Wird in der Wohnung geprügelt, ist die Polizei der erste Ansprechpartner. Ihre Möglichkeiten, langfristig eine Lösung zu finden, sind jedoch stark begrenzt. Vor allem, weil die Anzeigebereitschaft fehlt.
Kurz nach 22 Uhr geht bei der Berliner Polizei ein Notruf ein. In einer Wohnanlange am Dahlemer Weg, im beschaulichen Berliner Bezirk Zehlendorf, kommt es offenbar zu Handgreiflichkeiten. Der Anrufer ist ein besorgter Nachbar, wie eigentlich fast immer in solchen Fällen. Er möchte anonym bleiben. Auf Nachfrage kann er der Einsatzzentrale sagen, dass über ihm ein Paar wohnt. Vorhin habe er schrille Schreie gehört. Danach habe es „laut gerumst". Seitdem würde in der Wohnung über ihm eine unnatürliche Ruhe herrschen. Sein Verdacht ist, dass seine Nachbarin zu Boden geschlagen und verletzt worden sei.
Umgehend setzt sich ein Funkwagen vom zuständigen Abschnitt in Bewegung. „Das sind immer die unangenehmsten Einsätze", weiß der 53-jährige Oberkommissar Tobias R. Der Polizeibeamte ist seit mehr als 35 Jahren im Dienst und kennt sich mit Fällen häuslicher Gewalt aus. „Ein Nachbar hat einen Verdacht, dem wir jetzt nachgehen müssen", erzählt er und macht sich auf den Weg zu seinem Einsatzwagen. „Der mutmaßliche Tatort liegt in einer Wohnung. Somit müssen wir in die Privatsphäre von möglicherweise unschuldigen Personen eindringen. In solchen Situationen braucht es immer viel Fingerspitzengefühl."
Währenddessen haben auch andere Nachbarn den Streit zwischen dem Paar mitbekommen und auf eigene Faust versucht, diesen zu klären. „Auch wenn Gefahr im Verzug angezeigt ist (Gefahr im Verzug bedeutet, dass es der Staatsanwaltschaft oder der Polizei möglich ist, die sofortige Durchsuchung einer Wohnung oder Person ohne richterliche Zustimmung anzuordnen und durchzuführen, Anm. d. Red.), ist es meist nicht ratsam, als Nachbar selbst einzugreifen, weil niemand einschätzen kann, was sich da gerade hinter der verschlossenen Wohnungstür abspielt. Lieber erst einmal auf uns warten. Wir haben gelernt, mit solchen Situationen umzugehen", sagt der Polizeibeamte.
Die Polizei kann ein Annährungsverbot erwirken
Er behält recht. In der Zwischenzeit ist der Mann tatsächlich auf die Nachbarn losgegangen und hat zwei Männer geschlagen. Dann ist er gestolpert und einen Treppenabsatz heruntergerutscht. In diesem Zustand finden ihn die Beamten an diesem Abend vor. Trotz seines alkoholisierten Zustandes haben die Polizisten Schwierigkeiten, den gewaltbereiten Täter in den Griff zu bekommen. Der 37-jährige Gerüstbauer ist aufgrund seines Berufs gut im Training und reichlich angetrunken. Das versetzt den Mann in eine richtige Kampflaune. „Did jeht euch ja nüscht an, in meiner Wohnung mach ick, wat ick will und mit die Olle gleich mit", brüllt er die Polizisten an. Oberkommissar Tobias R. lässt sich davon nicht beeindrucken. Für ihn ist es ein Routineeinsatz. In Kürze sind die Arme des Mannes mit Kabelbinder fixiert, und er wird auf die Rückbank des Funkwagens gesetzt.
In dieser Situation ist die Rechtslage eindeutig, das weitere Verfahren liegt klar auf der Hand. „Wir nehmen ihn jetzt mit. Dann machen wir einen Blutalkoholtest und schicken ihn erst einmal in die Ausnüchterungszelle." Dazu kommt eine Strafanzeige wegen Wiederstands gegen Vollstreckungsbeamte. Auch die Nachbarn werden Anzeigen wegen versuchter Körperverletzung erstatten.
