Immer mehr Menschen leben auch im höheren Alter allein im eigenen Haushalt. Ungebetener Mitbewohner ist aber oft die Angst vor einem medizinischen Notfall. Eine kleine Dose verspricht mehr Sicherheit.
Auf den ersten Blick scheint es verrückt: „Rettung aus der Dose" verspricht da ein knallrotes Behältnis, das neben Butter, Eiern oder Marmelade im Kühlschrank deponiert werden soll. Die gelbe Variante stellt etwas weniger reißerisch „Die schnelle Hilfe im Notfall" in Aussicht und die grüne Version offeriert „Informationen für die Lebensrettung".
Und doch verbirgt sich hinter den kleinen Behältnissen nicht nur für Awo-Abteilungsleiter Jürgen Nieser „eine clevere und pfiffige Idee". Auch die saarländische Gesundheitsministerin Monika Bachmann setzt sich für die Dosen ein, in die ein Formular mit wichtigen Angaben wie Medikamentenplan, Hinweis auf Allergien, Blutgruppe, Vorerkrankungen, Patientenverfügung, Hausarzt oder Kontaktpersonen eingelegt wird. „Ein Kühlschrank ist in jeder Wohnung vorhanden. Somit wissen die Ersthelfer direkt, wo sich die lebensrettenden Informationen finden lassen", lobt die Politikerin das Konzept.
Erfunden wurde es in Großbritannien. Dort verfügen bereits Millionen Haushalte über eine „Message in the Bottle". Dazu gehören auch zwei Aufkleber, die Rettungskräfte auf die Dosen aufmerksam machen sollen. Der eine kommt außen auf den Kühlschrank, der zweite innen an die Wohnungstür.
Erfunden in Großbritannien
Egal ob eine hilfsbedürftige Person selbst Alarm geschlagen hat oder von Dritten möglicherweise gar bewusstlos in der Wohnung gefunden wird, dann – so der Grundgedanke – können die Rettungskräfte ohne langes Suchen sofort auf wichtige Informationen zurückgreifen. Damit sind aber mögliche Einsatzgebiete längst nicht erschöpft: Auch wenn bei der Erstversorgung keine Zeit zum Lesen des Formulars bleibt, kann die Dose ins Krankenhaus mitgenommen werden und bei der gründlicheren Anamnese oder auch der Benachrichtigung von Angehörigen nützen.
Und selbst im Entlassungsmanagement mancher Kliniken spielt die Dose inzwischen eine Rolle. Die Formulare werden dann ergänzt oder erstmals ausgefüllt und dem Patienten mit nach Hause gegeben. Apothekerin Beatrice Reichert in St. Ingbert berichtet zudem von Kunden, die sich eine zusätzliche Dose für das Handschuhfach ihres Autos gekauft haben. Andere führen die kleinen Begleiter zur eigenen Beruhigung auf Urlaubsreisen mit sich.
Bei den Adressaten der Infos ist die Idee jedoch teilweise noch recht unbekannt und auch nicht unumstritten. Eine FORUM-Stichprobe ergab, dass viele Ärzte von den Dosen bisher noch nie etwas gehört haben. Sie werden meist nicht durch ihre Organisationen, sondern durch Patienten oder Einrichtungen in der Senioren- und Selbsthilfe für das Angebot sensibilisiert.
Tatsächlich breitet sich die Idee weitgehend unbemerkt von der ganz großen Öffentlichkeit aus, das jedoch immer mehr und schneller. Allein im Saarland, das noch eher Diaspora für die Notfalldosen ist, liegt man dieses Jahr bereits im fünfstelligen Bereich. Wichtige Multiplikatoren wie Awo, VdK, Knappschaft, Pflegestützpunkte, die Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe, Landkreise und einzelne Gliederungen von Rotem Kreuz oder Feuerwehr helfen bei der Verbreitung. Genaue Zahlen werden von den drei Anbietern am Markt nicht veröffentlicht. In der gesamten Bundesrepublik dürften jedoch schon einige Hunderttausend Dosen im Umlauf sein.
