Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing lehrt am Institut für Ethik und Geschichte der Universität Tübingen. Im Interview spricht er über die Vor- und Nachteile der Sterbehilfe.
Herr Professor Wiesing, welchen Vorteil hat Sterbehilfe?
Das ist eine große Frage, der wir eine andere große Frage voranstellen müssen: Was ist das Motiv der Moderne?
Was ist das Motiv der Moderne?
Die Freiheit. Das Grundgesetz der Bundesrepublik soll den Menschen eine eigene Lebensgestaltung ermöglichen. Ein guter Staat ist der, der sich bei der Bewertung eines guten Lebens zurückhält und nur unterschiedliche Vorstellungen davon organisiert. Das gilt auch für das gute Sterben. Das Hauptmotiv ist, dass man in einer guten Gesellschaft mit verschiedenen Religionen, Agnostikern, Atheisten und was es sonst alles gibt, nicht mehr vorschreiben kann, was die gute Art zu sterben ist. Das ist jedem selbst überlassen. Es ist eine Privatangelegenheit. Aber eine, die mit Vorsicht reguliert werden sollte, weil es eine heikle Angelegenheit ist. Wie man lebt und wie man stirbt, sollte die eigene Entscheidung jedes Einzelnen sein.
War Sterbehilfe in Deutschland jemals erlaubt?
Es gibt ja verschiedene Formen der Sterbehilfe. Zum einen ist das die Tötung auf Verlangen, wenn also jemand jemandem eine Giftspritze auf Verlangen gibt. Das war in der Bundesrepublik Deutschland immer verboten. Der Suizid dagegen ist in der Bundesrepublik immer erlaubt gewesen.
Vorher nicht?
Im Kaiserreich und vorher war das anders, da wurde man nicht auf einem anständigen Friedhof beerdigt, wenn man sich selbst das Leben genommen hat.
Das hat sich längst geändert. Nicht nur der Suizid ist in Deutschland längst erlaubt.
Auch die Beihilfe ist heutzutage weiterhin zulässig. Man muss aber einschränken: Verboten ist die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid. Geschäftsmäßig heißt nicht zwingend zum Gelderwerb. Es bedeutet vielmehr, dass die Beihilfe zum Suizid auf Wiederholung angelegt ist. Derzeit ist die Situation folgende: Der Suizid ist straffrei und die Beihilfe ist auch straffrei, sofern sie nicht geschäftsmäßig gemacht wird. Und derjenige, der die Beihilfe leistet, muss verwandt oder nahestehend sein zu demjenigen, dem er die Beihilfe gibt.
Aber ist ein Arzt nahe stehend?
Das ist die Frage! Ob man als Arzt dem Patienten nahe genug steht oder nicht, darüber kann man diskutieren. In den meisten Fällen ist man das nicht, in manchen Fällen mag das sein. Die Situation führt aber ohnehin zu der misslichen Situation, dass Ärzte sich weitestgehend zurückhalten. Denn der Beruf ist auf Wiederholung ausgelegt. Darüber hinaus gibt es die sogenannte passive Sterbehilfe: das Absetzen oder nicht Ansetzen von lebensverlängernden Maßnahmen. Seit 2011 ist sie eindeutig geregelt. Ein Patient hat das Recht, jede Maßnahme zu verweigern. Wenn man klar gesagt hat, man möchte nicht beatmet werden, müssen Ärzte das akzeptieren. Man kann dann also eine Beatmungsmaschine abschalten.
Man ist als Arzt also in den meisten Fällen nicht nahe stehend und darf keine Beihilfe zur Selbsttötung durchführen. Halten Sie das für richtig?
Das ist ja etwas, das gerade vom Bundesverfassungsgericht verhandelt wird. Ich halte das für eine äußerst unglückliche Situation, weil sie dazu führt, dass Menschen, die wohlbedacht bei klarem Verstand in einer aussichtslosen Situation keine Experten haben, die Beihilfe zum Suizid leisten können. Dieses Jahr dürfte noch ein Urteil kommen. Was passiert, das müssen wir mal abwarten. Wir wissen, dass 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung es sich vorstellen können, Beihilfe zur Selbsttötung in Anspruch zu nehmen. Das ist in allen modernen Industrienationen so. Insofern geht die jetzige Regelung an der Bevölkerung vorbei. Ich halte sie für nicht mehr zeitgemäß. Selbst der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat vor dem jetzigen Paragrafen 217 gewarnt. Schauen wir also mal, was das Bundesverfassungsgericht sagt. Einige Kommentatoren gehen davon aus, dass das Gesetz vom Gericht kassiert wird.
