Dank ihrer außergewöhnlichen Überlebensstrategien sind die Bärtierchen zu einem begehrten Forschungsobjekt geworden und wurden im Frühjahr sogar auf eine Reise zum Mond geschickt. Von ihren Fähigkeiten könnte künftig sogar die Medizin enorm profitieren.
Eigentlich hatten die Macher der unbemannten israelischen Mondlandemission ein regelrechtes Sakrileg begangen. Denn an Bord der am 22. Februar mittels einer Falcon-9-Rakete von Cape Canaveral ins All beförderten Raumsonde „Beresheet" befanden sich auch irdische Kleinstorganismen, sogenannte Bärtierchen. Obwohl bislang alle Raumfahrtnationen eigentlich äußerst penibel darauf geachtet hatten, möglichst keine biologischen Kontaminationen fremder Himmelskörper zu riskieren, weil dadurch dort eventuell anzutreffendes Leben vernichtet werden könnte.
Doch bei „Beresheet" handelte es sich um eine privat finanzierte Mission, für das das 2011 gegründete und vom israelischen Milliardär Morris Kahn finanziell unterstützte Unternehmen SpaceIL verantwortlich zeichnete. Auch hatten die Chinesen durch die Mondsonde „Change 4" Anfang Januar einen Behälter mit irdischen Fruchtfliegeneiern und Pflanzensamen auf dem Erdtrabanten ausgesetzt. Und laut der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA finden sich sogar auf den Oberflächen der ISS jede Menge Kleinstlebewesen wie Viren, Bakterien oder Pilze, die als blinde Passagiere mit ins All transportiert wurden. Und schließlich wurde auch schon bei der ersten US-Mondlandung menschliche DNA in Gestalt von in Müllbeuteln verpackten Fäkalien zurückgelassen.
Auf allen Kontinenten zu finden
Bekanntlich war die israelische Mondlandemission gescheitert, weil gegen Ende des Landeanflugs am Abend des 11. April die Triebwerke der Sonde ausgefallen waren und diese danach weitgehend ungebremst auf die Mondoberfläche aufgeschlagen war. Doch was geschah mit den Bärtierchen? Sie waren bestens geschützt in einer Kapsel namens „Mondbibliothek" verpackt. Deren Inhalt war von der im US-Staat Texas ansässigen „Arch Mission Foundation" zusammengestellt worden, die sich unter Leitung von Nova Spivack das Ziel gesetzt hat, eine Art Sicherungskopie des Planeten Erde im Sonnensystem zu verbreiten. Falls also in ferner Zukunft Aliens bei der Zwischenlandung auf dem Mond etwas über das Leben des womöglich zerstörten Planeten Erde erfahren möchten und zufällig neben den Überresten der Apollo-Missionen auch auf die Kapsel stoßen sollten, könnten sie darin neben den seltsamen Bärtierchen und menschlicher DNA auch noch so wichtige, auf hauchdünne Nickelscheiben als digitale Speicher-Discs gepresste Hinterlassenschaften der Menschheit wie Teile der englischen Wikipedia, Tausende Werke der Weltliteratur, oder die israelische Nationalhymne vorfinden.
Grundvoraussetzung wäre allerdings, dass die Kapsel den Sondenaufprall überstanden hat. Im besten Fall dürfte sie unzerstört auf dem Boden liegen, im Worst Case wurde ihr Schutzmantel zerstört und der gesamte Inhalt rund um den Einschlagsort verteilt. Exitus für die Bärtierchen? Nach Einschätzung von Nova Spivack unwahrscheinlich: „Wir glauben, dass die Überlebenschancen der Bärtierchen äußerst hoch sind." Steht also zu befürchten, dass den nächsten Astronauten, die nach aktuellen Nasa-Planungen wohl 2024 unserem Trabanten wieder einen Besuch abstatten werden, womöglich krabbelnde Bärtierchen begegnen werden? Auch das ist eher unwahrscheinlich. Erstens weil die Astronauten die winzig kleinen, größtenteils weniger als einen Millimeter großen Lebewesen ohne leistungsstarke Mikroskope gar nicht wahrnehmen könnten. Und zweitens weil selbst die robusten Bärtierchen zum Verlassen des todesähnlichen Ruhezustands, Kryptobiose genannt, in den sie vor Missionsbeginn versetzt wurden, auf jeden Fall Wasser, Sauerstoff und Nahrung benötigen.
Schon Ende des 18. Jahrhunderts hatte der italienische Naturforscher Lazzaro Spallanzani die außergewöhnliche Fähigkeit der Tiere zur scheinbaren „Wiederauferstehung von den Toten" bewundert und ihnen den heute noch gültigen Wissenschaftsnamen Tardigrada verliehen, was übersetzt „Langsamschreiter" bedeutet. Die Bärtierchen bilden mit ihren rund 1.000 Arten einen eigenen Stamm innerhalb der Häutungstiere. Ihre rein optische Ähnlichkeit der knubbeligen achtbeinigen Winzlinge mit Bären hatte schon der Quedlinburger Pastor Johann August Ephraim Goeze 1772 bemerkt und die Tiere so in seinem Werk beschrieben. Wenn es damals schon Gummibärchen gegeben hätte, wäre das sicher eine noch naheliegendere Assoziation gewesen. So ist es im Deutschen bei Bärtierchen oder Wasserbären als gebräuchlicher Name für die weltweit verbreiteten Tiere geblieben. Man findet sie auf allen Kontinenten einschließlich der Antarktis und in sämtlichen Ozeanen, auf hohen Gebirgszügen ebenso wie in der Tiefsee. Besonders gefällt es ihnen an Land in Mooskissen, weil diese sie kontinuierlich mit Feuchtigkeit versorgen können und Bärtierchen eigentlich nur bei ausreichender Wasseraufnahme so richtig aktiv werden können.
