Die Virus-Infektion HIV hat sich von einer Krankheit, die vermeintlich nur Randgruppen betrifft, in Windeseile zu einer Pandemie entwickelt. Ihre weltweite Ausbreitung konnte nur langsam eingedämmt werden.
Der „Spiegel" veröffentlichte im Juni 1983 hierzulande erstmals eine ausführlichen Titelgeschichte mit apokalyptischem Unterton über die von ihm als „Homosexuellen-Seuche Aids" bezeichnete neue Krankheit mit ungewöhnlich hoher Todesrate. Darin berichtete das Magazin über die Ratlosigkeit der Mediziner und das Fehlen jeglicher Behandlungsmöglichkeiten. Dies war der Startschuss für eine geradezu hysterische Paranoia in der deutschen Öffentlichkeit sowie für schwulenfeindliche Ressentiments, die vor allem von konservativen Politikern und Kirchenvertretern geschürt wurden. In den Boulevardmedien tauchten Schlagwörter wie „Schwulenpest" auf, Homosexuelle wurden als „Aids-Bomben" oder „Virusschleudern"diffamiert. Mitte 1983 wusste man noch so gut wie nichts über die Krankheit, selbst die Virus-Übertragungs-Theorie war noch reine Spekulation, zuverlässige Diagnoseverfahren oder verlässliche Bluttests für die Infektion, die auf unerklärliche Weise das körpereigene Abwehrsystem schädigte, suchte man noch vergebens. Die öffentliche Panik wurde noch zusätzlich geschürt, als im Laufe des Jahres die mögliche Ansteckungsgefahr auch für heterosexuelle Männer und Frauen durch mit dem Erreger kontaminiertes Transfusionsblut bekannt wurde. Noch niemand konnte damals allerdings absehen, dass sich Aids gleich nach Tuberkulose zur zweittödlichsten Infektionskrankheit aller Zeiten entwickeln würde, die seit der Entdeckung des HIV-Virus bislang 35 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, bei bislang insgesamt 78 Millionen Infizierten.
Die erste wissenschaftliche Entdeckung von HIV und Aids fand sich in einem Bericht des Immunologen Michael Gottlieb von der University of California in Los Angeles im am 5. Juni 1981 erschienenen Mitteilungsblatt des US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention. Gottlieb beschrieb darin schwere Krankheitssymptome wie ungewöhnliche Pilzinfektionen und eine seltene Form von Lungenentzündung bei fünf jungen homosexuellen Kaliforniern, obwohl diese ansonsten in bester körperlicher Verfassung waren und vergleichbare Symptome bislang nur bei Menschen mit angegriffenem Immunsystem aufgetreten waren. Gut einen Monat später enthüllte der medizinische Fachjournalist Lawrence K. Altman am 3. Juli 1981 in einem Artikel der „New York Times" eine äußerst seltene und ungewöhnliche Hautkrebsart namens Kaposi-Sarkom bei 41 Homosexuellen mit vielen Sexualkontakten.
Durch diese Veröffentlichung erfuhr erstmals eine breitere Öffentlichkeit von der neuen Krankheit, die kurz darauf GRID getauft wurde (Gay Related Immune Deficiency, übersetzt: bei Schwulen auftretende Abwehrschwäche) und sogleich in New York die Gründung der ersten Aidshilfe-Organisation namens „Gay Men’s Health Crisis" zur Folge hatte. Auf einer Konferenz amerikanischer Blutspende-Organisationen wurde am 27. Juli 1982 der Name GRID durch Aids (Acquired Immune Defiency Syndrome, übersetzt: erworbenes Immunschwäche-Syndrom) ersetzt, weil inzwischen die Krankheit auch bei Drogenkonsumenten und Blutern aufgetreten war. Im Juli 1982 wurde in Frankfurt am Main erstmals bei einem deutschen Patienten Aids diagnostiziert, das Robert-Koch-Institut begann sogleich mit dem Aufbau eines zentralen Fallregisters, dem auch heute noch sämtliche Neuinfektionen in anonymisierter Form gemeldet werden müssen. Weltweit konnte die neue Krankheit 1982 schon in 14 Ländern nachgewiesen werden, immer mehr verhärtete sich der Verdacht, dass ein bislang unbekanntes Virus für die Auslösung eines Immundefekts verantwortlich sein könnte.
