Die Landtagswahlen im Osten waren ein Dämpfer für den Hype um die Grünen. Das bedeutet Klärungsbedarf auf dem bevorstehenden Parteitag in Bielefeld.
Deutschlands Umfragekönig Manfred Güllner wundern die letzten Landtagswahlergebnisse der Grünen überhaupt nicht. „Natürlich wollen alle Menschen sich gesünder ernähren und die Umwelt schonen, aber das darf zu keinen persönlichen Einschränkungen führen. Wo kämen wir denn da hin?", lacht der Forsa-Chef. Seit Jahren ruft er bei den Verbrauchern immer wieder die Meinung zum Umweltschutz ab. Demnach besteht Deutschland beinahe nur aus Umweltfreaks. Aber eben nur in den Umfragen. Konkret an der Wahlurne sieht es anders aus. In Brandenburg, Sachsen und jüngst in Thüringen mussten das die Grünen schmerzlich zur Kenntnis nehmen. Auch 2019 scheint der Mensch weiterhin nach der Brecht’schen-Formel zu leben: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." Umweltschutz ist toll, allerdings nur, wenn sich am eigenen Leben nichts verändert, und vor allem, wenn nichts teurer wird.
Nun wurde in den jüngsten Wahlanalysen immer wieder auf die Besonderheiten des Ostens hingewiesen, auch mit Blick auf die Grünen, die sich dort traditionell schwertun. Sie stehen in erster Linie für städtische Klientelpolitik und haben damit bei ihrer Kernzielgruppe Erfolg. Union und SPD hätten gern solche Erfolge in den Städten und Ballungsräumen. Bei der Brandenburg-Wahl im Speckgürtel von Berlin oder in Sachsen, im Raum Leipzig und Dresden, verzeichnen die Grüne Zuwächse. Doch in den ländlichen Räumen ist ihr Erfolg eher begrenzt. Egal ob in Ost oder West. Den Menschen in Wismar, Bautzen, Gera, Suhl, aber auch in Delmenhorst, Greven oder Bingen nützt die ÖPNV-Empfehlung der Grünen wenig angesichts des Angebots. Ökostrom, der von den Grünen-Wählern gern bestellt wird, kommt in den städtischen Wohn-Domizilen an. Doch die Produktionsanlagen dafür, die Windräder, stehen auf dem Land und produzieren unter erheblichem Brummen die Energie, aus denen die grünen Träume einer umweltgerechten Welt sind. Obendrein wurden Tausende Hektar mit Sonnenkollektoren zugestellt, die Landschaft hat sich in den vergangenen 20 Jahren erheblich verändert. Wenn dann die Grünen noch weitere Flächen für die Produktion von Ökostrom fordern, dann formiert sich Widerstand. Das gilt nicht nur für die erneuerbaren Energien, sondern auch für die Landwirtschaft. Die Forderung der Grünen, unter anderem den Einsatz von Glyphosat sofort zu verbieten, sorgte im Oktober bei Landwirten bundesweit für einen wahren Proteststurm. Nach Extinction Rebellion kam die „Bauern-Rebellion" gegen die Pläne zum Insektenschutz, eine klare Kampfansage an die Grünen.
„Nicht alles, was nach Öko klingt, bedeutet auch gleichzeitig Klima, und Umweltschutz und macht Sinn", brachte es der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Joachim Rukwied, schon vor einem halben Jahr im FORUM-Interview auf den Punkt. Der 58-jährige Bauer aus Heilbronn im Württembergischen versteht sich selbst als Öko und liegt mit seinem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann bei Klima- und Umweltschutz auf einer Linie. Natur und Umweltschutz: gut und schön. Aber es geht auch um Arbeitsplätze, internationale Konkurrenzfähigkeit und vor allem die Menschen. „Diesen darf man bei allem Engagement für die Umwelt nicht zu viel zumuten". Baden-Württembergs Ministerpräsident ist für die „fundamental ökologische Parteitagsbasis" der Grünen zu einem wahren Horror geworden. Unvergessen sein Wutanfall beim Bundesparteitag der Grünen im Sommer 2017 in Berlin. Bundestags-Fraktionschef Anton Hofreiter verkündete das Ende des Verbrennungsmotors in Deutschland bis zum Jahr 2030, und Kretschmann verlor die Fassung. „Wie soll das funktionieren? Ihr habt keine Ahnung! Dann seid aber auch mit sechs oder acht Prozent einfach zufrieden." Weise Voraussicht, zwei Jahre vor diesem Wahl-Spätsommer im Osten Deutschlands.
