Wenn Gewalt zum Alltag wird, ist es schwer auszubrechen. So war es auch bei Nina. Drei Jahre dauerte ihr Martyrium. Erst mit fremder Hilfe konnte sie ihrem Peiniger endlich entkommen.
Weißt du, warum ich mich niemandem anvertrauen konnte?" Nina (Name geändert) hält inne und lächelt in sich hinein. Es scheint, als würde sie gerade die vergangenen drei Jahre ihres Lebens vor ihrem geistigen Auge Revue passieren lassen. Ihre Hände ruhen auf ihren Knien. Trotz des Erlebten wirkt sie weder verängstig, noch verbittert. Eher nachdenklich. „Weißt du, warum ich so lange mit niemandem gesprochen habe? Warum mir das so schwergefallen ist? Weil ich wusste, dass mir niemand glauben würde." Erneut hält sie inne und starrt auf einen imaginären Punkt in der Luft. „Solche Männer, wie er einer ist, schlagen doch keine Frauen. Das war das Problem. Und auch wenn sie das tun, so will das keiner glauben. Weder die Nachbarn, noch Freunde. Sogar meine Eltern konnten es sich nicht vorstellen, wie er war. Also wie er wirklich war, wenn wir alleine waren. An wen sollte ich mich also wenden? Wüsstest du einen Ausweg?"
Sie wusste keinen. Deswegen dauerte Ninas Martyrium drei Jahre. Ein halbes Jahr lang war es nur die psychische Gewalt, mit der die mittlerweile 34-Jährige umgehen musste. Anschließend kamen Hautabschürfungen, Blutergüsse und Knochenbrüche hinzu. Verursacht von ihrem Lebensgefährten. Ihrem „Traummann", wie ihn Nina am Anfang ihrer Beziehung gesehen hatte. „Oder sehen wollte", fügt sie nachdenklich hinzu.
Bis sie dann öffentlich zusammenbrach. Ausgerechnet bei einem Beratungstermin in der Jobbörse. „Meine Sachbearbeiterin sprach mich damals auf meine äußere Erscheinung an", erinnert sich Nina noch detailgetreu an den Punkt, an dem ihr Leid ein plötzliches Ende fand. Zwar hatte sie die Hämatome im Gesicht für diesen Termin mühevoll überschminkt. Doch die grünlich-blaue Farbe der zarten Haut um die Augen schimmerte trotz dicker Make-Up-Schicht durch. Das war der Auslöser für die Frage. „Und ich fing an zu weinen. Es fühlte sich so an, als würde über mir eine Welle zusammenbrechen und mich komplett mitreißen. Ich konnte einfach nichts sagen. Nur weinen."
Mut, eine längst überfällige Entscheidung zu treffen
Es war die Sachbearbeiterin – eine ihr gänzlich unbekannte Person –, die Nina zum ersten Mal richtig zugehört hatte. Zusammen riefen sie bei der Polizei an. „An diesem Tag holte sie mich aus meinem Leben heraus. Beziehungsweise gab sie mir den Mut, eine längst überfällige Entscheidung zu treffen. Dafür werde ich ihr bis an mein Ende dankbar sein." Nina zeigte ihren Peiniger an und zog an nur einem Tag aus dem gemeinsamen Haus aus. Ihre Kleider, den Schmuck und die Fotos ließ sie zurück. „Ich wollte nichts mehr mit diesem Leben zu tun haben", erklärt die 34-Jährige. Sie packte an diesem Tag nur eine kleine Tasche und nimmt den Käfig mit ihrem Wellensittich Coco mit. „Ursprünglich hatte ich zwei Vögel: Coco, den Jungen, und Kira, das Mädchen", erzählt Nina. „Leider konnte ich aus eigener Feigheit Kira nicht retten." Die bläuliche Wellensittich-Dame starb ein Jahr vor Ninas Befreiung. „Ich weiß, sie wurde von Jan erschlagen. Nur habe ich dafür keine Beweise."
