Millionen Menschen leiden unter Inkontinenz. Das Tabuthema wird nicht nur von Betroffenen, sondern auch häufig von Ärzten totgeschwiegen. Dabei lässt sich die Erkrankung erfolgreich therapieren.
Wer unter einer Inkontinenz leidet, spricht meist aus Scham nicht über diese große Beeinträchtigung im Alltag. Die Betroffenen neigen meist dazu, die Erkrankung zu tabuisieren. Deshalb ist es so wichtig, dass die Patienten ein Mehr an Lebensqualität gewinnen. Der Definition der Deutschen Kontinenz Gesellschaft e.V. (DKG) nach bedeutet Inkontinenz „die fehlende oder mangelnde Fähigkeit des Körpers, den Blasen- und/oder Darminhalt sicher zu speichern und selbst zu bestimmen, wann und wo er entleert werden soll". Mit einer für die Betroffenen äußerst unangenehmen Folge: Die Patienten verlieren, ohne es zu wollen, den eigenen Urin oder Stuhl. Doch dass allein die Betroffenen oftmals im Stillen leiden, ohne offen über Inkontinenz zu sprechen, würde zu kurz greifen. „Auch ärztliche Kollegen sprechen die Thematik häufig nicht direkt an, eine doppelte Sprachlosigkeit kommt also zum Tragen", berichtet die Koordinatorin des interdisziplinären Kontinenz- und Beckenbodenzentrums am St. Antonius Hospital in Eschweiler, Privatdozentin Dr. med. Jennifer Kranz. Dementsprechend fehlten exakte Angaben zur Häufigkeit dieser Erkrankungen, so Kranz, und die Schätzungen zur Verbreitung wichen deutlich voneinander ab. Daher geht man in medizinischen Fachkreisen davon aus, dass die Dunkelziffer betroffener Patienten sehr hoch ist. Trotzdem muss die Frage erlaubt sein: Wie viele Menschen leiden hierzulande an einer Harn- und Stuhlinkontinenz?
Im Jahr 2006 wurden hierzulande erstmals verlässliche Daten zur Versorgungslage harninkontinenter Frauen im Zuge der Studie „Harninkontinenz bei Frauen" erhoben. Die Women’s Health Coalition führte, unterstützt von der Deutschen Kontinenz Gesellschaft e.V., der Barmer-Krankenkasse und den Unternehmen Boehringer Ingelheim und Lilly Deutschland, die repräsentative Studie durch. Dabei wurden bundesweit 2.004 Frauen im Alter zwischen 25 und 75 Jahren befragt. Das Ergebnis: Jede fünfte Frau gab an, unter unwillkürlichem Urinverlust zu leiden und jede dritte Frau gab zu Protokoll, in ihrem Leben irgendwann Probleme mit dem unteren Harntrakt gehabt zu haben. Noch deutlicher fiel das Ergebnis in der Altersgruppe der 70- bis 75-jährigen Frauen aus: 37 Prozent berichteten vom Problem des ungewollten Urinverlustes. Und noch ein Ergebnis gibt zu bedenken: Lediglich 45 Prozent der betroffenen Frauen haben sich laut der Studie ihrem Arzt anvertraut.
In Zukunft werden in Deutschland mehr Inkontinenz-Betroffene leben als heute – so viel ist sicher. „Gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der steigenden Lebenserwartung werden urogynäkologische Krankheitsbilder weiter zunehmen", erklärt die Fachärztin für Urologie. Kranz weist darauf hin, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt in Deutschland für Frauen im Jahr 2015 auf 83,4 Jahre belief. Wirft man einen Blick auf die Alterspyramide, wie sie das Statistische Bundesamt für Deutschland im Jahr 2030 erstellt hat, ergibt sich folgendes Bild: Der Anteil der Frauen, die im Jahr 2030 um die 65 Jahre alt sein wird und damit folglich auch urogynäkologische Probleme aufweisen wird, ist beachtlich hoch und liegt bei 1,305 Millionen Frauen. Zum Vergleich: In den USA wird die Erkrankungsrate von Patientinnen mit urogynäkologischen Funktionsstörungen voraussichtlich bis zum Jahr 2030 um 45 Prozent ansteigen. Circa fünf Prozent der Bevölkerung leidet unter Stuhlinkontinenz in unterschiedlicher Ausprägung von unkontrolliertem Luftabgang bis hin zum vollständigen Kontrollverlust, weiß die Urologin. Eine Stuhlinkontinenz könne in jedem Lebensalter auftreten, entweder angeboren als anale Fehlbildung oder erworben, sagt Kranz. Dabei gebe es ganz unterschiedliche Ursachen, zudem könnten Mischformen auftreten.
