzählt Mengis. Das habe leider nicht funktioniert, weil der Andrang zu groß gewesen sei. „Wir müssen in erster Linie an unsere eigenen Mitarbeiter denken."
Der Wirtschaftsverband Industrieller Unternehmen Baden (WVIB) sieht ebenfalls einen Trend zur Kantine. „Unsere Unternehmen beschäftigen sich in vielfältiger Weise damit, wie sie ihren Mitarbeitern ein produktives Arbeitsumfeld ermöglichen können", sagt WVIB-Hauptgeschäftsführer Christoph Münzer. Das Spektrum reiche von eigenen Kantinen über Essenszuschüsse bis hin zum Sternekoch. Dabei spiele aber auch die Firmengröße eine Rolle: „In vielen Unternehmen lohnt sich das nicht, da das Unternehmen zu klein oder die heimische Küche zu nah ist." Genaue Zahlen liegen dem Verband nach eigenen Angaben nicht vor.
Der Messtechnik-Hersteller Vega hat bereits 1996 ein eigenes Betriebsrestaurant eröffnet. Am Stammsitz in Schiltach nutzt etwa die Hälfte der 750 Angestellten das Angebot. „Die Qualität ist so exzellent, dass auch die Geschäftsleitung mit Gästen dort speist", schwärmt Personalchef Timo Hodapp. „Unseren Koch haben wir von einem renommierten Betrieb abgeworben. Er achtet darauf, regionale Lebensmittel zu verwenden und hat sogar einen eigenen Forellenteich."
„All you can eat" – für 3,90 Euro
Drei Gerichte stehen jeden Tag zur Auswahl, aufgeteilt in Salat sowie eine vegetarische und eine nicht-vegetarische Variante. „Wer besonders großen Hunger hat, bekommt einen kostenlosen Nachschlag", sagt Hodapp. Etwa 50 Prozent zahle das Unternehmen zu jedem Gericht zu, berichtet der Personalchef. „Viele Firmen kommen auf die Idee, dass sie etwas tun müssen, um gute Leute zu halten."
Bei Vega ist das Betriebsrestaurant aktuell in einem winterfesten Zelt untergebracht. Es soll noch einmal erweitert und ab 2021 in einem neuen Gebäude untergebracht werden, inklusive Lounge mit Blick über Schiltach. „Wir wollen unsere Angebote noch erweitern", so Hodapp.
Wie verbreitet diese Philosophie momentan schon ist, lässt sich mit Zahlen allerdings nicht festmachen. Zwar existiert eine Statistik, die landesweit die Zahl der Gastronomie-Betriebe auflistet. Wie viele davon Kantinen sind, lässt sich aber nicht sagen. Eine Studie aus dem Jahr 2011 schätzt die Zahl der Betriebsrestaurants in Deutschland auf 13.800. Erfasst wurden dabei aber nur Betriebe mit mindestens 100 Mitarbeitern. Auch existieren höchst unterschiedliche Modelle: Manche Firmen betrieben ihre Kantinen selbst, andere lassen sich Essen liefern oder engagieren Catering-Firmen.
Unabhängig von den reinen Zahlen weist der Gaststättenverband Dehoga aber auf einen interessanten Widerspruch hin: Demnach wissen sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer eine gesunde, zunehmend vegetarische und regional produzierte Verpflegung zu schätzen. Zu viel kosten dürfe diese aber nicht. „Trotz steigender Ansprüche zeigen sich die Gäste der Betriebsrestaurants sehr preissensibel", heißt es vonseiten der Dehoga. „Das Mittagessen am Arbeitsplatz darf nicht so viel kosten wie das Abendessen mit dem Partner im Restaurant."
Auch die Arbeitgeber sind offenbar nicht immer so engagiert, wie sie nach außen hin vorgeben: „Häufig zahlen Firmen Zuschüsse für die Bewirtung der Mitarbeiter, wenn auch zum Teil nicht mehr so hohe wie früher", erklärt der Verband. Und kritisiert: „Allen Entscheidern sollte klar sein, dass eine attraktive Betriebsgastronomie als Teil einer guten Unternehmenskultur wahrgenommen wird und ein Instrument der Mitarbeitermotivation ist." Ein eindeutiger Appell für mehr Engagement.
Zurück im Schwarzwald. Beim Dübel-Hersteller Fischer hat sich um 12.30 Uhr eine kleine Schlange am Büfett gebildet. Bernhard Störzer (51) entscheidet sich für Spätzle mit Kasseler. „Schmeckt einwandfrei", meint der Elektriker, der jeden Mittag im Betriebsrestaurant isst. „Ich wechsle immer durch mit den Gerichten, manchmal nehme ich auch nur Gemüse." Besonders gefällt ihm das Preis-Leistungs-Verhältnis: „Ich habe schon viele Kantinen gesehen. Das hier ist was Besonderes."
Auch Anna Dörich, eine Außendienst-Mitarbeiterin, ist zufrieden. „Ich nehme jedes Mal Salat und ein Fleischstück dazu", sagt die 27-Jährige. Sobald sie einmal am Stammsitz in Waldachtal sei, gehe sie im Betriebsrestaurant essen. Warum? „Weil’s ausgewogen ist und schmeckt", meint sie und schaut Richtung Essensausgabe. „Bei der Currywurst ist die Schlange immer am längsten."