Dabei fing alles so harmlos an – mit Jans Rückkehr in die Pfalz. Nina war zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt. „Und noch so naiv", bewertet sie heute ihr Verhalten. Doch damals, vor sechs Jahren, sah für sie die Welt noch ganz anders aus. „Ich war ein sehr positiver Mensch und vertraute ihm auf Anhieb." Warum auch nicht? Schließlich kannte sich das spätere Paar noch aus Kindertagen. Sie besuchten dieselbe Schule, hatten sogar gemeinsame Freunde. Nur war Jan drei Jahre älter „und hatte früher nie auf mich geachtet", erzählt Nina in ruhigem Ton. Auch wenn er keine Augen für sie hatte, so hatte Nina umso mehr Freude daran, ihrem Jan zu begegnen. Wenn er beispielweise wieder ein Fußballspiel hatte, stand sie am Spielfeldrand. „Natürlich in Begleitung meiner Freundinnen. Sonst wäre es auffällig geworden. Das habe ich mir jedenfalls früher so gedacht." In Wirklichkeit hatte er sie damals gar nicht bemerkt.
Nach dem Abitur trennten sich zunächst ihre Wege. Der sportliche, großgewachsen Jan ging nach Berlin und begann dort ein Studium. Nina blieb in der Pfalz und machte sich als Illustratorin selbständig. „So richtig davon leben konnte ich nicht. Deswegen bin ich auch nicht von meinen Eltern weggezogen", erinnert sie sich. Auch an ihr Wiedersehen kann sich Nina noch in jeder Einzelheit erinnern. „Es war ganz banal, beim Bäcker." Sie war gerade dabei, Brötchen fürs Frühstück zu holen, als sie plötzlich eine bekannte Stimme hörte. „Trotz der Zeit, die dazwischen lag, habe ich ihn gleich wiedererkannt." Jan dagegen konnte Nina erst im Gespräch richtig einordnen. Für ihn war sie die Bekannte einer gemeinsamen Freundin, mehr nicht. Nina war das völlig egal. Zumindest zu diesem Zeitpunkt.
Beim anschließenden Kaffee, den die beiden in der Bäckerei tranken, stellte sich heraus, dass Jans Vater gestorben war. Nun musste sich Jan um seine kranke Mutter kümmern – der Grund für seine Rückkehr. „Ich habe mich gleich eingebracht und bot ihm meine Hilfe an", erzählt Nina. Nicht, weil sie sich etwas davon versprach. Vielmehr wollte sie nur in seiner Nähe sein. „Für mich war Jan ein großartiger Mensch. Der hätte jede Frau haben können. Ich dagegen war eher unauffällig und sehr zurückhaltend."
Sie machte alles, um Jans Leben zu erleichtern. Kochte öfter mal das Mittagessen, putzte das große Einfamilienhaus und kümmerte sich zum Teil auch um Jans Mutter. Auch, wenn Nina von ihr kaum wahrgenommen wurde. „Sie hat mich geduldet." Kommuniziert haben die beiden Frauen kaum. „Nur so viel wie nötig. Ich glaube, sie sah mich als eine Art Hausmädchen an. Und irgendwie war ich das auch, ein Hausmädchen für sie und ihren Sohn", weiß sie heute.
Dafür wurde sie von Jan ab und zu ins Kino eingeladen, als eine Art Dankeschön für ihre Mühe. Oder er holte sie bei ihren Eltern für einen gemeinsamen Spaziergang ab. Ninas Eltern nahmen Jan gleich in der Familie auf. „Sie meinten immer wieder, wie toll doch solch ein Mann für mich wäre. Und dass ich mir so einen Typen, mit Job und Haus, auf keinen Fall entgehen lassen sollte."
Besonders beeindruckt waren die Eltern von der Beziehung, die Jan zu seiner Mutter pflegt. „Dass er alles in Berlin abgebrochen hat, um sich um seine Mama zu kümmern. Das kann doch nur ein guter Mensch sein, oder?" Nina hält wieder inne und schaut ins Leere. „Dann war die schöne Zeit, wenn man sie überhaupt so nennen kann, auch schon vorbei."
