Wattenmeer und bunte Klippen, grünes Marschland, stolze Schlösser, bröckelige Burgen, Vogel- und Robbenkolonien prägen Norfolk, die Grafschaft an der englischen Nordseeküste. Der Höhepunkt des Jahres wird in Congham zelebriert: bei der jährlichen Weltmeisterschaft im Schneckenrennen.
Da fährt man ans Meer, und dann ist es gar nicht da. Stattdessen eine nasse Fläche, auf der die Sonnenstrahlen glitzern. Wunderbar! Man kann der Nordsee gar nicht übelnehmen, dass sie weggelaufen ist. Hunstanton hat so viel schönes Wetter, dass es die Briten „Sunny Hunny" nennen. Es soll der einzige Ort an der englischen Ostküste sein, wo man die Sonne über dem Meer untergehen sehen kann.Doch auch das Tageslicht ist hier, wie man gerade sieht, nicht zu verachten. Es empfiehlt sich ein Spaziergang durch flache Pfützen und über feuchten, festen Sand. Zwei Möwen kommen mit. Dahinter liegt der Strand des kleinen Badeortes. Seine hübschesten Gebäude sind der alte Leuchtturm und The Golden Lion, 1848 als „Hotel Royal" errichtet.
Entspannte Unbesorgtheit
Ein Steinwurf neben dem flachen, viktorianischen Bauwerk beginnt die eigentliche Sehenswürdigkeit des ehemaligen Fischerdorfes: die bunten Kalksteinklippen von Hunstanton. Mit ihren braunen, roten und weißen Schichten, die gleichmäßig breite Streifen bilden, sehen sie von Weitem aus wie ein riesiges Stück Schinkenspeck. Andere erinnern die Farben an Honig, weshalb sie glauben, der Ort könnte früher einmal „Honeystone" geheißen haben.
Ein Traktor fährt am Horizont durchs Meer, im Schlepptau einen Jetski. Auf halber Strecke gräbt jemand den Meeresboden um. Wohin man schaut: entspannte Unbesorgtheit. Die Möwen, noch immer an der Wanderung beteiligt, wissen scheinbar, was der Typ mit seiner Gabel tut, denn sie gehen direkt auf ihn zu. Ihr menschlicher Begleiter folgt – und lernt Andrew kennen.
Der Hobbyfischer buddelt nach Würmern, die er als Angelköder mit nach Hause nehmen will. „Wenn man früh genug kommt, sind sie noch nicht tief", weiß er, holt ein dickes Ringeltier nach dem anderen aus dem Schlamm und wirft sie in ein leeres Gurkenglas. Am nächsten Morgen will er damit Barsche fangen. „Die stürzen sich auf alles, was zappelt", verrät Andrew. Kaum zu glauben, dass sich hier irgendetwas schnell bewegt.
Mit scharfen Augen verfolgen die verfressenen Vögel jeden Handgriff des Mannes. Als genügend Würmer in seinem Glase wimmeln, spendiert er jedem einen. Als Vorschusslohn gewissermaßen. Denn ohne Möwenschwärme, denen er mit seinem Kutter folgt, würde Andrew weder Barsche noch Makrelen finden.
Als er am Tag darauf mit seinem Kutter in der Brancaster Bay in See sticht, wartet ein Stück weiter östlich, im Dörfchen Morston, ein anderes Boot auf Gäste.
Naturschutzgebiet rund um Blakeney Point
Ziel der Ausflugsfahrt ist das Naturschutzgebiet rund um die Landzunge Blakeney Point. Über sechs Kilometer streckt sie sich parallel zur Küste in die Nordsee. Direkt daneben liegt das ausgedehnte Watt- und Marschland der Cley Marshes. Vorbei an Äckern und herrlich grünen Salzwiesen, hier von essbarem Meerfenchel gelb gefärbt, dort von lila Schatten des Strandflieders bedeckt, führt die Route um die große Sand- und Kiesbank.
Bewohnt ist das Gebiet schon lange nicht mehr. Die einzigen Menschen, die hier zuweilen leben, sind die Ranger. Ihr Sommerquartier ist das blaue Lifeboat House, zugleich Besucherzentrum. Die letzten Reste eines alten Klosters sind längst im Moor versunken. Die Hafenbecken, die sie einst schützte, verschwanden ab dem 17. Jahrhundert, indem man sie zu Weideland und Feldern machte – und unabsichtlich ebenso zum Schlaraffenland von Vögeln und Robben.
Der Seewind bläst die Wolken hin und her. Zwischen ihnen blitzt der strahlend blaue Himmel. Tapfer hält das Bötchen Kurs und reitet über weißbemützte Wellenhügel. Da! Nach einer Düne, ganz am Zipfel Blakeney Points: Seehunde und Kegelrobben. Je nach Art, Geschlecht und Alter sind ihre Felle weiß bis grau und braun. Manche sind fast schwarz und alle irgendwie gefleckt. Allein an dieser Stelle sind es an die hundert Tiere. Wie nasse, prall gefüllte Säcke liegen sie herum. Nicht einer rührt sich. „In der Ruhe liegt die Kraft", meint Blake, der Skipper. Selbst als das Boot ganz nah vorüber schaukelt, bewegen sich – vereinzelt nur – die Wimpern. Immerhin schenkt den Passagieren ein dicker Grunzer mit freundlich-rundem Schnurrbartgesicht einen Blick aus seinen großen schwarzen Augen.
