Das Internet feiert in diesen Tagen seinen 50. Geburtstag. Inzwischen steckt es in einer Midlife-Crisis. Es ist trotz allem immer noch das Beste, was der Demokratie passieren kann, sagt Social-Media-Kritiker Linus Neumann vom Chaos Computer Club.
Wenn IT-Spezialist Linus Neumann von den Anfängen des Personal Computers und dem Start ins Internet-Zeitalter spricht, ist noch immer etwas von der euphorischen Aufbruchstimmung zu spüren, die mit der Computerrevolution einherging. So etwas hatte es noch nie gegeben: Mit Apple I und Apple II, Commodore PET und Tandy TRS zogen ab Mitte der 70er-Jahre Maschinen in Privathaushalte ein, die nicht für einen bestimmten Zweck ausgelegt waren, die sich vielmehr von ihren Nutzern programmieren – also auf bestimmte Funktionen trimmen – ließen. Technikbegeisterte Freaks an der US-Westküste hatten die Entwicklung vorangetrieben, anfangs gegen den Widerstand der Skeptiker in den Chefetagen der Büromaschinenhersteller wie IBM. Dort hatte man es noch wenige Jahre vor Markteinführung des PC vehement bezweifelt, dass Privatpersonen Interesse an solchen Geräten haben könnten. Für die Pioniere der Heimcomputerszene war es selbstverständlich, nicht nur die mitgelieferte Spielesoftware zu nutzen, sondern mithilfe der Programmiersprache Basic selbst Programme für ihre Rechenmaschine zu schreiben.
Wer braucht schon einen Heimcomputer, hieß es
Richtig spannend wurde es aber, als man die Heimcomputer Anfang der 90er dazu brachte, miteinander zu telefonieren. Computerfreaks in aller Welt vernetzten sich. Das Internet war geboren und damit entstand eine ganz neue Art von globaler Öffentlichkeit, schwärmt Linus Neumann. Der 36-jährige IT-Spezialist war noch nicht geboren, als die Computerrevolution ins Rollen kam. Und er war noch ein kleiner Junge, als das World Wide Web Gestalt annahm. Doch diese Epoche hat ihn geprägt. Die Idee der Internet-Öffentlichkeit fasziniert ihn bis heute. „Öffentlichkeit ist neben Legislative, Judikative und Exekutive die vierte Instanz einer Demokratie und hat eine wichtige Kontrollfunktion", so Neumann bei seinem Vortrag in der Schwarzkopf-Stiftung in Berlin. Denn nur, wenn Fakten und das Handeln der Regierenden öffentlich werden, könne sich jeder und jede eine Meinung darüber bilden und auf Grundlage dieser Informationen kompetente Wahlentscheidungen treffen. Bevor das Internet-Zeitalter anbrach, hatten die klassischen Medien – Rundfunk, Zeitungen und Magazine – diese Rolle inne. Die aber hätten ihren Job nicht gut genug gemacht – so zumindest sieht es der Hacker: „Im Kapitalismus kauft irgendwann ein Verlag den anderen und es kommt zu einer unguten Konzentration der Macht." Neumann führt den Axel-Springer-Verlag ins Feld, der in der Bundesrepublik lange Zeit maßgeblich entscheiden konnte, über welche politischen Sachverhalte die breite Öffentlichkeit informiert wurde – und über welche nicht. Dieses Zurückhalten von Information komme der Zensur gleich und sei immer schlecht für die Demokratie, ereifert sich der Hacker. Das Internet habe die Macht der etablierten Medien gebrochen, weil sich plötzlich eine Vielzahl von Informationskanälen öffnete. „Das ist die Demokratisierung des Zugangs zu Wissen gewesen", so Neumann. „Und die ist immer gut, ist immer richtig", so sein Credo. „Wir haben dafür gesorgt, dass sich Menschen über Grenzen und Kontinente hinweg austauschen und aufeinander zugehen können."
