Häusliche Gewalt zu melden, ist ein schwerer Schritt. Eine erste Anlaufstelle kann die Beratungs- und Interventionsstelle für Opfer häuslicher Gewalt sein. Christine Theisen ist dort seit zehn Jahren tätig und weiß, wie schwer der Weg aus der Falle oft fällt.
Frau Theisen, wann und wie wenden sich Betroffene an die Beratungs- und Interventionsstelle?
Wir haben eine enge Kooperation mit der saarländischen Polizei. Das ist eine Besonderheit dieser Stelle. Mit Einverständnis der Betroffenen schickt die Polizei uns ein Fax, und wir nehmen schnellstmöglich Kontakt für eine Erstberatung auf. Das macht etwa 85 Prozent unserer Fälle aus, der Rest sind Selbstmelder. Es melden sich auch Dritte bei uns. Sei es, weil sie selbst Beratung dazu wollen, wie sie sich verhalten sollen, oder um Betroffene an uns zu vermitteln. Zudem sind wir im Saarland die einzige Stelle, an die sich auch männliche Opfer zur Beratung wenden können. Etwa fünf Prozent unserer Fälle sind Männer. Die Dunkelziffer ist dort vermutlich viel höher – bei Männern ist das noch immer tabuisierter als bei Frauen. Wir haben im Jahr etwa 650 bis 750 Fälle. Etwa die Hälfte nimmt auch unsere Beratung in Anspruch. Gerade in der Weihnachtszeit haben wir besonders viele Meldungen. Ich denke, das hängt mit einem gewissen Harmonieanspruch zusammen, der nicht erfüllt wird.
Ab wann spricht man überhaupt von häuslicher Gewalt?
Häusliche Gewalt fängt schon damit an, dass ein Partner dem anderen verbietet, mit jemand anderem wegzugehen. Dass er das Handy kontrolliert. Besitzansprüche stellt. Bei dieser psychischen Gewalt fängt es an. Das geht dann weiter mit Bedrohungen: „Wenn du das und das machst, dann passiert was!" Oder auch Entwertungen: „Du kannst nichts. Du bist nichts." Weiter geht es mit körperlicher Gewalt. Wegschubsen, treten oder schlagen – bis hin zu schwersten Formen von Gewalt, wie wegsperren, Freiheitsberaubung oder auch Vergewaltigung. Es ist vielen nicht klar, dass diese subtilen psychischen Geschichten auch schon Gewalt sind. Viele Frauen sehen etwas, wie das ständige Kontrollieren des Handys als selbstverständlich an. Dabei ist so ein Verhalten oft schon der Anfang von Gewaltbeziehungen. Es gibt aber auch wechselwirkende Dynamiken, in denen sich die Partner gegenseitig immer weiter hochschaukeln und beide ihren Anteil dazu beitragen. Da bekommen wir teilweise auch Faxe, wo die Frau den Mann und der Mann die Frau angezeigt hat. Bei weiblichen Tätern ist es häufig vorrangig die psychische Gewalt. Natürlich gibt es aber auch Frauen, die ihre Partner schlagen.
Gibt es also klassische Frühwarnsignale?
Dieses entwertende, demütigende Verhalten: „Ohne mich bist du nichts. Du kannst nichts. Du bekommst eh keinen anderen mehr." Solche Geschichten. Dieses einengende und entwertende Benehmen – das sind Warnsignale. Je nachdem, wie reflektiert ein Partner ist, sieht er dieses problematische Verhalten auch ein, und das Paar bekommt die Kurve. Aber es ist auch oft der Einstieg. Oft, wenn es dann einmal zur Gewalt kam – gerade in diesen klassischen Gewaltbeziehungen – kommt das auch wieder vor. Dazwischen kommt oft eine längere Phase der Entschuldigung und neuen Verliebtheit – man nennt das die „Honeymoon-Phase". Danach bauen sich aber wieder Spannungen auf, und es passiert noch mal. Die Gewalthandlungen werden dann auch oft stärker, die Zeiten bis zur nächsten Eskalation kürzer. Natürlich gibt es aber auch Fälle, in denen eine Gewalttat ein einmaliger Ausrutscher war.
Was kann man tun, um aus einer solchen Beziehung herauszukommen?
Das erste ist, die Polizei zu rufen – der oder die Betroffene oder auch Nachbarn und Außenstehende. Öffentlichkeit herstellen ist immer gut. Die Polizei hat die Möglichkeit, den Täter oder die Täterin der Wohnung für zehn Tage zu verweisen – das ist saarländisches Polizeigesetz. In der Zeit haben die Opfer dann die Möglichkeit, zu entscheiden, ob sie weitere rechtliche Schritte einleiten möchten. Das kann eine einstweilige Verfügung sein, dem Täter kann der Zutritt zur Wohnung verwehrt werden oder auch die Näherung zur betroffenen Person. In der Zeit findet auch die Übermittlung zu unserer Stelle statt. Öffentlichkeit herstellen ist wichtig – andere mit ins Boot nehmen, die auch ein Auge darauf haben und die Polizei einschalten oder Hilfeleistungen bieten können.