Ob das Opfer seinen Peiniger anzeigen möchte, ist dagegen noch unklar. Im geschilderten Fall ist der Gerüstbauer zum ersten Mal wegen eines Gewaltdelikts auffällig geworden. Seine Lebensgefährtin erklärt diese physische Auseinandersetzung als eine Art „Ausnahmesituation" und möchte auf die Anzeige verzichten. Die Polizisten raten der Frau dennoch, den Fall dringend zur Anzeige zu bringen. Sie hat mehrere Blessuren an Armen und Beinen und eine leicht blutende Platzwunde am Kopf –
vom Sturz im Badezimmer. „Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Frau von ihrem Mann geschubst, gestoßen und auch geschlagen wurde", mutmaßt Tobias R. Allerdings waren die Beamten zu diesem Zeitpunkt nicht in der Wohnung und können es nicht mit Sicherheit feststellen. „Darum ist eine Anzeige wegen Körperverletzung so wichtig", betont der Oberkommissar. Wäre der Gerüstbauer nicht so hoffnungslos betrunken – der anschließende Alkoholtest zeigt 2,4 Promille an – wäre die Rechtslage für die Beamten bedeutend komplizierter. „Es wäre weit schwieriger gewesen, den Mann aus der Wohnung herauszuholen, um damit wenigstens vorrübergehend die Lage zu beruhigen", weiß der Oberkommissar. Denn die Rechtslage ist klar. „Ohne Strafanzeige ist nichts zu machen", bedauert der Polizeibeamte.
Aus dem Frauenhaus zurück zum Täter
„Wir können zwar bei offensichtlicher Gewalteinwirkung ein Betretungsverbot für die Wohnung aussprechen, aber spätestens nach einigen Tagen – meistens sogar schon am nächsten Tag – ist der Täter wieder da." Die Opfer werden zwar darauf hingewiesen, dass sie laut Gewaltschutzgesetz ein Annäherungsverbot erwirken können, aber davor schrecken die Betroffenen meistens zurück. Auch aus kriminalpsychologischer Sicht kann dieses Phänomen nicht eindeutig erklärt werden. Nach der Meinung der Experten sei es eine Verkettung von emotionaler, aber auch wirtschaftlicher Abhängigkeit, gepaart mit der Hoffnung, dass es mit der Zeit besser werde. Doch besser wird es nur in Ausnahmenfällen. „Meist bleibt alles so, wie es war", weiß Tobias R. Oder es wird noch viel schlimmer, weil die Täter keine Konsequenzen befürchten müssen. „Und hier wären wir wieder beim Thema Anzeige", bringt es der Beamte auf den Punkt. „Nur mit solchem konsequenten Vorgehen können wir Ausbrüche von häuslicher Gewalt Schritt für Schritt eindämmen."
Aber es sind nicht nur die Täter, die aus ihren Verhaltensmustern ausbrechen müssen. Auch die Opfer handeln oft ähnlich. „Wenn wir beispielweise Frauen nachts aus Wohnungen befreien, in denen sie nicht mal gemeldet sind", schildert Tobias R. seine Erfahrung. Meistens sind diese Frauen in einem jämmerlichen Zustand. Blutüberströmt, verängstigt „und so dankbar, dass wir gekommen sind". Und dann, nach zwei, drei Tagen, fliehen sie aus den Frauenhäusern zurück zu ihren Peinigern. „Spätestens nach einer Woche rücken wir dann erneut aus, um dieselben Frauen nochmals vor ihren Partnern zu schützen." Auf die Nachfrage, warum sie zu den Tätern zurückkehren, hören die Beamten oft dieselben Antworten. „Er hat sich entschuldigt und seine Fehler eingeräumt", gibt der Oberkommissar die Aussagen vieler Opfer wortwörtlich wieder. Und damit schließt sich der Kreis. Die Polizeibeamten rücken erneut an, helfen den Opfern, bringen die Frauen in Frauenhäuser – und müssen eine Woche später nochmals ausrücken. So, wie auch an diesem Abend. Kurz nachdem der Fall in der Wohnanlange am Dahlemer Weg geklärt ist, muss Tobias R. weiter. Ein erneuter Fall von häuslicher Gewalt. Das Opfer ist eine junge Frau. Der mutmaßliche Tatort liegt nur zwei Straßen vom ersten entfernt. Für Tobias R. sind die Beteiligten keine Unbekannten. „Erst vor zwei Monaten haben wir die Frau, um die es geht, – sie war ein einem katastrophalen Zustand – ins Frauenhaus gebracht", erzählt der Oberkommissar, während er auf das Haus zusteuert. „Wie es aussieht, ist sie jetzt wohl wieder zu ihrem Mann zurückgekehrt."