Vor 50 Jahren wurde in den USA die Sesamstraße geboren. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Fernsehserien für Kinder im Vorschulalter. In Deutschland wird sie seit 1973 regelmäßig ausgestrahlt und erfreut sich hierzulande nach wie vor großer Beliebtheit.
Mama, Papa, wo liegt eigentlich die Sesamstraße?" Lange konnten Eltern auf diese Frage ihres Nachwuchses bloß herumdrucksen. Doch seit diesem Jahr hat die fiktive Sesamstraße in New York an der Kreuzung von Broadway und 63. Straße eine reale Heimstätte bekommen. Anfang Mai hatte Bürgermeister Bill de Blasio das neue Straßenschild für die „Sesame Street" – so der Originaltitel der Kinderserie – zu deren 50. Geburtstag feierlich enthüllt. Bereits vor zehn Jahren, zum 40-jährigen Jubiläum, war in New York eine Kreuzung vorübergehend in Sesame Street umbenannt worden, doch nun ist die neue Namensgebung dauerhaft angelegt. Zwar wird die Serie an dieser Stelle nicht gedreht, doch ganz in der Nähe hat die gemeinnützige Organisation Sesame Workshop ihr Hauptquartier, die seit 1969 die Sendung produziert. Am 10. November 1969 wurde die erste Ausgabe ausgestrahlt. Gut drei Jahre später, am 8. Januar 1973, folgte die erste deutsche Episode.
Bis heute ist die Sesamstraße eine der erfolgreichsten Fernsehserien für Kinder im Vorschulalter und außerdem die am längsten laufende. Die bekannte Mischung aus Puppendialogen, Trick- und Realfilmen sowie Kinderliedern ist mittlerweile in mehr als 140 Ländern im Fernsehen zu sehen und wurde in den USA bereits mit mehr als 100 Emmys ausgezeichnet. Unter anderem bekam die Kindersendung 2009 von der US-Fernsehakademie einen Emmy als weltweit höchstgeschätzte und meistgesehene TV-Bildungsshow für Kinder verliehen.
„Am Anfang war es wie der Flug auf einem Zauberteppich", erinnert sich der Schauspieler Bob McGrath an den Start 1969, der in der ersten US-Folge mitgespielt hat. Zunächst sei die Sesamstraße ein „ganz außerordentliches Experiment" gewesen, sagte McGrath. Niemand hätte damals geahnt, dass die Sendung eine solche Wirkung erzielen würde.
In mehr als 140 Ländern zu sehen
Dabei steckte hinter dem Erfolg durchaus System. 1968 hatte in den USA ein Team aus Psychologen, Erziehungswissenschaftlern und TV-Produzenten damit begonnen, eine TV-Serie für Kinder zu entwerfen, die sich das Fernsehverhalten der Jüngsten zunutze machte. Die Experten untersuchten, was Kinder besonders fasziniert und entwickelten auf dieser Grundlage das Konzept für die Sesamstraße. „So entstand eine Sendung, die in Look und Rasanz locker mit der knallbunten Werbewelt mithalten konnte", wie es in einem Artikel auf „Spiegel Online" zu lesen war. „Nur, dass die Kids eben nicht lernten, wie fantastisch Pepsi schmeckt, sondern wie man zählt, buchstabiert oder Freundschaften schließt." Für Peter Zander von der „Berliner Morgenpost" war das „die Geburt der Pädagogik aus dem Geist der Reklame".
Die Zielgruppe waren vor allem Kinder aus unterprivilegierten Bevölkerungsschichten. Man wollte sie bereits im Vorschulalter fördern und nutzte dafür das ihnen gut vertraute Medium Fernsehen. Die gesamte Aufmachung war so konzipiert, dass sich die Kinder aus sozial schwächeren Haushalten darin wiederfinden. So erklärt sich die Hinterhofkulisse der originalen „Sesame Street" mit dampfenden Gullys und den scheppernden Abfalleimern, in denen der missmutige Oscar haust. Auch die Charaktere waren zum Teil Menschen mit dunkler Hautfarbe und Afrofrisur – zu dieser Zeit noch eine absolute Rarität im amerikanischen Fernsehen, erst recht im Kinderprogramm.
Für Peter Zander basierte der Erfolg der Sesamstraße im Wesentlichen auf drei Dingen. Neben der Übernahme der klassischen Werbe-Elemente spielten vor allem die Musik und die Lieder eine wichtige Rolle. Songs wie „Mah Nà Mah Nà" (im Original übrigens einst für einen Pornofim komponiert), „Hätt’ ich dich heut’ erwartet, hätt’ ich Kuchen da", „Quietscheentchen mit Ernie" oder der von Ingfried Hoffmann erschaffene und seit 2012 von Lena Meyer-Landrut gesungene Titelsong „Der, die, das" gehören längst zum Standard-Liedgut. „Die Titelmelodie kann jeder mitsingen, der sonst bei der Nationalhymne oder Weihnachtsliedern passen muss", betont Zander in seiner Analyse.