Wie läuft eine Beratung bei Ihnen ab?
Wir sind eine Erstberatungsstelle, also eine Schnittstelle zwischen dem Polizeieinsatz und weiteren Hilfsmaßnahmen. Wir bieten eine Krisenberatung von einem bis maximal drei Terminen. Unsere Aufgabe ist es, zu schauen, ob der oder die Betroffene geschützt ist oder was er oder sie tun kann, um sich weiter zu schützen. Wir erstellen auch sogenannte Sicherheitspläne für die Betroffenen – auch wenn Kinder involviert sind. Solche Pläne können dann Maßnahmen beinhalten wie beispielsweise das Informieren von Nachbarn, das Packen einer Notfalltasche oder das Austauschen der Türschlösser. Das ist an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert. Erscheint uns ein Täter oder eine Täterin besonders gefährlich, so können wir auch eine Gefährdungsprognose erstellen. Das sind Personen, die beispielsweise Alkohol oder Drogen konsumieren, mehrfach schwerstgewalttätig werden oder auch Mord- oder Selbstmorddrohungen aussprechen. In solchen Fällen empfehlen wir den Frauen, in ein Frauenhaus zu gehen und dort Schutz zu suchen. Solchen Tätern ist eine einstweilige Verfügung meist egal. Wir machen auch psychosoziale Klärungen der Situation. Manche Opfer sind sehr ambivalent und wissen nicht, ob sie gehen möchten oder nicht. Sobald wir das geklärt haben, vermitteln wir die Männer und Frauen weiter: etwa an Rechtsanwälte, Psychotherapeuten, andere Beratungsstellen oder Kliniken. Wir sind quasi die Erstversorgungs- und Weitervermittlungsstelle.
Welche Besonderheiten ergeben sich, wenn Kinder im Haushalt leben?
In mehr als 50 Prozent der Fälle leben Kinder mit im Haushalt. Es ist auch nachgewiesen, dass das dauerhafte Miterleben häuslicher Gewalt Auswirkungen auf das Kindeswohl hat. Da ist es wichtig, zu schauen, wie man diese Kinder schützen kann oder wie sie sich auch selbst schützen können. Jemanden rufen, aus der Situation rausgehen. Die Polizei ist auch verpflichtet, in solchen Fällen das Jugendamt zu informieren. Die Beratung von Kindern kann bei uns leider nicht stattfinden, da uns dafür die finanziellen und auch personellen Mittel fehlen. Eine eigenständige Kinder- und Jugendberatung gibt es bisher nicht.
Gibt es Erklärungen dafür, warum ein Täter zum Täter wird?
Das ist schwer zu sagen. Kinder, die Gewalt in der Familie miterlebt haben, fallen auch oft selbst in solche Muster, weil sie es so vorgelebt bekommen haben. Es gibt mit Sicherheit auch Täter, die psychische Erkrankungen haben. Auch Alkohol und Drogen können dazu beitragen – das ist aber nicht der alleinige Grund für Gewalt! Es kann maximal enthemmen. Es gibt auch die Theorie – gerade in Frauenbewegungen – dass Männer die Frau dominieren wollen. Dass sie aus mangelndem Selbstwert nicht akzeptieren können, dass eine Frau über ihnen stehen könnte. Gerade auch in anderen Kulturen ist das verbreitet – etwa ein Drittel der Frauen, die zu uns kommen, sind Migrantinnen.
Gibt es eine Situation, die Sie persönlich sehr berührt hat?
Es sind so viele Geschichten und Schicksale, die wir erfahren. Besonders berühren einen die Geschichten, in welchen die Opfer ganz besonders starker Gewalt oder Erniedrigung ausgesetzt sind – teilweise auch sexuellem Missbrauch. Eine Geschichte, die mich sehr berührt hat, war die einer Frau über 70. Sie war über 50 Jahre in einer Gewaltbeziehung und hatte gewartet, bis die Kinder aus dem Haus sind, bis sie sich das erste Mal getraut hatte, die Polizei einzuschalten. Dieser lange Leidensweg und auch die Tatsache, dass sie nach all der Zeit den Mut gefasst hatte, sich hierherzusetzen und ihre Geschichte zu erzählen – das hat mich sehr berührt. Es zeigt aber auch, dass es nie zu spät ist.
Was würden Sie einer Person, die in einer Gewaltbeziehung gefangen ist, mit auf den Weg geben?
Dass er oder sie sich trauen soll, sich an eine Stelle zu wenden – auch anonym. Ein Appell, sich zu trauen und sich Hilfe zu holen. Es gibt immer einen Weg raus, egal, wie lange diese Beziehung geht oder wie isoliert der oder die Betroffene ist. Es gibt immer Möglichkeiten, die einem an die Seite gestellt werden können – man muss sie nur nutzen.