Vor dem Formel-1-Saisonfinale am Sonntag in Abu Dhabi erlebte Ferrari den Super-GAU beim Brasilien-GP ohne Zielankunft. Red-Bull-Pilot Max Verstappen gewann vor Pierre Gasly im Toro Rosso. Champion Lewis Hamilton rutschte nach einer Zeitstrafe von Platz drei auf Rang sieben.
Beginnen wir unseren Rückblick auf einen emotional geladenen und total verrückten Schlussakkord des Großen Preises von Brasilien. Fünf Runden vor Ende der 71 Umläufe im Autodromo José Carlos Pace im Stadtteil Interlagos am Rande des Molochs von Sao Paulo stockte Millionen Ferrari-Fans der Atem: In Runde 66 eskalierte der seit Monaten tobende Kampf zwischen Platzhirsch Sebastian Vettel und dem aufmüpfigen Stallkollegen Charles Leclerc – es kam zum Crash der roten Kampfhähne. Und die Motorsport-Königsklasse Formel 1 hatte ihren Super-GAU. Dieser größte anzunehmende Unfall ereignete sich nach einem Überholmanöver. Aber einem Manöver besonderer Art. Zwei Kollegen aus dem gleichen Rennstall wollten als Sieger aus dem Rad-an-Rad-Duell siegreich hervorgehen. Die Situation: Der junge Monegasse hatte gerade den vor ihm fahrenden Deutschen im Kampf um Position vier mit frischen Reifen überholt. Es war ein Manöver, das der 22-jährige Lehrling gegenüber dem 32-jährigen Routinier „sehr genossen“ hat, wie Leclerc später zitiert wird. Bereits in der FORUM-Formel-1-Saisonvorschau 2019 ließ der forsche Jungspund aus der Ferrari-Talentschmiede verlauten, dass er nicht gewillt sei, den Wasserträger für Vettel beziehungsweise den Adjudanten zu spielen.
„Mein Gott, muss das sein. so ein Bockmist“
Zurück zu dem Überholmanöver, das Vettel natürlich nicht auf sich sitzen lassen wollte und konterte. Er, der viermalige Champion, schien schon sauber an dem Monegassen vorbei zu sein. Da Leclerc Vettels Absicht erkannte, schlug dieser seinem Teamkollegen die Tür vor der Nase zu. Bei diesem Versuch berührte Vettels linker Hinterreifen das rechte Vorderrad von Leclercs Ferrari. An Leclercs rotem Renner brach vorne rechts die Radaufhängung, an Vettels Lina (so der Taufname seines Dienstautos 2019 mit der Nummer fünf), löste sich der linke Hinterreifen und flatterte nur noch auf der Felge im Fahrtwind. Das Rennen der beiden Kampfhähne war aus und vorbei. Beide mussten aussteigen – und aufgeben. Zuvor aber fluchte im Cockpit-Funk der eine noch über den anderen. „Ich habe einen Reifenplatzer, sorry“, brüllte Vettel im Boxenfunk auf Englisch, bevor es ihm auf Deutsch unmissverständlich herausbrach: „Mein Gott, muss das sein. So ein Bockmist.“ Leclerc beschwerte sich nicht minder laut und nachhaltig: „Was zur Hölle soll das?“, funkte er fragend an seine Box.
Die Schuldfrage nach diesem Ferrari-Debakel, dem Fiasko und Desaster dieser beiden roten Zoffrivalen und Dickköpfe, war anschließend natürlich Top-Thema. Vorab aber waren sich alle Beobachter einig: Vettel hätte während des Überholvorgangs seine gerade Linie halten müssen. Der Platz dazu war da. Leclerc sagte: „Seb hat es auf der Außenseite probiert, wo wenig Platz war, und ich habe ihm diesen Platz gelassen.“ Wer wem wo und wann aber Platz gelassen hat, wird im Ferrari-Hauptquartier Maranello nicht nur unter vier Augen geklärt werden. Für Ferrari war es der erste Doppelausfall seit dem Grand Prix in Singapur 2017. Damals fuhren sich Vettel und sein Wohlfühl-Teamkollege Kimi Räikkönen kurz nach dem Start gegenseitig in die Karre. Für Vettel endete beim Samba-Grand-Prix in Brasilien sein Jubiläum mit 100 Grand-Prix-Einsätzen für Ferrari mit einem Debakel.