„Es ging ihm nur darum Macht auszuüben"
Nach dem Tod der Mutter zog Nina bei Jan ein. Ob sie dies wolle, fragte ihr späterer Peiniger ganz beiläufig, als Nina sich gerade auf den Heimweg zu ihren Eltern aufmachte. „Es hätte mir damals schon auffallen sollen, wie er die Frage gestellt hat. Ohne Freude, ohne Begeisterung. Es hatte was von einem Befehl: Du musst hier einziehen! Mehr nicht. Und ich? Ich bin fast in Ohnmacht gefallen, so glücklich war ich." Mittlerweile ist sie sich sicher, „dass es nie um mich ging. Es ging immer nur um ihn und die Macht, die er ausüben konnte. Für ihn war ich nur ein austauschbares Opfer."
Sex gab es in ihrer Beziehung kaum. Und die wenigen Male, in denen sich Jan und Nina körperlich näher kamen, findet Nina heute befremdlich. „Es war irgendwie lieblos, beinahe mechanisch", beschreibt sie diese Momente. Dafür redete sich Jan in Rage, wenn es um Ninas Aussehen ging. „Auf der einen Seite redete er mir stets ein, dass ich zu dick sei und zu unsportlich. Auf der anderen Seite wurde er rasend eifersüchtig, wenn ich mal mit jemanden zufällig ein paar Worte gewechselt habe."
Nina gab ihren Job auf. Unter anderem auch, weil Jan nicht wollte, dass sie Kundenkontakt hatte. „Für ihn waren das alles potenzielle Affären, die ich haben könnte." Einen Anlass, solche Gedanken zu haben, gab Nina ihrem Partner nie. „Ich glaube, es ging ihm nur darum, mich zu isolieren und Druck auf mich auszuüben", mutmaßt sie heute. Doch damals erklärte sich Nina dieses Phänomen anders. „Ich dachte mir, auch wenn er zum Teil sehr gemein war und unterkühlt, dass er mich lieben muss. Sonst wäre er nicht so eifersüchtig, oder?"
Für seine Ausraster und sein Gebrüll hatte Nina übrigens immer eine Erklärung. „Weil er doch seine Mama verloren hatte und kurz davor seinen Vater. Das hat ihn auch so labil gemacht." Auch als er anfing, handgreiflich zu werden, blieb sie treu an seiner Seite. „Ich kann gar nicht genau sagen, wann es angefangen hat. Vielmehr war es ein schleichender Prozess."
Zunächst trat er sie nur, um „mich zu beschleunigen, weil er mich so langsam fand." Richtig schlimm aber wurde es, als Jan sie die Eingangstreppe zu ihrem Einfamilienhaus herunterschubste. Nina rutschte aus, verlor das Gleichgewicht und flog die drei Eingangsstufen herunter. Sie federte den Fall zwar halbwegs mit den Händen ab, dennoch schlug sie sich die Knie auf und brach sich beim Sturz mehrere Finger der linken Hand. Eine Nachbarin brachte Nina ins Krankenhaus – Jan fand dafür keine Zeit.
Auf die Frage, ob die Nachbarn einen Verdacht gehabt hätten, was sich hinter verschlossenen Türen tatsächlich abspielte, schüttelt Nina nur den Kopf. „Für die Außenwelt war Jan so eine Art Mustermann. Ein Vorzeigenachbar. Hilfsbereit, nett, höflich. Morgens, auf dem Weg zum Auto, hat er immer nett gegrüßt." Sogar als Nina nach dem besagten Vorfall ins Krankenhaus gebracht wurde, nahm die Nachbarin Jan in Schutz. „Ich habe ihr damals gesagt, dass Jan mich die Treppe runtergeschubst hatte", erinnert sich Nina noch ganz genau an ihre zaghaften Versuche, auf sich aufmerksam zu machen. Doch die Reaktion fiel ernüchternd aus. „Sie konnte es nicht glauben, dass es seine Absicht war, mir wehzutun." Oder wollte es nicht.
Ausflüge zu zweit waren fortan eine Seltenheit. Meistens war Jan allein unterwegs, teilweise bis spät in die Nacht. Wenn sie als Paar eingeladen wurden, sagte Jan meistens in Ninas Namen ab. „Ich habe das nie groß hinterfragt", bedauert sie heute. Erst später viel ihr auf, welches Bild Jan von ihr nach außen getragen hatte. „Er sagte, dass es mir sehr oft nicht gut gehe. Dass ich Schwindel- und Migräneanfälle hätte und deshalb lieber zu Hause bliebe."