Boris Palmer sorgt für Sprengstoff
Auf dem bevorstehenden Parteitag vom 15. bis zum 17. November von Bündnis90/Die Grünen sind vom kantigen Ministerpräsidenten aus Baden-Württemberg ähnliche Attacken zu erwarten, aber nicht nur von ihm. Denn die größtenteils gut verdienenden Delegierten auf dem Parteitag finden Umweltschutz schon wichtig, aber alles in Maßen. Flugscham ist da schon etwas übertrieben, irgendwie muss man ja nach Andorra kommen, da fährt schließlich auch keine U-Bahn hin. Ganz abgesehen davon, dass Peleponnes nun mal nicht in zwei Wochen mit dem Katamaran zu erreichen ist. Und Apfelsinen, Kiwis und Bananen gehören genauso zu unserer Gesellschaft wie die Tiefkühlkost in allen Variationen. Auch wenn der ökologische Fußabdruck dafür nicht wirklich mit der grünen Seele vereinbar ist. Aber schließlich zahlt man ja dafür ab 2021 eine CO2-Abgabe. Zur Steuer hat es ja nicht gereicht.
Hier ist das letzte Wort des Bundesrates eigentlich noch nicht gesprochen. Das Klimapaket, das derzeit im Bundestag beraten und auch beschlossen werden wird, muss ja noch durch die Länderkammer. Dort könnten die Grünen politisch noch mal richtig zulangen und Front machen gegen das für ihre Begriffe unzulängliche Klimapaket der Bundesregierung. Aber das bleibt wohl eher aus, wie die Bundesratssitzung Anfang November zeigte. Zwar sitzen derzeit die Grünen in neun Bundesländern mit am Kabinettstisch und könnten im Bundesrat eine Mehrheit gegen das Klimapaket organisieren, aber das ist keineswegs sicher. Schuld ist – Winfried Kretschmann. Der macht eine Totalblockade des Klimapakets nicht mit. „Lieber kleine Schritte als gar keine." Doch das ist nur die eine Seite der Medaille, die andere ist eine mögliche Regierungsbeteiligung im Bund: Jamaika Reloaded. Was am 21. November 2017 morgens um halb eins mit den Worten: „Lieber gar nicht als falsch regieren" politisch von FDP-Chef Christian Lindner beerdigt wurde, könnte kurz vor Weihnachten 2019 wieder auferstehen.
Die Grünen stimmten im Oktober im Bundestag bereitwillig der Grundgesetzänderung für die Grundsteuerreform zu. Das vorgelegte Gesetz war zwar nicht so ihr Ding, trotzdem machten sie mit. Vorauseilender Gehorsam? Für die Zweidrittelmehrheit hätten die Stimmen der FDP allemal gereicht, aber die Grünen wollten offenbar unbedingt dabei sein. Schließlich weiß niemand, wie lang die große Koalition im Bund noch hält, gerade nach dem Wahldesaster von CDU und SPD in Thüringen. Da wollte die Grünen-Bundestagsfraktion offenbar schon mal ein positives Signal aussenden.
Schließlich ist der Weg der SPD derzeit noch unklar, erst recht, wenn sich das Duo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken für die Doppelspitze durchsetzen sollte. Beide finden Groko doof. Auf dem SPD-Bundesparteitag am ersten Dezember-Wochenende steht auch die Zukunft der großen Koalition zur Debatte.
Dann wären wieder die Grünen − und die FDP − gefragt. Ginge es nach Cem Özdemir, wäre die Richtung klar. Aber dessen Einfluss ist seit der verpatzten Wahl zum Fraktionsvorstand gestutzt. Und beim Rest gibt es noch kein einheitliches Meinungsbild. Damit geht es auf dem anstehenden Bundesparteitag der Grünen um die Regierungsfähigkeit ihrer Partei. Das würde heißen, zukünftig Umwelt- und Klimapolitik für alle zu machen: für die Stadtmenschen, für die ländlichen Räume, für Arbeitsplätze, für die Wirtschaft, für soziale Gerechtigkeit, Tier- und Insektenschutz und die Bauern.
In den Forsa-Umfragen von Manfred Güllner liegt übrigens ein Themenfeld bei den Wählern nach wie vor ziemlich weit vorn: Flüchtlinge, Migration und Integration. Eine Fragestellung, der sich die Grünen-Führung um Annalena Baerbock und Robert Habeck nur ungern stellen und die für den Bundesparteitag zum politischen Sprengsatz werden könnte. Denn da gibt es ja noch die nicht zu unterschätzende Fraktion um den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Willkommen im wahren Leben.