Mit Feuchtigkeit, sprich Wasser, könnte der Mond ihnen schon dienen. Schließlich konnte in tiefen Kratern am Südpol des Erdtrabanten Wassereis entdeckt werden. Auch wenn es für die speziell für die Mondmission durch Wasserentzug präparierten dehydrierten und gefriergetrockneten Mikroorganismen ein absoluter Glücksfall wäre, wenn sie von Winden ausgerechnet dorthin getragen werden könnten. Aber es ist immerhin möglich. Schwieriger dürfte es schon mit dem Sauerstoff werden, womit der Mond bekanntermaßen nicht gesegnet ist. Und auch das Nahrungsangebot dürfte ziemlich überschaubar sein, auch wenn die Tierchen diesbezüglich ziemlich genügsam und schon mit schlichten Algenzellen zufrieden sind. Ob sich etwas vergleichbar Nahrhaftes auf dem Mond für sie aufspüren lässt, ist aber eher unwahrscheinlich. Nicht einmal Nova Spivack geht davon aus, dass die Bärtierchen tatsächlich den Mond besiedeln werden, er hält es aber durchaus für möglich, die dehydrierten Tiere nach einem etwaigen Rücktransport zur Erde wiederbeleben zu können.
Allerdings haben die Bärtierchen schon häufig ihre in der gesamten Tierwelt schier unvergleichlichen Überlebenskünste und ihre unglaubliche Fähigkeit zur Anpassung an absolut lebensfeindliche Bedingungen unter Beweis gestellt. Genau aus diesen Gründen wurden sie schließlich auch für die israelische Mondmission ausgewählt. Extreme Kälte oder Hitze machen ihnen ebenso wenig aus wie stärkste Weltraumstrahlung. In Experimenten konnte nachgewiesen werden, dass sie ein Schockfrosten in 196 Grad kaltem, flüssigem Sauerstoff ebenso überstehen können wie eine Erhitzung auf 100 Grad Celsius. Wenn ihnen keine Feuchtigkeit zur Verfügung steht, versetzen sie sich selbst in eine Art getrockneten Zustand, das Tönnchenstadium, wobei der Stoffwechsel so stark eingeschränkt wird, dass man sie für tot halten könnte. Wie lange sie das durchhalten können, ist bislang unbekannt, aber manche Wissenschaftler halten 20 Jahre und mehr für realistisch.
Versetzen sich in Tönnchenstadium
Ein 2008 von Forschern der Universität Stuttgart durchgeführtes Experiment konnte belegen, dass die Tiere sogar völlig ungeschützt einen Aufenthalt von zehn Tagen im Vakuum des Weltalls und vielfältigen Strahlungen ausgesetzt teilweise überleben konnten. Das hatte selbst die damals beteiligten Wissenschaftler überrascht: „Es bleibt ein Rätsel, wie diese Tiere imstande sind, ihren Körper wiederzubeleben, nachdem sie eine Dosis UV-Strahlung von mehr als 7.000 Kilojoule pro Quadratmeter abbekommen haben – und dies auch noch bei Bedingungen des Raum-Vakuums, was die Empfindlichkeit der Strahlen noch erhöht." Die Nasa hat daher die Bärtierchen längst auch als bevorzugte Passagiere für Expeditionen in den interstellaren Raum erkoren. Weil man damit, so der zuständige Projektleiter Prof. Philip Lubin von der University of California, testen wolle, „ob terrestrisches Leben, wie wir es kennen, im interstellaren Raum existieren kann."
Die Vermutungen des Stuttgarter Forschungsteams, das die ungewöhnlichen Fähigkeiten der Bärtierchen zur Kryptobiose und zum Überstehen kritischster Umweltbedingungen mit einer speziellen DNA-Struktur und anderer Zellkomponenten, die Schäden verhindern, sowie mit einem effizienten System zur Reparatur geschädigter DNA zusammenhängen könnten, wurden inzwischen durch diverse Studien bestätigt. Es konnte nachgewiesen werden, dass die DNA der tapsigen Tierchen rund ein Sechstel Fremd-DNA von vornehmlich Bakterien, aber auch von Pflanzen, Pilzen und Archaen enthält, was durch einen horizontalen Gentransfer, bei dem bestimmte Abschnitte des eigenen Genoms ersetzt wurden, zustande gekommen ist. Zur Reparatur geschädigter DNA wird diese Fähigkeit zum Gentransfer als ungemein hilfreich angesehen. Und Bakterien zählen ohnehin zu den widerstandsfähigsten Organismen der Erde. Zusätzlich konnten bei den Tieren eine ganze Familie von Reparaturgenen sowie ein einzigartiges Protein, das sogar menschliche Zellen gegen Strahlung oder ätzende Flüssigkeiten schützen könnte, lokalisiert werden. Zudem konnte festgestellt werden, dass die Tiere im Ruhestandstadium das Wasser ihrer Zellen durch Proteine ersetzen, was ihnen das jahrelange Überleben in getrocknetem Zustand erlaubt. Weitere Bärtierchen-Forschungen könnten sehr hilfreich für die Medizin werden, wenn man daraus beispielsweise neue Erkenntnisse für das Einfrieren menschlicher Organe oder das Verlängern der Haltbarkeit von Blutkonserven gewinne könnte.