Übergewicht und Nikotin begünstigen die Entstehung und den Schweregrad
Die Inkontinenz-Expertin macht darauf aufmerksam, dass der unwillkürliche Urinverlust und Senkungszustände des weiblichen Genitals häufig miteinander einhergehen. Demnach sind ihre Entstehungsmechanismen eng miteinander verknüpft und von zahlreichen Faktoren beeinflusst. Fettleibigkeit und Nikotinkonsum zählen Kranz zufolge unter anderem zu jenen Risikofaktoren der Harninkontinenz, die durch den persönlichen Lebensstil hervorgerufen werden können. „Es konnte bereits gezeigt werden, dass Fettleibigkeit einen Einfluss auf die Entstehung und den Schweregrad eines unwillkürlichen Urinverlustes sowie auf die Entstehung eines Genitaldeszensus (Absinken des weiblichen Genitals infolge von Bindegewebsschwäche, Anm. d. Red.) hat." Vereinfacht gesagt: Übergewichtige, die ihren Body-Mass-Index verringern, können so letztlich ihre Beschwerden mindern. Der zweite durch betroffene Patientinnen selbst beeinflussbare Faktor des Rauchens führt, wie Kranz erläutert, häufig durch chronisches Husten zu einem erhöhten Innendruck im Unterleib. Dadurch kann einer Harninkontinenz Vorschub geleistet werden, sagt Kranz. Neben einer familiären Veranlagung und dem Lebensalter spielen Schwangerschaft, die letzte Regelblutung und ein lokaler Östrogenmangel wie chronische Stuhlverstopfung, Voroperationen (wie beispielsweise die Gebärmutterentfernung) und Bestrahlungen eine nicht unwesentliche Rolle.
Im mittleren Lebensalter sind Frauen deutlich häufiger von einer Harninkontinenz betroffen als Männer. Verantwortlich für diese ungleiche Verteilung unter den Geschlechtern ist die Anatomie des Beckenbodens der Frau, der anfälliger für ein Absinken der Beckenorgane ist. „Die erworbene Belastungs-Harninkontinenz (unwillkürlicher Urinverlust bei körperlicher Anstrengung ohne Harndrang, Anm. d. Red.) beim Mann tritt häufig als Folge operativer oder strahlentherapeutischer Eingriffe im kleinen Becken auf, zum Beispiel als Folge der radikalen Prostataentfernung bei Prostatakrebs", sagt Kranz. Leidet ein Mann unter einer Dranginkontinenz, also unwillkürlichem Urinverlust und gleichzeitig plötzlichem Drangempfinden, kann das beispielsweise durch eine gutartige Prostatavergrößerung bedingt sein. „Mit zunehmendem Lebensalter gleichen sich die Erkrankungsraten der Harninkontinenz von Mann und Frau wieder an", berichtet Privatdozentin Kranz.
Ist eine Inkontinenz heilbar? Diese Frage beantwortet die Medizinerin mit einem klaren Ja. Grundsätzlich kann eine Inkontinenz erfolgreich therapiert, sprich geheilt werden. Zur Therapie der verschiedenen Formen der Harn- und Stuhlinkontinenz stehen, Jennifer Kranz zufolge, den Betroffenen zahlreiche Optionen zur Verfügung. „Das Vorgehen sollte in jedem Fall individuell an die zu betreuende Patientin angepasst werden, um das bestmögliche Resultat zu erzielen", empfiehlt die Fachärztin. Dennoch gebe es auch komplexe und therapieresistente Fälle der Harn- und Stuhlinkontinenz. Hier ist das Ziel, so betont Jennifer Kranz, „eine bestmögliche Lebensqualität unter den genannten Umständen zu erzielen".
Zurück zum Tabuthema Inkontinenz. Offenbar scheuen sich Inkontinenz-Betroffene noch immer offen über den unwillkürlichen Harn- und Stuhlverlust zu sprechen. Grund genug für die DKG das Thema aus der Tabuzone herauszuholen. Seit ihrem Gründungsjahr 1987 hat die medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft zahlreiche Informationsveranstaltungen für Patienten organisiert, medienwirksame Kampagnen gestartet und Öffentlichkeitsarbeit betrieben. Daneben zertifiziert die Organisation seit fast 20 Jahren sogenannte Kontinenz- und Beckenbodenzentren in ganz Deutschland. Das sind Einrichtungen, die sich schwerpunktmäßig mit Problemen der Harn- und Stuhlinkontinenz wie mit funktionellen Störungen und Erkrankungen des Beckenbodens befassen.
Dazu Kranz: „Aktuell findet eine Harmonisierung und Vereinheitlichung der bis dato verschiedenen Zertifizierungsverfahren statt, mit dem Ziel die Qualität der Struktur und Versorgung der Patientinnen innerhalb der Kontinenz- und Beckenbodenzentren zu optimieren." Seit Inkrafttreten der neuen Zertifizierungsregelungen für Kontinenz- und Beckenbodenzentren im Mai dieses Jahres sind fortan alle mit dem Beckenboden vertrauten relevanten Fachdisziplinen in der Zertifizierungskommission paritätisch vertreten. Ein vollständig neu konzipierter Erhebungsbogen, der nun einen stärkeren Fokus auf die Ergebnisqualität und auf diagnostische Fertigkeiten legt, wird künftig als Zertifizierungsgrundlage genutzt werden.