„Wir werden den Vorfall natürlich intern klären und unsere Fahrer zurechtweisen“, ließ der von seinen hochdotierten Angestellten enttäuschte Ferrari-Teamchef Mattia Binotto wissen. „Typische Sonntage gibt’s bei mir nicht. Ich mag Überraschungen, es muss immer etwas anderes los sein“, sagte der 50-jährige Schweizer Ingenieur mit italienischem Pass im RTL-Interview. Ob für ihn aber Überraschungen mit zwei Crash-Ausfällen seiner Fahrer wie in São Paulo willkommen sind, bleibt doch höchst umstritten. Seine nicht nur italienischen Kritiker werfen dem „Capo“ (deutsch: Anführer, Kopf eines Teams) vor, seine beiden Alphatiere Vettel und Leclerc nicht im Griff zu haben. Derzeit steht „Capo“ Binotto nach dem Totalausfall seiner beiden Top-Piloten unter schwerem Beschuss. Der Nachfolger seines vor einem Jahr gefeuerten Teamchefs Maurizio Arrivabene ist als Krisenmanager gefordert. Seinen Fahrern bläute er immer wieder ein, dass nicht der Einzelne, sondern das Team über allem steht.
Diese „Binotto-Philosophie“ scheinen seine beiden Fahrer immerhin schon mal verinnerlicht zu haben. Gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen Vettel und Leclerc waren nämlich ziemliche Mangelware. So antwortete Vettel auch ganz im Teamgeist gegenüber RTL: „Es ist blöd fürs Team, wenn zwei Autos am Ende die Zielflagge nicht sehen.“ Mit versteinerter Miene und ziemlich angefressen schiebt der Heppenheimer hinterher: „Es ist einfach nur bitter.“ Aber bitter hin oder her, der Auftritt der beiden roten Kampfhähne war ein Desaster mit weltweit negativen Schlagzeilen. Für RTL-Experte und Ex-Formel-1-Pilot Christian Danner (36 Grands Prix) war noch während der RTL-Übertragung sonnenklar, dass nicht nur die italienische Presse Ferrari und seine Piloten nach diesem Fiasko „in alle Einzelteile zerlegen“ wird. Erwartungsgemäß titelte „La Republica“: „Krieg im Hause Ferrari! Trauriger brasilianischer Karneval in Interlagos für Maranello.“ Die Abendzeitung „Corriera della Sera“ schrieb: „Die beiden Piloten zeigen sich wie unerzogene Kinder, die sich gegenseitig beschuldigen. Ferrari geht zerstört aus dem Brasilien-Grand Prix hervor, während Max Verstappen grinst wie ein Hund.“
„Es ist einfach nur bitter“
Und dieser „grinsende Hund“ hat allen Grund dazu. Als „fliegender Holländer“ hat Max Verstappen (Red Bull Racing) wesentlich dazu beigetragen, dass aus dem anfangs wenig spektakulären, fast einschläfernden und ereignisarmen Rennen doch noch ein Quotenhit (5,01 Millionen Zuschauer bei RTL) geworden ist. Die Safety-Car-Phasen, in denen Bernd Mayländer die Rudel-Herde wieder einfing und zähmte sowie der aufsehenerregende Crash kurz vor Schluss sorgten für eine Aufwachphase mit enormer Spannung. In einem durchgeschüttelten Fahrerfeld behielt „Bulle“ Max Verstappen als Pole-Setter – er startete zum zweiten Mal als Erster – immer und überall Übersicht und Nerven. Mit seinem dritten Saisonsieg und insgesamt achtem Formel-1-Karrieretriumph steht er auf einer Stufe mit dem belgischen Formel-1-Idol Jacky Ickx, beschert Arbeitgeber Red Bull den 62. Triumph und Motorenpartner Honda den 75. Erfolg. Der Rennsonntag war der Geburtstag von Soichiro Honda, dem Gründer von Honda. Er wäre am Motoren-Jubiläumstag 113 Jahre alt geworden.
