Beim FORUM-Dialog kommt auch das Publikum zu Wort. Die Fragen gehen ans Eingemachte, vom Verhältnis zu Frankreichs Präsident Macron bis hin zu grundsätzlichen Überzeugungen der Außenpolitik.
Herr Minister, Sie haben sich süffisant vom Vorstoß von Emmanuel Macron abgegrenzt, der die Nato als „hirntot" bezeichnet hat und nach Beobachtermeinung eine verteidigungspolitische Autonomie Europas unter der Führung Frankreichs anstrebt. Befürchten Sie nicht einen strategischen Dissens zwischen Paris und Berlin?
Ich glaube tatsächlich, dass wir eine strategische Frage europapolitisch entscheiden müssen, die wir auch zwischen Deutschland und Frankreich besprechen wollen. Eine Position ist, dass wir uns zu einem Kerneuropa entwickeln müssen. Einige glauben, dass das die Linie von Macron ist: Mehr Integration mit weniger Staaten, die dann vorangehen. Oder ist es nicht viel mehr notwendig, dass die 27, derzeit noch 28, in Europa diesen Weg gemeinsam gehen müssen. In der neuen Großmächtekonkurrenz zwischen Russland, USA und China glaube ich, brauchen wir Europa als Ganzes. Das ist eine strategische Kernfrage: Schaffe ich ein Kerneuropa oder versuche ich, den großen Laden zusammenzuhalten, auch wenn das schwieriger ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass Zweiteres richtiger ist. Ich beobachte, dass es in Mittel- und Osteuropa, in den baltischen Staaten, die Befürchtung gibt, dass es ein Europa erster und zweiter Klasse gibt. Das halte ich für gefährlich. Denn wenn diese Länder den Eindruck haben, dass sie nur noch zweitklassig sind, werden sie sich anderen zuwenden. Die südeuropäischen Staaten werden sich möglicherweise China zuwenden, die mit ihrem Seidenstraßenprojekt ohnehin vor der Tür stehen oder schon längst im Land sind. Und was die Äußerung von Macron zur Nato angeht: Ich halte es für richtig, dass Macron Themen in die Debatte einführt. Die Frage müssen wir uns stellen: Was sind wir in Europa bereit, an sicherheitspolitischer Verantwortung mehr zu übernehmen? Eine sicherheitspolitische Organisation Europas ohne die Nato kann ich mir nicht vorstellen. Die Nato muss ein Teil dieser Überlegungen sein. Ich glaube, wir brauchen beides, und die Kunst wird sein, beides zusammenzuhalten. Wir sind uns in der Bundesregierung einig, wenn es um unsere Sicherheitsbelange geht, dass die Nato fester Teil unserer Sicherheitspartnerschaften bleiben soll.
Herr Maas, die Welt gleicht einem Tollhaus, und wir sind angewiesen auf dieses Tollhaus. Sowohl als Exportnation, als auch in Bezug auf die Rohstoffe. Bei den Krisenherden dieser Welt braucht es Führung. Glauben Sie, dass in der verbleibenden Zeit der Kanzlerin noch genügend Kraft da ist, und was ist da Ihre Rolle?
Ich kann Ihnen aus nächster Nähe sagen: Die Kanzlerin macht einen sehr munteren Eindruck. Ich habe nicht den Eindruck, dass ihre Erklärung, bei den nächsten Wahlen nicht mehr anzutreten, dazu geführt hat, einen Gang runterzuschalten. Es gibt Teile des Politikstils der Kanzlerin, die sind nicht meine. Aber ich muss auch sagen, dass die Kanzlerin mit ihrem Politikstil in ganz wesentlichen Fragen einen großen Vertrauensvorschuss für Deutschland erarbeitet hat. Das kann man nicht marktschreierisch in der Öffentlichkeit machen, vieles davon geschieht hinter den Kulissen. Das hat mit Vertrauen zu tun, auch damit, dass gewisse Dinge Zeit brauchen. Das hat auch etwas mit Seriosität zu tun. Wir machen unsere Politik nicht über Twitter. Das, was Deutschland an internationaler Verantwortung zugewachsen ist, hat auch damit zu tun. Das ist mir auch noch einmal deutlich geworden, als Deutschland in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gewählt wurde. Viele Staaten kamen vorher zu mir und haben gesagt: Wir wählen euch, weil ihr zu den wenigen gehört, denen wir abnehmen, dass es ihnen nicht immer nur um ihre Interessen geht, dass ihr auch in der Lage seid, unsere Interessen auf die Tagesordnung zu setzen, auch wenn sie gar nicht so eure Interessen sind. Das ist in der internationalen Politik nicht der Regelfall. Und was unsere Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union im nächsten Jahr betrifft: Wir arbeiten zurzeit am mehrjährigen Finanzrahmen, es geht um Migration, Reform des Dublinabkommens. Und die Umsetzung des Brexits – ich gehe davon aus, wir bekommen einen geregelten Brexit – wird voll in unsere Ratspräsidentschaft fallen. Ich habe bei all dem nicht den Eindruck, dass uns keiner mehr was zutraut. Ich habe aber immer mehr den Eindruck, dass uns außerhalb Deutschlands mehr zugetraut wird, als wir uns in Deutschland selbst zutrauen. Ich will nicht sagen, dass alles super ist. Es gibt viele Dinge, die wir besser machen können. Wir müssen uns jetzt gut aufstellen. Denn die Verantwortung, die im nächsten Jahr international auf Deutschland zukommen wird, in der Ratspräsidentschaft, im Sicherheitsrat, ist größer als es in den letzten Jahren jemals der Fall gewesen ist. Und diese Verantwortung ist uns allen in der Regierung bewusst.
Begegnet uns in der internationalen Politik mehr Heuchelei als früher, haben wir eine Politik der Doppelmoral, oder täuscht dieser Eindruck?
Doppelmoral und Heuchelei sind in bestimmten Bereichen immer auch ein Instrument der Politik gewesen, kein schönes. Man muss sich aber darauf einstellen, dass es Staaten auf der Welt gibt, die ihre Interessen relativ kompromisslos durchsetzen. Wir leben im Zeitalter von Fake News und allem, was dazu gehört, Verschwörungstheorien noch und nöcher. Die Digitalisierung hat Prozesse wesentlich beschleunigt und immer mehr Menschen leben in ihrer eigenen Blase. Das macht das Geschäft derer, die mit viel Doppelmoral unterwegs sind, viel einfacher. Es gibt Werte und Interessen, der ewige Dualismus in der Außenpolitik. Wenn ich ins Ausland fahre und irgendwelche Kollegen besuche, die schwierig sind, wird man teilweise gefragt: wieso fahren Sie überhaupt dahin? Unterstützen Sie etwa das, was die da machen? Ich verstehe meinen Job so: Wenn ich nur zu denen fahre, mit denen ich einer Meinung bin, gibt es schöne Bilder. Aber Diplomatie heißt für mich, dahin zu gehen, wo es wehtut, wo es schwierig ist, wo Konflikte sind, wo man was verändern will. Natürlich gibt es da auch Grenzen. Wir leben ja in einer Zeit des Schwarz und Weiß, der Kompromiss als solcher gilt ja schon als beleidigend, man wird schon mal als Verräter bezeichnet. Ich bin der festen Überzeugung: Es gibt keinen Fortschritt ohne Kompromisse. Nur nach Schönheit zu streben ,führt dazu, dass man in Schönheit stirbt, aber nicht, dass man dazu beiträgt, dass etwas besser wird. Wir werden keinen Fortschritt erzielen ohne Kompromisse.