Kann ein Arzt oder ein Sterbehilfeverein fundiert entscheiden, ob der betroffene Mensch wirklich ernstgemeint und nachvollziehbar aus dem Leben scheiden will?
Stellen wir doch mal eine andere Frage: Weiß ich, ob jemand aus freien Stücken heiratet?
Hoffen wir es mal, aber nein, tatsächlich wissen kann man es nicht.
Ich habe mal vor einiger Zeit mit Kollegen einen Gesetzentwurf vorgelegt. Darin heißt es: Man muss mindestens zwei Ärzte beurteilen und zehn Tage zwischen zwei Terminen verstreichen lassen, damit klar ist, dass der Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, stabil ist. Dieser Gesetzentwurf ist dann leider nicht weiter diskutiert worden.
Unter welchen Umständen könnte ein Arzt Ihrer Meinung nach Beihilfe zur Selbsttötung leisten?
Man muss unterscheiden. Die Frage ist: Wann sollen Ärzte das machen? Wir wissen, dass ein Großteil der Suizide affektive Kurzschlussreaktionen sind. Es ist ein stabiler klarer Wille, den wir hier dazu brauchen, und bei Kurzschlussreaktionen sollte man keine Beihilfe leisten. Wenn der Wunsch nach Beihilfe aus unerträglichen Schmerzen kommt, würde ich sagen, machen wir erst mal eine anständige Schmerztherapie. Oder wenn eine Palliativmedizin noch nicht vorhanden ist, dann besorgen wir erst einen palliativmedizinischen Platz und dann reden wir darüber, Beihilfe zum Suizid zu leisten. Ärzte müssten sicher sein, dass es ein stabiler, wohlüberlegter Wille des Patienten ist, und dass es keine anderen Möglichkeiten gibt. Und wir müssen sicherstellen, dass der Arzt abgesichert ist. Wir müssen genau festlegen, wann eine Profession wie die ärztliche dem Ansinnen stattgeben soll. Im Augenblick geht es ja nicht, aber wenn es so käme, brauchen wir sorgfältige, gute Vorsichtsmaßnahmen. Man muss das Rad freilich nicht neu erfinden. Oregon in den Vereinigten Staaten hat etwa 20 Jahre Erfahrung mit der Beihilfe zum Suizid.
Ist Sterbehilfe in den USA generell erlaubt?
Nein. In Vermont, Oregon, Montana, Kalifornien, Colorado, der Hauptstadt Washington und im Bundesstaat Washington ist die Beihilfe zum Suizid derzeit erlaubt. Nicht aber die Tötung auf Verlangen. In den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Kanada ist die Tötung auf Verlangen und die Beihilfe zum Suizid erlaubt.
Was ist der Unterschied zwischen Töten auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid?
Der Unterschied ist folgender: Bei der Beihilfe zum Suizid bleibt die Tatherrschaft beim Patienten. Er ist es selbst, der den Schritt tut. Er bekommt also einen Giftbecher, den er zu sich nimmt. Beim Töten auf Verlangen verabreicht jemand anderes dem Patienten eine Giftspritze.
Der Vorteil der Beihilfe zum Suizid ist, dass sie deutlich vorsichtiger angewandt wird. Es gibt kaum Steigerungsraten, die absoluten Zahlen sind gering. Es gibt wohl eine evolutionär angeborene Hemmung zur Selbsttötung. Die Tötung auf Verlangen würde diese eigene Scheu umgehen.
Für welche Art der Sterbehilfe wären Sie?
Die Tötung auf Verlangen ist politisch in Deutschland verboten. Niemand diskutiert darüber. Insofern muss ich mich nicht damit auseinandersetzen. Überdies glaube ich, dass die kumulativen rechtspragmatischen Argumente für eine Begrenzung zur Beihilfe sprechen.