Als Entdecker von Aids gelten Luc Montagnier und Françoise Barré-Sinoussi
Der Nachweis des HI-Virus gelang dem Elektronenmikroskopiker Charlie Dauguet vom Pariser Pasteur-Institut am 4. Februar 1983. Doch die Meriten sollten seine Kollegen Luc Montagnier und Françoise Barré-Sinoussi einheimsen, die am 20. Mai 1983 im Wissenschaftsmagazin „Science" den Fall eines 33-jährigen Aidspatienten vorstellten, in dessen Gewebe sie das Virus identifiziert und diesem die Bezeichnung „Lymphadenopathy Associated Virus" (LAV) gegeben hatten, weil sie geschwollene Lymphknoten als typisches Aids-Symptom angesehen hatten. In der gleichen Ausgabe der „Science" hatte der US-Wissenschaftler Robert Gallo, Leiter des Tumorvirus-Labors an den US-amerikanischen National Institutes of Health in Bethseda, ähnlich spektakuläre Forschungsergebnisse vorgestellt und ließ sich daher seit April 1984 in den Medien gerne als Entdecker des HI-Virus feiern. Gallo ging es nicht nur um den Ruhm, sondern vor allem um die finanzielle Verwertung der Erstentdeckung für das von beiden Parteien angemeldete Patent eines HIV-Tests. Für das Nobelpreiskomitee stand außer Frage, dass Montagnier und Barré-Sinoussi das HI-Virus gefunden hatten, weshalb ihnen 2008 der Medizin-Nobelpreis verliehen wurde.
Im Mai 1983 tauchte in einer Aufklärungsschrift des New Yorker Arztes Joseph Sonnabend „How to have sex in an epidemic" erstmals der Begriff „Safer Sex" auf. Fraglos sehr zum Missfallen des Vatikans, dessen strikte Ablehnung von Kondomen zum Schutz vor HIV bis heute nicht gänzlich revidiert wurde. Ab September 1983 wurden in Berlin und München die ersten Aids-Hilfen sowie der Dachverband „Deutsche A.I.D.S.-Hilfe" gegründet. Ab 1. Oktober 1984 galt in der Bundesrepublik die Pflicht zum Testen von Blutprodukten auf HIV-Antikörper. Mit dem bekannten französischen Philosophen Michel Foucault zählte erstmals ein Prominenter zu den Aids-Toten, nachdem am 30. März 1984 der frankokanadische Flugbegleiter Gaetan Dugas verstorben war, der fälschlicherweise als erster HIV-Kranker Nordamerikas und damit Auslöser der Epidemie unter dem Namen „Patient Zero" stigmatisiert worden war.
1985 wurde in Atlanta die erste internationale Aids-Konferenz abgehalten. In der Bundesrepublik startete die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine große Info-Kampagne mit einer an 27 Millionen Haushalte geschickten Postwurfsendung „Aids – Was Sie über Aids wissen sollten". Doch erst mit dem Tod der Schauspiellegende Rock Hudson am 2. Oktober 1985 wurde Aids aus der vermeintlichen Homo-Schmuddelecke herausgeholt und als Bedrohung für die gesamte Weltbevölkerung angesehen. Nur in Bayern wurde das Kesseltreiben gegen Schwule unter dem Hauptprotagonisten Peter Gauweiler bis zu seiner Absetzung als Innenstaatssekretär 1988 heftig weiter betrieben, inklusive Zwangstests für Prostituierte und Fixer auf HIV.
Mit dem bis dahin erfolglos gegen Krebs eingesetzten Medikament Azidothymidine (AZT) stieß die Aids-Forschung im März 1986 erstmals auf ein wirksames Mittel gegen die Krankheit, für dessen Verursacher im Mai 1986 verbindlich die Bezeichnung „Human Immunodeficiency Virus" (HIV) festgelegt wurde. In den USA wurde AZT im März 1987 zugelassen, mit Kosten von 10.000 Dollar pro Jahr war es das teuerste verschreibungspflichtige Medikament aller Zeiten. In Deutschland wurde die Kampagne „Gib Aids keine Chance" gestartet. 1988 deklarierte die Weltgesundheitsorganisation WHO den 1. Dezember zum jährlichen Welt-Aids-Tag. 1991 wurde die Rote Schleife als internationales Symbol für Solidarität mit Menschen mit HIV/Aids eingeführt.
