Der moderne Kunde muss viel öfter, als er dürfen soll
„Sie dürfen jetzt im Wartezimmer Platz nehmen", säuselt die Arzthelferin. „Sie dürfen sich jetzt wieder anziehen", sagt der Arzt. „Sie dürfen sich schon mal warm machen", höre ich im Fitnessstudio. „Sie dürfen mir jetzt Ihre Fahrkarte zeigen", meint der Schaffner im ICE. Wie? Ich darf? Wer schwingt sich da auf, mir etwas zu erlauben? Was ist, wenn ich nicht darf? Schließlich kann jeder, der etwas erlaubt, auch etwas verbieten. Bin ich denn ein Kind? Darf ich jetzt „platzen"?
In der DDR wurde man platziert, das hat die Westdeutschen immer gestört: Sie waren es gewöhnt, sich in einer Kneipe hinsetzen zu können und ihr Jägerschnitzel zu bestellen. Wer in Ostberlin oder Leipzig ein Restaurant betrat, musste – auch wenn alle Tische leer waren – an einer aufgespannten Kordel Halt machen, bis ein Kellner kam und einen zu einem der Tische führte. Das war eindeutig eine Anweisung: Er durfte sich jetzt setzen. Der Kunde wurde nicht als Gast, sondern als Untertan behandelt.
Diese formelle Form des Platzierens hat sich gehalten, in Berlin auch wegen der vielen Touristen, die aus Ländern kommen, wo ein Restaurantbesuch etwas ganz Besonderes ist und der Empfang durch einen vornehmen Chef de Service beim Eintreten dazu gehört. Aber auch in Leipzig oder Dresden haben im Unterschied zu damals die Servicekräfte ihre Lektion gelernt. Man wird empfangen, nicht geduldet. Geschulte Kellner flechten dann schon mal einen Titel ein: Wo möchten Herr Doktor sitzen? Was darf ich Ihnen bringen?
Da ist es wieder, das „Dürfen". Vielleicht kommt es ja aus der Gastronomie. Aber es hat sich in Praxen, Studios, Salons und Boutiquen epidemisch ausgebreitet. Es mag superhöflich klingen, aber ich fühle mich doch irgendwie entmündigt. Die Anrede stuft den Angesprochenen herab auf das Niveau dessen, dem man etwas erlaubt, was gar keiner Erlaubnis bedarf. Dieses „Dürfen" kommt so süßlich daher, soll aber nichts anderes bezwecken, als das „Bitte" zu ersetzen. „Bitte nehmen Sie im Wartezimmer Platz ...", „Bitte zeigen Sie mir Ihre Fahrkarte ..." Das ist eindeutig, erhöht den Sprecher nicht auf die Stufe desjenigen, der gnädig eine Erlaubnis ausspricht, sondern schafft Gleichheit.
Ausnahme: die Fleischereifachverkäuferin. Aber auch sie webt mittlerweile zuckrige Girlanden um das ihr angestammte „Darf’s ein bisschen mehr sein?" Das ist eine klare Frage. Aber was soll ich denn antworten, wenn sie fragt: „Was darf ich Ihnen denn noch Gutes anbieten?" Wagt man da noch „Nichts" zu sagen?
Das süßlich-höfliche „dürfen" überdeckt, dass ich eigentlich viel öfter muss, als ich in unserer Servicewelt darf. Ich muss an der Supermarktkasse meinen Einkauf selbst einpacken – und das möglichst rasch, der nächste drängelt schon. Ich muss Schlange stehen, um die leeren Pfandflaschen loszuwerden, das gekaufte Regal selbst aufbauen, den Koffer selbst schleppen, das Postpaket selbst abholen – und wieder in der Schlange warten, bis ich dran bin.
In vielen Restaurants muss ich meinen Kaffee oder meine Pizza an der Theke selbst holen, im Kleidergeschäft muss ich selbst die passende Hose finden, weil sich keine Verkäuferin blicken lässt. Und natürlich wird auch erwartet, dass ich selbst im Internet die günstigste Urlaubsreise mit den besten Konditionen finde. Statt dem Menschen das Leben zu erleichtern, scheint es auch in der Servicewelt trotz der vorgeschützten Courtoisie nach dem Motto zu gehen: Jeder ist für sich selbst verantwortlich.
Und wenn es nicht klappt, kommt wieder das dürfen um die Ecke: Du darfst nicht aufgeben! Du darfst mich nicht enttäuschen! Du darfst hier nicht rauchen! Hier wird aus dem Nicht-Dürfen sinngemäß ein „Müssen". Aber immer verweist der Gebrauch des Wortes „dürfen" auf jemanden, der die Macht oder das Vorrecht hat, zu erlauben, zu verbieten, zu ermahnen.
Der moderne Kunde muss viel öfter, als er dürfen soll. Deswegen streicht das „Sie dürfen"! Und gleich noch das „Nicht-Dürfen" mit. Wie sagte schon Karl Valentin? „Mögen hätt’ ich schon wollen, aber dürfen habe ich mich nicht getraut."