Lassen Sie uns über den Missbrauch der Sterbehilfe sprechen, der bei Gegnern immer als Argument contra Sterbehilfe zur Sprache kommt.
Die Motivation hinter all dem, das Antriebsmotiv, ist die Selbstbestimmung des Patienten. Das ist etwas, das die heutige Diskussion radikal von der NS-Zeit unterscheidet. Die Tötungen unter den Nazis damals waren Mord. Die Menschen, die davon betroffen waren, waren nicht in einer ausweglosen Situation und haben auch nicht darum gebeten. Sie wurden heimtückisch ermordet. Heute ist das Hauptmotiv für Sterbehilfe die Selbstbestimmung. Die Gefahr besteht nun darin, dass es eine Praktik gibt, die das Hauptmotiv aus den Augen verliert, aus diversen Gründen. Dieser Gefahr, das Urmotiv aus den Augen zu verlieren, sollte man durch gute, strenge, wohlüberlegte Vorsichtsmaßnahmen Einhalt gebieten. Und durch wissenschaftliche Begleitforschung. Wir müssen davon ausgehen, dass Sterbehilfe schon heute heimlich praktiziert wird, in einer Grauzone. Aber wir haben keine verlässlichen Erkenntnisse. Ich würde sehr für ein zentrales Register plädieren und gleichzeitig reflexiv arbeiten, also die Fakten auf den Tisch und sie sich ansehen.
Ärzte haben den Eid des Hippokrates abgelegt, der besagt, dass sie Patienten stets helfen müssen. Schließt das die Selbsttötung nicht aus?
Ärzte schwören keinen Hippokratischen Eid, aus gutem Grund, sondern das Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes. Grundsätzlich sind Ärzte danach dem Leben verpflichtet, aber auch der Würde des Patienten. Die Frage ist doch: Ist die Beihilfe zum Suizid eine Hilfe für den Patienten? Aber es kann Situationen geben, in denen sie mehr der Würde verpflichtet sind. Die Würde steht immer höher als das Leben. Hinter allem steckt das Kernproblem der Pluralität. Es gibt Menschen, für die der Tod als Ausweg nie eine Hilfe wäre, aus religiösen oder anderen Gründen. Das muss man respektieren und schützen. Es gibt aber auch Menschen, für die das konkret eine Hilfe wäre. Das ist eine Frage von Pluralität. Zwei Drittel der Ärzte wollen eine Beihilfe zum Suizid auf keinen Fall durchführen, ein Drittel schon. So funktionieren aber moderne, pluralistische Gesellschaften. Das wird sich auch nicht ändern. Wir müssen als Ärzte ganz vorsichtig sein. Ärzte müssen auch ein Verweigerungsrecht haben, wenn die Erlaubnis zur Beihilfe zum Suizid kommen sollte.
Noch ist sie aber nicht da, und Menschen fahren zuweilen zum Sterben in die Schweiz. Ist das ein Problem?
Bei der Beihilfe zum Suizid ist das in der Schweiz möglich. Aber möchten Sie die letzten Stunden Ihres Lebens in einem Drei-Sterne-Hotel in der Schweiz verbringen, nur mithilfe von fremden Menschen?
Ich kann es mir nicht vorstellen.
Ich auch nicht. Das ist doch unwürdig mit einem Sterbehelfer, den Sie nicht kennen. Die Menschen möchten, dass das im Kreis der Familie passiert, in der gewohnten Umgebung, und sie möchten Hilfe von den Menschen, denen sie vertrauen, zum Beispiel vom Hausarzt.
Aber es ist doch auch ein Problem, wenn solche Sterbehilfevereine Profit generieren?
Das ist ein anderes Thema, das hat nichts mit der Schweiz zu tun. Jede Organisation entwickelt sehr schnell Eigeninteressen, auch finanziell. Wir sollten die Sterbehilfe deshalb auf die Ärzteschaft begrenzen und nur die ärztliche Beihilfe erlauben. Finanzielle Beweggründe dürfen keine Rolle spielen. Zwar sind Sterbehilfevereine keine kommerziellen Vereine, aber wenn sie eine große Infrastruktur aufgebaut haben, dann haben sie in der Regel ein Interesse, die Infrastruktur zu behalten. Und daraus entwickelt sich immer Eigeninteresse.