Dass die gemischte Flossenträger-Wohngemeinschaft von Blakeney Point von Jahr zu Jahr mehr Mitbewohner zählt, liegt vor allem an den Kegelrobben. Mit bis zu 2,50 Meter Länge und 300 Kilo Gewicht sind sie doppelt so groß und schwer wie die Seehunde. Deren Zahl in Norfolk liegt seit zehn Jahren bei rund 3.000. Die der Kegelrobben ist im gleichen Zeitraum förmlich explodiert. Im letzten Winter wurden so viele geboren wie nie zuvor: 2.700 in Blakeney Point und 1.800 in Horsey Beach. Damit zählen die Norfolk-Kolonien zu den größten und am schnellsten wachsenden.
Warum es den Tieren in Norfolk so gut geht, ist für Skipper Blake sonnenklar: „An unserer abgeschiedenen Küste ticken die Uhren etwas langsamer. Wir haben jede Menge Platz, viel Fisch, und alles läuft ruhig und entspannt. Das scheint auch den Robben zu gefallen."
Nigel Croasdale sieht das ähnlich. Allerdings hat der Chef des Sea-Life-Centers in Hunstanton noch eine andere Vermutung. Eine Ursache für die rasante Vermehrung der sensiblen Nordseebewohner könnten seiner Meinung nach die neuen Windparks sein. „Überall, wo ein Windrad im Meer errichtet wird, entstehen künstliche kleine Inseln. Das sind günstige Lebensräume für Muscheln, Krabben, Fische und schließlich Robben. Denn die finden hier reichlich Nahrung und werden von niemandem bedroht", sagt Nigel.
Der gelernte Fischer und Fischereimanager ist seit seiner Kindheit mit der Tier- und Pflanzenwelt der Nordsee vertraut. Seit 1990 arbeitet er für Aquarien von Sea Life. 1995 übernahm er das in Hunstanton und wurde damit zugleich Chef einer Robben-Rettungsstation, die sich um verlassene, verletzte oder kranke Heuler kümmert.
„Früher waren unsere Patienten fast ausschließlich kleine Seehunde. Und da diese im Sommer zur Welt kommen, hatte das Rettungsteam meist nur bis zum Herbst zu tun. Kegelrobbenbabys werden im Winter geboren und brauchen auch dann unsere Hilfe. So sind wir mittlerweile das ganze Jahr beschäftigt", berichtet Nigel.
Robben-Rettungsstation
Viele Robbenkinder kann man retten, weil aufmerksame Menschen sie finden und der Rettungsstation melden. Oft sind sie tatsächlich hilfsbedürftig. Doch nicht selten ist gutgemeinte Sorge unbegründet. „Es ist ganz natürlich, dass eine Mutter ihr Junges bei der Nahrungssuche allein zurücklässt. Deshalb dürfen die Heuler auf keinen Fall mitgenommen werden", mahnt der Fachmann. Immer wieder komme es vor, dass jemand mit einem völlig gesunden Tier auf dem Arm vor dem Sea Life steht. Einmal habe jemand angerufen, der die vermeintlich verstoßene Robbe nach Hause geschleppt und in seine Badewanne gesetzt hatte, erzählt Nigel.
Noch weiteren außergewöhnlichen Haustieren kann man in Norfolk begegnen: Schnecken, die miteinander um die Wette rennen. Und zwar tun sie das nicht einfach nur aus Spaß, sondern bei einer richtigen Weltmeisterschaft, dem Snail Racing von Congham. Seit fast 60 Jahren ist das Dörfchen bei King’s Lynn, zwei Autostunden nördlich von London, Austragungsort des internationalen Vergleichs in dieser seltenen Disziplin. Etwa 240 Bewohner zählt die Gemeinde. Die Zahl der Sportschnecken, die hier leben, geht möglicherweise in den vierstelligen Bereich. „Jeder hier hat mehr als eine", weiß Hilary Scase, die 86-jährige Pressesprecherin des Events. Wie es zu dem ganzen Rummel kam und wann er angefangen hat, das hat sie längst vergessen. Aber wichtig sei das Rennen hier für alle. „Wer den Pokal gewinnt, der ist schon wer", sagt Hilary. Thomas Vincent etwa war neun, als seine Schnecke Schumacher siegte und er erklärte: „Nun habe ich mein Lebensziel erreicht."