Mit seinen 22 Jahren wird Jung-Bulle Max Verstappen in der Szene schon als künftiger Champion und Hamilton-Nachfolger gehandelt. Bei der Siegerzeremonie stand der alte und neue Weltmeister noch auf Platz drei des Podiums. Sein Teamkollege Valtteri Bottas war bereits in Runde 56 nach einem Motorschaden (Ölverlust) ausgeschieden. Ein enttäuschendes Ergebnis seiner beiden Alphatiere für Mercedes-Teamchef Toto Wolff, der erstmals einem Grand Prix seit seiner Amtszeit 2013 als Big-Boss ferngeblieben ist – wegen wichtiger Termine in Europa.
Mercedes-Star Hamilton wurde sein dritter Podiumsplatz aber nachträglich nach einer Fünf-Sekunden-Strafe wegen seines Remplers gegen Verstappen-Teamkollege Alex Albon (Red Bull) sogar noch aberkannt. Hamilton hatte den Thailänder berührt und umgedreht und fiel auf Rang sieben zurück. Der sechsmalige Weltmeister erwies sich aber als fairer Sportsmann und akzeptierte diese Entscheidung ohne Murren: „Es war eindeutig mein Fehler, Alex hat großartige Arbeit verrichtet, und ich möchte mich bei ihm entschuldigen.“ Für ihn rückte der Spanier Carlos Sainz im McLaren auf den dritten Platz hinter den Franzosen Pierre Gasly im Toro Rosso. Gasly drehte nach der Zieldurchfahrt völlig durch, war außer Rand und Band – und sprachlos. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, so emotional ist es. So was vergisst man nicht. Ich habe hart gekämpft und bis zum Schluss daran geglaubt. Im Auto habe ich mich geduckt, um möglichst schnell zu sein“, sagte der doch nicht ganz sprachlose Zweite im Fahrerinterview mit Brasiliens Ex-Vizechampion (2002 und 2004) und Formel-1-Rekordhalter (323 Rennen) Rubens Barrichello. Gasly konnte zuvor mit mangelnden Leistungen im Red-Bull-Team nicht überzeugen und wurde in der Sommerpause ausgemustert und ins „Bullen“-Schwesterteam Toro Rosso zurück- beziehungsweise strafversetzt. Der 1,77-Meter-Mann aus Rouen und der Spanier Carlos Sainz, Sohnemann des zweimaligen Rallye-Champions (1990 und 1992) Carlos Sainz, feierten die ersten Formel-1-Podiumsplätze ihres Lebens. Gasly, 23 Jahre jung, benötigte für den Auftritt auf dem Siegerpodest 46 Anläufe, der 25-jährige Sainz 101 Rennen. Der stolze Spanier aber krönte sich in São Paulo zum Fahrer des Tages. Wegen einer Motorenstrafe vom letzten Platz 20 gestartet, machte er – auch wenn er von Hamiltons Strafe profitiert hat – richtig fette Beute.
„Ich habe bis zum Schluss daran geglaubt“
Auf Beutejagd werden die Formel-1-Piloten an diesem Sonntag, 1. Dezember, letztmals in dieser Saison gehen. Der Wüsten-Grand-Prix in Abu Dhabi (14.10 Uhr RTL/Sky) ist die 21. Station des rasenden Wanderzirkus’. Zum elften Mal gastiert die Königsklasse des Motorsports am Persischen Golf. Von 2014 bis 2018 ging Mercedes fünfmal in Folge als Sieger in den Winterurlaub. Dreimal (2014, 2016, 2018) hieß der Sieger Lewis Hamilton, jeweils einmal Nico Rosberg (2015) und Valtteri Bottas (2017). Zur Erinnerung: 2010 fing Sebastian Vettel im Red Bull Fernando Alonso, der Siebter wurde, noch ab und feierte seinen ersten von vier WM-Titeln. Aktuell ist Vettel WM-Fünfter (230 Punkte) hinter Teamkollege Leclerc (249) und Verstappen (260). Die Plätze eins und zwei mit Hamilton (387) und Bottas (314) sind bereits fest vergeben und uneinholbar.