Ebenso wichtig seien jedoch die Puppen: „Wir kannten bislang nur Marionetten. Wie bei der Augsburger Puppenkiste, wo man vor lauter Fäden manchmal die Figuren nicht sah. Oder eben Kasperlefiguren. Die Kreationen von Jim Henson aber waren keine Puppets, sondern Muppets: große Figuren, die nicht mit der Hand gespielt wurden, sondern in die man förmlich hineinkriechen musste. Diese Puppen brauchten keine Bühne mehr, sie konnten im realen Raum mit echten Menschen auftreten. Und machten den Traum eines jeden Kindes wahr – dass die Puppen scheinbar zum wirklichen Leben erwachten."
Zu den populärsten Charakteren aus der Sesamstraße gehören sicherlich Ernie und Bert, Kermit der Frosch, Grobi (im Original Grover), das Krümelmonster, Oscar aus der Mülltonne sowie Bibo, der in Amerika Big Bird heißt. Tiffy, Samson und Finchen gibt es dagegen nur in der deutschen Version.
1971 hatten der Norddeutsche Rundfunk (NDR) sowie der Westdeutsche (WDR) und der Hessische Rundfunk (HR) zunächst testweise einige der Originalfolgen aus den USA gezeigt, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurden. Ab Anfang 1973 wurde die Sesamstraße in einer synchronisierten Fassung dann regelmäßig ausgestrahlt – 250 Folgen bis Ende 1975. Neu daran war, dass eine Kindersendung mehrmals in der Woche und zudem zweimal am Tag lief. Dabei stammten nur einige wenige Einzelbeiträge aus deutscher Produktion. Die Rahmenhandlung sowie die meisten Kurzbeiträge entsprachen bis dahin noch durchweg dem amerikanischen Original. Der Bayerische Rundfunk (BR) weigerte sich deshalb zunächst, die Sesamstraße zu senden, weil der Sender die soziale Situation hierzulande falsch dargestellt sah. Für Fernsehdirektor Helmut Oeller gab es in Deutschland schlichtweg keine unterprivilegierten Kinder, auch „in der Sendung auftretende Neger" seien nicht akzeptabel – er sprach von „pädagogischer Infamie". Harald Hohenacker, Leiter der Projektgruppe Erziehungswissenschaft und musische Programme beim BR, attestierte der Sendung ebenfalls „unerträgliche Inhalte und Haltungen".
BR verweigerte die Ausstrahlung
1978 wurden dann das erste Mal eigene deutsche Folgen produziert, in denen von nun an zwei Menschen – in der ersten Staffel waren das Henning Venske und Liselotte Pulver – und zwei Puppen als Hauptdarsteller agierten und für die Rahmenhandlung sorgten. Anstelle der Ghetto-Ästhetik rückte eine aufgeräumte Wohnküche – mit dem frechen US-Original hatte diese weichgespülte Version somit nicht mehr viel zu tun. Dem Erfolg der Kindersendung hat das jedoch nicht geschadet. Die Sesamstraße wurde in vielen Haushalten mit Kindern zur liebgewonnenen Tradition. Als einmal wegen der Übertragung einer Bundestagsdebatte eine Folge ausgesetzt wurde, hagelte es prompt Proteste.
Studien in den USA haben gezeigt, dass Kinder, die regelmäßig die Sesamstraße schauen, in Vorschultests erfolgreicher abschneiden und später auch in der Schule bessere Ergebnisse erzielen. Das haben Wissenschaftler der Universität Maryland sowie des Wellesley Colleges herausgefunden. Demnach profitieren besonders Jungen sowie Kinder aus afroamerikanischen Familien oder sozialen Brennpunkten von der Fernsehsendung. Neben der Hilfestellung beim Rechnen und Schreiben hat die Sesamstraße die Kinder schon immer auch spielerisch an gesellschaftliche Probleme oder bestimmte Krankheiten herangeführt. So gibt es in der amerikanischen Ausgabe seit Kurzem die Puppe Karli mit einer drogensüchtigen Mutter, die Kindern das Thema Drogenmissbrauch begreiflicher machen soll; dort gibt es außerdem die Figur der Julia mit Autismus. In der südafrikanischen Version findet sich der HIV-positive Charakter Kami.
Sesamstraße-Redakteurin Birgit Ponten sagte im Deutschlandfunk Kultur: „Für uns als Redakteure ist natürlich wichtig, dass man sozusagen in der Zeit bleibt, dass man guckt, was die Themen sind. Früher waren das Buchstaben und Zahlen. Heute sind das ganz andere Themen, soziale Themen. Wie geht man miteinander um? Was fange ich mit Träumen an? Wovor habe ich Angst oder wie überwinde ich meine Angst und kann mutig sein? Und da müssen wir natürlich immer gucken, was in der Gesellschaft los ist und welche Themen wir da aufgreifen können, die wirklich nah an den Kindern dranbleiben."