Statt eines weiteren Buchs über drohende Katastrophen hat der Sozialpsychologe und Publizist Harald Welzer nun eines darüber geschrieben, dass das Leben „schöner sein könnte, wenn es anders wäre".
Auf dem eleganten kleinen Rednerpult in der Museumsvilla „Haus am Waldsee" in Berlin-Zehlendorf steht ein Bier mit Schnappverschluss. Etwas ungewöhnlich vielleicht. Aber es passt. Harald Welzer wird über realistische Utopien und ein besseres Leben sprechen. Dazu zählt ein vernünftiges Maß an Genuss ganz offensichtlich auch. Das Buch, das er vorstellt, behauptet etwas, was im wörtlichen Sinne vollkommener Unsinn ist, aber in dem Sinne, wie es gemeint ist, logisch und zweifelsfrei richtig ist: Alles könnte anders sein. Könnte es? Sollte es?
Welzer ist ein Vielschreiber, fast jedes Jahr erscheint ein Buch von ihm, etwa über die smarte Diktatur oder die kommenden Klimakriege. Es sind bislang eher negative Themen, die ihn umtreiben. Er ist Sozialpsychologe; er interessiert sich also dafür, wie Menschen miteinander umgehen und warum und was in ihnen dabei vorgeht. Mit der Meinung, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, steht er wahrlich nicht alleine da. Darüber herrscht ein inzwischen fast erdrückender Konsens. Klimaschutz, Naturzerstörung, alles Themen, mit denen sich Welzer seit Langem beschäftigt. Dafür hat er sogar eine Professur aufgegeben und die Stiftung „Futurzwei" gegründet. Futur II: Etwas wird gewesen sein. Welzer und seine Stiftung schauen quasi von der Zukunft auf die Gegenwart. Und er staunt. „Ich befinde mich in einem Modus der Verwunderung", beginnt er seinen Vortrag, der alles ist nur keine Lesung. Verwunderung, Staunen ist die klassische philosophische Ausgangshaltung. Warum ist die Welt so und nicht anders? Was allen selbstverständlich erscheint, ist es eben nicht.
„Warnungen bringen nichts mehr"
Über die zerstörerischen Kräfte des Kapitalismus braucht man hier, im vornehmen Berliner Bezirk Zehlendorf nicht zu sprechen. Das ist alles quasi im Saal zu spüren, ohne dass es ausgesprochen wird. Man ist reich und wählt oft grün. Bei den letzten Europawahlen bekamen die Grünen 30,3 Prozent. Dass ein Zuhörer später „inzwischen den Trend zum Drittauto" bemerkt, widerspricht dem nicht wirklich. Die meisten hier bekommen ihr Gehalt (mutmaßlich) vom Staat – und sei es als Pension.
In seinem neuen Buch stehe aber „nichts Negatives", sagt Welzer. Das Negative wird als Allgemeinwissen vorausgesetzt. Wir seien doch sonst so routiniert im Schlechtfinden. Damit meint er weniger den Berliner Umgangston des Nölens und Nörgelns. Im gutbürgerlichen Zehlendorf ist das ohnehin selten. Welzer meint die vielen Krisen und Katastrophenbücher, die mindestens seit 1972 durch den Club of Rome vor Umweltzerstörung, Ressourcenengpass und später dann der Klimakatastrophe warnten. Sie alle hatten Recht – und haben nichts bewirkt. Heuer seien sie mehr oder weniger sinnlos. Er jedenfalls wolle kein solches Buch mehr schreiben – erst mal.
Warnungen bringen einfach nichts mehr, sagt Welzer, außer Reaktanz – offenbar der soziologische Fachbegriff für „Trotz". Die absurdeste Warnung ist für ihn, dessen Klimaengagement außer Frage steht, die überall vernehmbare: „Wir haben keine Zeit mehr". „Was soll das denn heißen?", fragt er. „Was passiert denn, wenn die Zeit abgelaufen ist?"
