Die Krankenschwester Lisa Conrad half ihrer Freundin Susan D’Ippolito und deren Schwester Lisa, ihren unheilbar erkrankten Bruder Chet über mehrere Monate in Kalifornien zu pflegen und in den selbstbestimmten Tod zu begleiten.
Fau D’Ippolito, Frau Conrad, Chet litt an der Kortikobasalen Degeneration, einer unheilbaren Krankheit. Wie wäre sein Ende gewesen?
Susan D’Ippolito: Man verliert nach und nach alle körperlichen Funktionen. Am Schluss funktioniert nichts mehr, man kann nicht mehr gehen, nicht mehr die Arme benutzen, nicht mehr schlucken.
Lisa Conrad: Er hätte irgendwann nicht mehr atmen können. Er wäre erstickt oder an einer Lungenentzündung gestorben.
Susan D’Ippolito: Die Krankheit wurde diagnostiziert, als er 54 Jahre alt war. Er starb dann mit 57 am 13. März 2018.
In welchem Zustand war er, kurz bevor er starb?
Lisa Conrad: Er konnte noch essen und schlucken, aber man musste ihn füttern. Er war geistig noch klar. Von Dezember bis März ging es allerdings wöchentlich bergab. Als ich kam, konnte er noch aufstehen und mit Unterstützung laufen, dann ging es überhaupt nicht mehr. Er war sehr selbstbestimmt, sehr stolz, er wollte nicht, dass man ihn im Bad sieht. Er schämte sich oft, wenn man ihn waschen wollte oder zur Toilette brachte, die Intimsphäre ging zu 100 Prozent verloren.
Susan D’Ippolito: Chet hat dann gesagt, dass er so nicht leben möchte. Mein Bruder war immer sehr sportlich, er war Bergsteiger, Skifahrer, Snowboardfahrer und surfte jeden Tag. Es war schlimm für ihn. Er war nicht mehr er selbst. Er war oft aggressiv, resignierte. Er war natürlich auch dankbar, dass wir da waren.
Was passierte dann, als er sich entschieden hatte?
Susan D’Ippolito: Es gab einen Arzt, der Chet immer medizinisch begleitet hatte. Der Arzt musste bescheinigen, dass der Patient höchstens noch sechs Monate zu leben hat. Das ist natürlich manchmal schwer zu sagen.
Lisa Conrad: Der Arzt hat dann in der Anwesenheit von zwei Zeugen, das waren Susans Schwester und ich, mit Chet gesprochen. Er hat ihm viele Fragen gestellt, es ging darum, ob Chet sich wirklich sicher ist und wie das ablaufen wird. Das Gespräch dauerte eine Stunde, wir mussten als Zeugen dann unterschrieben. Die nächste Auflage war, dass zwei Wochen später noch mal ein anderer Arzt kommt, der psychiatrisch geschult ist. Der hat auch noch mal mit Chet das Ganze besprochen, auch mit Zeugen, die wieder unterschreiben mussten. Und dann noch mal zwei Wochen später kam der erste Arzt, und fragte noch mal, ob Chet das immer noch will. Er sagte Ja. Dann hat der Arzt ein Rezept ausgestellt und die Apotheke hat das Päckchen geschickt mit dem „End of life"-Medikament und einer Gebrauchsanweisung. Man kann das dann alleine machen, der Arzt darf das nicht. Aber Chet wollte den Arzt dabei haben.
Wie ging es dann weiter?
Lisa Conrad: Er hatte dann das Pulver zu Hause, eine Mischung aus einem Medikament, das die Herzfrequenz senkt und hochdosiertem Morphin, damit man einschläft, die Atmung runtergeht und das Herz aufhört zu schlagen. Ab dem Moment, als die Medikamente im Haus waren, hat er nicht mehr so viel darüber gesprochen. Er wirkte beruhigt, wusste dass er nicht als Schwerstpflegefall enden, muss und selbstbestimmt eine Entscheidung treffen kann. Schließlich gehörte dieses Leben auch nur ihm!
Hatte er Zweifel?
Lisa Conrad: Zweifel auf gar keinen Fall, aber natürlich Angst. Er hat viel ferngesehen, hat sich abgelenkt.
Wie ging es Ihnen, Frau D’Ippolito?
Susan D’Ippolito: Es war sehr schwer. Er hatte sich ein Datum ausgesucht, der 13. März. Warum, wissen wir nicht. Ich fragte ihn, er meinte einfach, es ist ein schöner Tag. Man fühlt sich wie in einem Film, dass das alles nicht wahr ist. Er hat oft gesagt, jetzt ist es das letzte Mal, an dem ich das oder das mache. Er wollte noch einmal Essen gehen in sein Lieblingsrestaurant, einen Tag vorher. Das haben wir dann gemacht.
Haben Sie mal daran gedacht, ihn davon abzubringen?
Susan D’Ippolito: Ich habe ihn oft gefragt, ob er sicher ist. Ich habe ihm gesagt, du musst das nicht tun. Du kannst es dir wieder anders überlegen.
Wären Sie froh gewesen?