Wie bei jeder Graswurzelbewegung, bei der Innovatives nicht von oben, also beispielsweise von Politik oder Krankenkassen eingeführt wird, sondern sich von der Basis her verbreitet, hängt der Erfolg vor Ort zumindest in der Anfangsphase vom Engagement einzelner ab. Im Saarland ist Hans Joachim Lei das Gesicht der Bewegung. Gemeinsam mit seiner Frau, einer in der Selbsthilfe aktiven ehemaligen Krankenschwester, hat Lei im vergangenen Jahr bei einer Veranstaltung in der Pfalz erstmals eine Notfalldose gesehen und war fasziniert.
Als Vorstandsmitglied der Rheuma-Liga Saar wirbt er seitdem unverdrossen auch bei anderen Verbänden, Seniorenvereinen und Politikern für die Idee, koordiniert Sammelbestellungen und hilft bei der Verteilung. „Es ist eine sehr zeitintensive Arbeit", räumt der knapp 73-Jährige ein. Von den Einzelgesprächen über größere Präsentationen, von Sammelbestellungen bis zur Verteilung an die Abnehmer – für ihn ist das Ehrenamt schnell zum Vollzeitjob geworden.
Nun wird es darauf ankommen, ob die Rettungsdosen allmählich Eingang in die Strukturen finden. Dabei müssen sich die Befürworter vor allem mit zwei Problemen auseinandersetzen. Zum einen müssen die eingelegten Formulare regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht werden, sonst könnten sie schlimmstenfalls sogar zu Fehlversorgungen führen. „Ich bezweifle, dass Hausärzte diese Zeit haben", baut der Allgemeinarzt und stellvertretende Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Saarland, Dr. Joachim Meiser, einer möglichen Aufgabenzuweisung vor. Und auch der Vorsitzende des saarländischen Hausärzteverbandes, Dr. Michael Kulas, meint: „Die Aktualisierung muss in der Hand des Patienten liegen, Daten zu Kontaktpersonen kennt nur er". Allerdings könne man den bundeseinheitlichen Medikationsplan problemlos dazulegen, regt Kulas an.
„Ein Gefühl von Sicherheit"
Der andere Einwand zielt darauf, in der Zeit zunehmender Digitalisierung relevante Informationen verstärkt auf Papier vorzuhalten. „Plakativ könnte man sagen: Andere europäische Länder führen den Gesundheitschip ein – wir legen Informationen in den Kühlschrank", gab der Ärztliche Leiter Rettungsdienst des Saarlandes, Dr. Thomas Schlechtriemen in einem Zeitungsinterview zu bedenken. VdK-Geschäftsführer Peter Springborn sieht aber im Moment genau darin einen Vorteil: „Einen Zettel ausfüllen und diesen auch ohne technische Kenntnisse aktualisieren zu können, kommt den Bedürfnissen vieler älterer Menschen entgegen. Sicher wäre eine elektronische Lösung zum Beispiel über die Gesundheitskarte noch besser und eleganter, aber davon sind wir leider noch meilenweit entfernt."
Bleibt die Grundsatzfrage: Nützt die Rettungsdose im Ernstfall tatsächlich? Dazu gehen die Meinungen selbst bei Fachleuten auseinander. Erfahrungsberichte über den Einsatz in echten Notfallsituationen sind rar. Vermutlich ist der Zusatznutzen oft nach der Erstversorgung größer als in den ersten Minuten. Die segensreichste Wirkung entfaltet die Dose aber nach übereinstimmenden Berichten im Präventionsbereich. „Sie gibt den Betroffenen ein Gefühl der Sicherheit", hat nicht nur Lei beobachtet.
Auch Meiser spricht von einer zumindest „psychologischen Hilfe" für Alleinlebende. Lei kann mit der Ungewissheit, ob die Dose letztlich medizinisch notwendig ist, gut leben – denn: „Jedem, dem ich die Dose gegeben habe, wünsche ich, dass er sie nicht braucht."