Wenn Neumann „wir" sagt, dann meint er die Gründer des Chaos Computer Clubs (CCC), eine Vereinigung von Hackern, der auch er angehört und deren Sprecher er ist. Schon 1984 hatte sich der CCC, gestützt auf Steven Levys Buch „Hackers. Heroes of the Computer Revolution" (deutsch: Hacker – die Helden der Computerrevolution) eine Ethik gegeben, die Neumann noch immer für großartig hält. Zu den Leitideen gehört die Forderung, dass Informationen im weltumspannenden Netz für jeden uneingeschränkt und kostenlos zugänglich sein müssen, und dass der freie Informationsfluss dazu dienen soll, Autoritäten zu schwächen und Dezentralisierung zu fördern. Als „eine nie dagewesene Ermächtigung des Individuums" führt Neumann Wikipedia ins Feld. Mit dieser Enzyklopädie, die von vielen geschrieben wird, habe man den Autoritäten sogar das Schreiben von Menschheitsgeschichte entrissen und in die Hände einer globalen Community gelegt.
Öfter mal Facebook abschalten
Mit dem Arabischen Frühling, der 2010 mit Aufständen in Tunesien begann, sei für die Visionäre des World Wide Web ein Traum wahr geworden, sagt Neumann – eine friedliche Revolution, ein politischer Umsturz mithilfe von Facebook, Twitter und Instagram. Die Hoffnungen haben sich aber nicht erfüllt, die Umbrüche in der arabischen Welt hätten – mit wenigen Ausnahmen –
nicht zu mehr Demokratie geführt. Im Gegenteil: Die Enttäuschungen auf der politischen Weltbühne gehen mit einer Krise der Internet-Idee einher. „Wir haben uns die Beherrschung der Rechner von einem Konzern aus der Hand nehmen lassen", klagt der Hacker. Unser Zugang zur Welt ist heute „ein leuchtendes Brett, das keiner mehr versteht", das User, selbst IT-Spezialisten, nicht mehr programmieren können. Noch schwerer wiege, dass sich Milliarden Internet-Nutzer weltweit derzeit von einem einzigen „Sender" ködern und zum Produkt degradieren lassen. „Facebook macht Milliarden damit, dass es unser Internetverhalten und unsere Äußerungen minutiös aufzeichnet und unsere Profile an zahlende Kunden verkauft, an Konzerne, die uns dann gezielt mit ihrer Werbung zumüllen."
Für Neumann war das Internet der frühen Jahre noch vergleichbar mit einem Dorfplatz im antiken Griechenland – „einem Platz, der allen gehörte, auf dem über gesellschaftliche Belange diskutiert und demokratisch abgestimmt wurde – mit Facebook haben wir diesen Dorfplatz gegen eine Shoppingmall eingetauscht." Facebook diktiere die Hausregeln und schüre gleichzeitig unsere Konsumwünsche. Zum Geschäftsmodell der Social-Media-Plattform gehöre es, Nutzer und Nutzerinnen tagtäglich möglichst lange bei der Stange zu halten, mit maßgeschneiderten, emotional berührenden Messages und Nachrichten, die unsere Denkmuster bestätigen und um Aufmerksamkeit zu erheischen. „Das ist die eigentliche Gefahr für die Demokratie." Indem Nutzer die vorgesetzten Info-Häppchen konsumierten, trainiere ihnen das soziale Netzwerk ab, sich mit komplexen und politisch relevanten Themen zu befassen. Dafür bleibe schlichtweg keine Zeit. Kurz gesagt, während wir uns mit Katzenvideos und belanglosen Posts beschäftigen, ziehen Cum-Ex-Geschäfte, Parteispendenskandale und andere politische Missstände fast unbemerkt an uns vorbei. Das Fazit des Hackers: „Wir müssen das Geschäftsmodell, das unsere Aufmerksamkeit bindet, eindämmen." Seinen Zuhörern riet er, öfter facebook- und instagramfreie Tage einzulegen und öfter mal das Netz gezielt nach Informationen zu durchsuchen, die das eigene Weltbild infrage stellen. Demokratie lebe vom Austausch mit Andersdenkenden, vom Faktensammeln, vom Ringen um beste Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen. Die Uhr zurückdrehen – das möchte der Mann vom CCC auf keinen Fall. „Früher war gar nichts besser. Mit dem Internet sind wir noch immer auf dem richtigen Weg – das Wissen der Welt ist so zugänglich wie nie zuvor. Wir müssen nur Gebrauch davon machen."