Schon bevor der erste Startschuss fällt, ist der korrekt gestutzte Rasen auf Conghams Cricketfeld von Publikum gefüllt. Nicht nur das komplette Dorf ist an diesem Samstag auf den Beinen. Auch viele Weichtierfreunde aus der Umgebung sind erschienen. Besucher und Teilnehmer aus anderen Grafschaften werden bereits in der Kategorie „Von weiter weg" erfasst. Dazu rechnet man – mit und ohne Schnecken – auch die vielen internationalen Gäste: drei Chinesen und drei Deutsche, ein paar Schotten und ein Tscheche, der gerade zu Fuß durch ganz Europa wandert, sowie jemand von der Weihnachtsinsel.
Während Racing-Master Neil Riseborough und seine zauberhafte Assistentin die Wettkampfstätte vorbereiten, bilden sich an vielen Stellen Menschentrauben. Die Stars sind im Moment noch Herbie II, der Sieger vom vergangenen Jahr, sein Eigentümer Colin Voss und dessen Familie, zu der neben den Eltern auch zwei Kinder sowie zehn Gefleckte Weinbergschnecken (Helix aspersa) gehören.
Vielen Schnecken hat man bunte Tupfen oder Kringel auf das überwiegend braune Schneckenhaus gemalt – zur Verschönerung und besseren Erkennbarkeit. Zudem bekommt jeder Sprinter eine Nummer aufgeklebt. 135 sind es insgesamt. Die Arena ist ein runder Tisch. Darauf liegt ein weißes Tuch mit drei konzentrischen Kreisen. Der kleinste in der Mitte ist die Start-, der äußerste die Ziellinie. Ihr Abstand beträgt 33 Zentimeter. Damit es richtig flutscht, wird die Streckendecke vor jeder Runde mit Wasser nassgemacht.
Die Spannung steigt. Die ersten Läufer sind im Startfeld und völlig aus dem Häuschen. Einer rennt gleich los. Ein anderer rutscht aufgeregt auf seiner Schleimspur hin und her. Immer wieder muss der Wettkampfleiter Ausgangspositionen korrigieren. Als er alle 15 Teilnehmer korrekt zurechtgerückt hat, ruft Neil: „Ready, steady, slow!" – und ab geht die Schneckenpost.
Insgesamt 135 Schnecken gehen an den Start
Die Hörner ausgefahren, den Kriechfuß von der Nase bis zur letzten Muskelspitze angespannt und durchgestreckt, ziehen sie sich samt Gehäuse selbst über den Tisch. Wie durch eine unsichtbare Macht gelenkt, streben tatsächlich alle Schnecken die äußere Linie kurz vor der Tischkante an. Na ja, zumindest die meisten und den größten Teil der Zeit. Da wird auch mal gewartet und verschnauft. Einige geben auf und kehren um. Dafür kämpfen die wahren Helden umso erbitterter. Stellt sich einer in den Weg, wird er einfach weggeschubst oder im wahrsten Wortsinn übergangen. Manch einer schummelt und bleibt gleich oben sitzen – in der Hoffnung, dass es keiner merkt.
Das Publikum in allen Altersklassen rast vor Begeisterung. Zahlreichen Vorausscheiden folgt das spannende Finale. Bestritten wird es von der Schnecke Larry, die die 33 Zentimeter in traumhaften zwei Minuten 47 Sekunden bewältigt und damit den Sieg und den begehrten Salatpokal erringt. Ihre Besitzerin ist Tara Beasley aus Castle Acre bei Swaffham.
Die 41-jährige Hausfrau ist überrascht und überglücklich. Denn im Vergleich zu vielen Konkurrenten war Larry völlig untrainiert, verrät sie nun. Erst in der Nacht davor hatte sich Tara überlegt, am Rennen teilzunehmen, war in den Garten gegangen, hatte Larry gefunden und zur Rennschnecke gemacht: „Er schien kräftig und beweglich zu sein. Ich nahm ihn mit ins Haus und setzte ihn auf eine Scheibe Gurke, die er sofort komplett verputzte."
Außer Tara sind auch Neil und die meisten anderen mit dem Wettkampf sehr zufrieden. Nur einigen ging es wie Pressesprecherin Hilary dann doch nicht schnell genug. „Sie konnten nicht alles geben", kommentiert sie nüchtern. „Es gab zu viel Wind." Den bisher ungebrochenen Weltrekord – glatte zwei Minuten – hatte 1995 die Schnecke Archie aufgestellt. Doch Titel und Trophäen hin oder her: „Letzten Endes geht es um den Spaß", resümiert Neil. Schließlich soll sich bei diesem Sport keiner zur Schnecke machen. Und Geschwindigkeit ist sowieso sehr relativ im verträumten Norfolk. In der Tat hat die naturreiche Region das Zeug dazu, in ihr die Langsamkeit zu finden.
Restaurants wie „The Rose and Crown" in Snettisham zelebrieren sie mit „Slow food". Dennoch, „L’escargot" sucht man wie auch andernorts an Englands Nordseeküste vergebens auf der Speisekarte. Kommentar der Wirtin: „Wir essen keine Schnecken. Wir lassen sie laufen."