Susan D’Ippolito: Nein, gar nicht. Ich habe abends gebetet, dass er es durchzieht. So schlimm sich das anhört. Aber es war eine sehr schlimme Zeit. Mein Bruder war nicht mehr da. Und sein Leid, sein Frust, das ging über Jahre. Wir haben auch viel versucht, ihm zu helfen, haben es zum Beispiel auch mit einer Stammzellentherapie versucht. Wir haben erst mal die Hoffnung nicht aufgegeben, haben alles Mögliche versucht. Wir haben mit ihm Übungen gemacht, damit er die Muskeln behält, falls doch noch ein Wunder geschieht. Doch dann konnte er gar nichts mehr machen. Wir mussten ihn füttern und waschen und zigmal am Tag hochheben, weil er nicht mehr hochkam. Zum Beispiel zum Essen, zur Toilette und so weiter.
Lisa Conrad: Er hat nachts über das Babyfon gerufen, wenn er zur Toilette musste oder zugedeckt werden musste. Schon Kleinigkeiten wie sich zum Beispiel am Kopf kratzen waren nicht mehr möglich. Wenn sich jemand entscheidet zu sterben, dann kann man natürlich die Zeit vorher intensiver nutzen, man kann noch Sachen machen, die man möchte. Viele Freunde von ihm sind noch gekommen. Wir haben noch viel unternommen, versucht ihm Wünsche zu erfüllen. Es war nicht nur traurig, sondern auch eine Zeit, die jeder sehr bewusst erlebt hat. Man lernt den Augenblick zu schätzen!
Was wollte er denn noch tun?
Lisa Conrad: Wir haben zum Beispiel noch einen Roadtrip nach Tijuana gemacht, weil er noch einmal an den Strand wollte, an dem er immer zum Surfen war.
Susan D’Ippolito: Doch die Persönlichkeit veränderte sich auch.
Lisa Conrad: Seine Persönlichkeit änderte sich zunehmend, er wirkte teilnahmsloser, längere Gespräche machten ihn müde, er schaute sehr viel Fernsehen, was ihn abzulenken schien. Er war sicherlich am Ende nicht mehr er selbst, beharrte eine Woche vor seinem Tod noch auf einem Zahnreinigungstermin und war sehr fixiert auf seine Vitamintabletten, selbst einen Abend vor seinem Tod. Uns erschien dieses Verhalten unsinnig, für ihn bedeutete es aber wohl ein Stück Normalität zu behalten.
Wie haben Sie den entscheidenden Tag erlebt?
Lisa Conrad: Wir sind morgens aufgestanden, am 13. März, und niemand wusste, ob er es wirklich macht. Es waren noch Freunde da, denn er hat in einer WG gewohnt. Die Nachbarn kamen dann, ebenfalls gute Freunde. Chet saß im Stuhl und hat ferngesehen. Ich habe ihn dann gefragt, ob er es wirklich machen will. Er musste nämlich eine Stunde vorher ein Medikament einnehmen, damit er nicht erbricht. Das hat er dann genommen, aber selbst da wussten wir nicht, ob er das andere dann auch nimmt. Der Arzt hatte mir erklärt, dass das Pulver sehr bitter ist, weil es hochkonzentriert ist. Wir sollten es in ein volles Glas Orangensaft geben. Meine größte Angst war, dass er nicht alles trinkt, weil er Angst bekommt. Dann können natürlich Nebenwirkungen auftreten, weil nicht alles im Körper ist. Ich hatte Angst, dass sein Tod schlimm werden könnte. Doch er trank es mit hundertprozentiger Überzeugung zügig aus.
Wie ging es Ihnen?
Susan D’Ippolito: Das war schlimm. Wir wussten, er hat noch fünf Minuten, bevor er einschläft und etwa eine Stunde, bis der endgültige Tod eintritt. Wir haben ihm noch gesagt, wie sehr wir ihn lieben.
Lisa Conrad: Als er es getrunken hatte, hat jeder angefangen zu weinen, er auch. Das war schlimm und wahnsinnig berührend.
Susan D’Ippolito: Dann ist er eingeschlafen. Sein Hund kam, sein bester Freund, hat sich zu ihm gelegt und die Tränen weggeleckt und ist bei ihm geblieben.
Lisa Conrad: Ich habe seitdem weniger Angst vorm Sterben.
Frau Conrad, wie hat dieses Erlebnis Sie als Krankenschwester beeinflusst?
Lisa Conrad: Man gerät in diesem Beruf oft an seine Grenzen, besonders in der Betreuung von sterbenden Patienten und den Angehörigen. Meine Zeit in San Diego und die Zeit mit Chet und seiner Familie war inspirierend, und die Art zu sterben, die Chet gewählt hat, war sicherlich respektvoller, friedlicher und vor allem herzlicher als auf einer Intensivstation, gefesselt an Maschinen und der Entscheidung anderer ausgeliefert. Natürlich ist dies nicht immer möglich und nicht immer umsetzbar. Selbstbestimmt sterben zu können, sollte nicht verboten sein und Sterbehilfe muss auch in Deutschland auf den Weg gebracht werden.
Susan D’Ippolito: Meine Mutter ist kurz vorher gestorben. Sie hatte Krebs. Ihre Leber versagte in den letzten Tagen, sie ist innerlich verblutet, Blut aus den Augen, aus dem Mund. Das war das Schlimmste. Meine Mutter hätte das nie gewollt. Der Vater meiner Kinder ist danach gestorben. Auch palliativ, aber unter Schmerzen. Ich habe drei verschiedene Fälle erlebt. Ich habe den Weg der Sterbehilfe als den besseren Weg empfunden.