Heute bekommt Nina therapeutische Hilfe
Im Nachgang fügt sich für sie einiges zusammen. „Wenn ich damals mit blauen Flecken aus dem Haus ging, sah es vermutlich wirklich nach einem eigenverschuldeten Unfall aus." Auch Ninas Eltern wollten von Jans Wutausbrüchen nichts hören. „Wenn ich darüber erzählt habe, hieß es nur, ich solle mich zusammenreißen. Eine Beziehung sei nicht immer leicht, und ich als Person sei sowieso eine Zumutung."
Die wenige Freude, die Nina zu jener Zeit empfand, verdankte sie den beiden Wellensittichen, die sie während dieser Zeit gekauft hatte. „Ich war schon immer ein großer Tierfreund. Nur hatte ich seit meiner Kindheit eine Tierhaarallergie, deswegen kamen auch nur die Vögelchen in Frage." Wenn Jan nicht da war, ließ sie das Vogelpaar Coco und Kira im Haus frei herumfliegen. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, wurden sie wieder in den Käfig gesperrt – damit er sich nicht aufregte. „Vor allem ihr Gezwitscher brachte Jan richtig in Rage", erzählt Nina. Mit der Zeit wurde der Käfig im Keller abgestellt. Dort fand Nina auch die tote Kira. Der Vogel lag leblos vor dem geschlossenen Käfig. Wie es zu Kiras Tod gekommen ist, weiß sie bis heute nicht. Als sie Jan fragte, schlug er ihr erstmals mit der Faust in die Magengrube. Nina sackte zusammen, rang um Atem. Abends entschuldigte sich Jan mit einer weißen Rose. „Die einzige Blume, die ich jemals von ihm bekommen habe." Nina ringt bei der Erzählung mit den Tränen. „Ich weiß nicht, warum ich ihm damals verziehen habe. Vermutlich, weil ich noch an uns glauben wollte."
Ein Fehler, wie Nina heute weiß. „Deswegen bin ich auch bereit, meine Geschichte zu erzählen", bringt sie es auf den Punkt. „Um anderen Frauen damit zu helfen. Denn es ist ja so: Wenn man jemanden richtig liebt, dann findet man für diese Person immer eine Entschuldigung. Egal, wie brutal oder gewalttätig dieser Mensch zu einem ist. Gewalt wird zur Normalität und fällt im Alltag gar nicht auf."
So war es auch bei Nina. Mit Kiras Tod folgte die Resignation. „Ab diesem Zeitpunkt wollte ich nur alles richtig machen, ihn nicht aufregen. Ich suchte die Schuld stets bei mir." Jan dagegen wurde immer gewalttätiger, schlug sie nicht nur mit Fäusten, sondern trat sie auch mit Füßen – und brach ihr die Nase. Wie es Nina gelang, Jan davon zu überzeugen, dass sie einen Job annehmen wollte, weiß sie nicht mehr. „Geld war oft ein Streitpunkt, weil ich ja kein Einkommen hatte. Deswegen machte ich eines Tages auch einen Termin aus." Dass dieser Termin gleichzeitig das Ende ihres Martyriums bedeuten sollte, konnte Nina nicht ahnen. „Vermutlich war ich physisch schon so am Ende, dass der Blick meiner Sachbearbeiterin ausgereicht hat, um mich an den Endpunkt zu bringen."
Ihr neues Zuhause ist eine kleine, gemütliche Stadtwohnung. Mit dem Leben auf dem Land hat sie abgeschlossen. So wie mit der Beziehung zu Jan. Gerade befindet sich Nina in psychologischer Behandlung, geht zweimal die Woche zum Therapeuten. „Mittlerweile weiß ich, dass ich etwas wert bin. Also für mich. Und dass sich keiner – auch nicht der Mann, den ich liebe – an mir physisch oder psychisch vergehen darf." Diesen Gedanken möchte Nina auch anderen Frauen mit auf den Weg geben. „Traut euch, aus der Situation auszubrechen, und sucht nicht ständig nach Erklärungen für die Gewaltbereitschaft eurer Partner. Das ist der falsche Weg."