Seine Antwort darauf: Mehr Utopie wagen! „Wir haben in Deutschland schlicht aufgehört, Zukunft zu denken." Es gebe keine Utopien mehr, keine Visionen, wie die Zukunft aussehen soll. „Wir haben eine auffallende Absenz von Zukunft im öffentlichen Diskurs." Das gelte auch und gerade für die Nachhaltigkeitsdebatte. „Utopisches Denken ist aber unabdingbar, wenn man sich weiterentwickeln will", so der Soziologe.
Soziologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft – das sind für ihn intellektuelle Verwalter des Status quo, weil sie sich (jedenfalls dem Anspruch nach) auf das beschränken, was empirisch zu beobachten ist. Das versuchen sie zu erklären. Aber sie halten sich raus aus der Debatte, wie die Welt aussehen könnte. Das ist nichts für die Wissenschaft.
Dabei ist die Welt, in der wir heute leben, von vor 100 Jahren gesehen, reine Utopie – nämlich schlicht unvorstellbar: der Wohlstand, die soziale Absicherung, die technischen Möglichkeiten. Und das sei charakteristisch für alle wichtigen Veränderungen in der Geschichte: Sie waren und sind zu ihrer Zeit „total unrealistisch" – um im Nachhinein dann doch möglich, logisch und erklärbar, gar zwangsläufig zu werden.
Gibt es also einen Kapitalismus, der seinen Frieden mit der Natur schließt? Das sei die große Frage, an der sich seine Zukunft entscheiden werde. Dabei sieht Welzer wenig Sinn in den großen Utopien. Nicht nur weil sie alle gescheitert sind: an der Armut, am Gulag, an der Mauer. Als Psychologe weiß er vielmehr, wie wenig radikale Perspektiven zum Handeln motivieren können. Und Veränderung, eine andere Gesellschaft, will er natürlich doch.
Ehrenamtliches Engagement stärken
Die kleinen, konkreten Utopien sind möglich, und sie können etwas in Gang setzen, was zuvor absolut unmöglich erschien. Kein Zufall ist es, dass die Utopie, um die es Welzer vor allem geht, die autofreie Stadt ist. „Wir sollten die Autos einfach rausschmeißen aus der Stadt. Das geht. Dazu brauchen wir gar nicht viel, nur die Entscheidung dazu." Er sagt nicht: autofreie Welt. Das ist vielleicht wirklich unrealistisch. Aber autofreie Innenstädte sind möglich, und mancherorts schon Realität.
Die große Keule der Untergangsszenarien ist dazu gar nicht nötig, gar nicht sinnvoll. Die Warnung vor dem Klima-Kollaps, die Revolution zur Rettung der Welt. All das hilft nicht weiter. Das beste Argument für die autofreie Stadt, so Welzer, ist: Lebensqualität. Weniger Auto bedeute ein besseres Leben: Bessere Luft, weniger Unfälle. Man hat mehr Zeit, vor allem für Begegnungen. Auch eine Antwort auf die große Smartphone-Abhängigkeit. „Wir brauchen im digitalen Zeitalter analoge Orte der Begegnung von Menschen."
Dazu passt die Idee „80:20". Die Zahlenchiffre steht für eine andere Aufteilung von bezahlter Arbeit und ehrenamtlichem Engagement. Mehr Ehrenamt bedeutet: mehr soziales Engagement, mehr Begegnung mit anderen, mehr Austausch, das beste Mittel gegen die soziale Abschottung.
Gesellschaften brauchen Utopien, so Welzer. Sie sind nötig, um Freiheit zu schaffen. Die Welt sei nicht zu retten mit immer neuen Pflichten, mit immer mehr „müssen". Stattdessen gehe es um neue Freiheiten, die in der heutigen Welt verloren zu gehen drohen oder schon verloren gegangen sind. „Ohne Utopien werden sich Freiheitsräume weiter einschränken", so Welzer. Das muss nicht sein. Alles könnte auch anders sein. Fast.