1996 beschlossen die Vereinten Nationen mit UNAIDS ein Programm zur Bündelung internationaler Maßnahmen im Kampf gegen die HIV-Epidemie. Auf der im Sommer 1996 abgehaltenen
elften Welt-Aids-Konferenz in Vancouver wurde die Ära der sogenannten antiretroviralen Kombinationstherapie eingeläutet. Mit ihr begann das Wunder, denn durch die „Highly Active Antiretroviral Therapy" (HAART), bei der mindestens drei antivirale Wirkstoffe gleichzeitig zum Einsatz kommen, konnten die Todesraten deutlich gesenkt werden. Eine Heilung ist damit zwar nicht möglich, aber seitdem für viele Betroffene immerhin ein erträgliches Leben mit Aids.
Laut UNAIDS hatte die Epidemie ihre Höhepunkte in den Jahren 1997 mit 2,9 Millionen Neuinfektionen und 2004 mit 1,7 Millionen Aids-Toten, wobei Tuberkulose mit 30 Prozent unter Aidskranken die häufigste Todesursache ist. 2009 war die Zahl der Infizierten erstmals seit Ausbruch der Epidemie in den 80ern zurückgegangen. Die UN sahen die Wende zum Besseren eingeleitet und setzten sich 2014 das ambitionierte Ziel, die Ausbreitung des HI-Virus bis 2030 zu beenden. Kurzfristig wurde das Vorhaben ausgegeben, die Zahl der Todesfälle bis 2020 unter 500.000 zu senken und möglichst in jedem Land die 90-90-90-Ziele zu erreichen: 90 Prozent der Menschen mit HIV sollen von ihrer Infektion wissen, 90 Prozent davon sollen Medikamente erhalten, 90 Prozent davon sollen unter der HIV-Nachweisgrenze sein (zwar HIV-positiv, aber Virus im Blut nicht mehr nachweisbar und daher auch nicht mehr übertragbar).
Keines dieser Ziele konnte trotz beachtlicher Erfolge bislang erreicht werden. Laut UNAIDS lag die Zahl der mit HIV-Infizierten 2018 bei 37,9 Millionen, von denen 23,3 Millionen in Therapie waren. Die Zahl der Neuinfektionen wurde mit 1,7 Millionen angegeben, die Zahl der Todesfälle mit 770.000. Ost- und Südafrika, wo allein 20,6 Millionen Infizierte leben, waren auch 2018 die am stärksten betroffenen Regionen. Dort erzielte Fortschritte wurden durch teils besorgniserregende Entwicklungen bei Neuinfektionen vor allem in Osteuropa, dem Nahen Osten, Nordafrika und Lateinamerika konterkariert. Die größten Infektions-Risikogruppen waren auch 2018 homosexuelle Männer und Drogenabhängige, weit vor Sex-Arbeitern und Personen, die Transgender sind.
Der frühe Verdacht, dass der HIV-Erreger ursprünglich aus Afrika stammen könnte, wurde 2005 durch ein internationales Forschungsteam belegt, das in Exkrementen von in Kamerun lebenden Schimpansen die Menschenaffen-Version des HI-Virus entdecken konnte. Die Wissenschaft geht inzwischen aus, dass sich die Schimpansen mit dem Virus bei anderen Affenarten infiziert hatten. Irgendwann in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben sich Menschen wahrscheinlich bei der Zubereitung und dem Verzehr von Schimpansenfleisch mit dem für den Homo sapiens eigentlich ungefährlichen HI-Affenvirus angesteckt, das im menschlichen Organismus zum Aids verursachenden HIV mutiert sein muss. Der älteste Nachweis einer menschlichen HIV-Erkrankung konnte bei nachträglicher Überprüfung einer konservierten Blutprobe eines Mannes aus Kinshasa auf das Jahr 1959 datiert werden. Um 1966 muss das Virus von Afrika aus nach Haiti gelangt sein, um schließlich, so die gängige Annahme, 1969 seinen Weg in die USA fortzusetzen.