Sie mögen zwar derzeit noch als Avantgarde-Abendgarderobe eingestuft werden, doch womöglich werden die voluminösen Kleider eine neue Ära in der Damenmode einleiten: die Ablösung des Minimalismus durch einen durch Stoff-Fülle und aufbauschende Details gekennzeichneten Maximalismus.
Eigentlich wäre es zu erwarten gewesen, dass sich die publizistische Fashion-Community wie wild auf einen ebenso verblüffenden wie ungewöhnlichen oder unübersehbaren Trend stürzen würde. Aber weil da mal nicht die üblichen Verdächtigen wie Gucci oder Prada ihre Hände im Spiel haben und weil der Look so ziemlich das absolute Kontrastprogramm zum seit Jahren vorherrschenden kommod-lässigen Street-Style darstellt, wurden die pompös-voluminösen Stoff-Arrangements, mit denen einige durchaus bekannte Designer in ihren aktuellen Winter-Kollektionen aufwarten, hierzulande so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen.
Aber auch außerhalb des deutschsprachigen Mode-Zirkels tat man sich mit diesen kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringenden Kreationen ziemlich schwer. Nicht mal ein prägnanter oder allgemein verbindlicher Begriff konnte dafür gefunden werden. Die Bezeichnung „Volumen-Look" würde das Ganze zwar relativ gut beschreiben, aber darunter wird frau wohl kaum die operettenhaften Kunstwerke aus Materialien wie Tüll oder Satin oder mit aufbauschenden Details wie Raffungen oder Rüschen assoziieren, von denen hier die Rede sein soll. Vergleichbares konnte in den letzten Jahren eigentlich nur auf den Pariser Haute Couture-Schauen bewundert werden, bei denen die Klassiker-Häuser fernab jeglicher Alltagstauglichkeit dem staunenden Publikum ihre kunsthandwerkliche Meisterschaft unter Beweis stellen konnten. Ein solches Schwelgen in üppigster Stoff-Verschwendung weckt Erinnerungen an prunkvolle Roben der aristokratischen Damen aus weit zurückliegenden Epochen wie dem Barock oder dem noch verspielteren Rokoko.
Schlagworte wie „Go big or go home" oder „Larger than life" wurden ja längst schon für alle möglichen, etwas weiter geschnittenen Teile im XXL-Format ausgelutscht, egal ob es sich dabei um Oversized-Mäntel-Jacken oder Flared-Hosen gehandelt hatte. Diese Slogans ließen sich daher kaum mehr für den neuen Super-XXL-Trend gebrauchen. Aus schierer Ratlosigkeit wurde daher die Notbezeichnung „Big Dresses" geboren, vom Fashion-Portal refinery29 sogar noch abwandelnd getoppt in „BDE: Big Dress Energy". Die Mode-Webseite glowsly.com hatte sich für die „voluminous dresses" sogar etwas ganz Besonderes ausgedacht und sie wegen vermeintlicher Anklänge mancher Entwürfe an gezuckertes Baiser-Schaumgebäck als „Meringue Dresses" getauft, ohne darauf zu verzichten, auf den zeltähnlichen Gesamteindruck mancher Kreationen zu verweisen.
Neue Silhouetten durch Volumen
Dem „Zeit"-Stilexperten Tillmann Prüfer war die neue Stoff-Opulenz jüngst aufgefallen, allerdings beschränkte er sich in seinem Beitrag im Wesentlichen auf die von ihm aktuell bei Labels wie Bottega Veneta, Marni oder Dolce & Gabbana beobachteten Raffungen, mit denen bestimmte Körperregionen sowohl besonders betont oder auch ganz bewusst verschleiert werden können: „Traditionell galten geraffte Kleider in der Mode als Zeichen des Wohlstands. Denn Stoff war einmal sehr teuer – und wer es sich leisten konnte, in nur einem Kleid so viel davon zu verwenden, dass es auch für zwei Kleider gereicht hätte, der verfügte offenbar über viel Geld." Das Magazin „InStyle" hatte den „Mega Modetrend Volumen-Look" zwar ebenfalls zur Kenntnis genommen, doch empfahl es dabei seiner jungen streetstyligen Klientel die Beschränkung auf entsprechend aufgebauschte Oberteile.
Dass hinter der neuen Kleider-Opulenz womöglich viel mehr stecken könnte als nur ein kurzfristiger Trend, und dass sich die Designer bei ihren entsprechenden Entwürfen eventuell sogar grundlegende Gedanken über die künftige Ausrichtung der Mode gemacht haben könnten, wurde weltweit nur von der „Neuen Zürcher Zeitung" thematisiert. Laut der „NZZ" durchläuft die Fashion-Welt derzeit einen Wandlungsprozess: „Nach der sportlichen Streetwear-Phase der letzten Jahre suchen viele wieder etwas Aufwendigeres, etwas, das mehr ist als Hoodies und Sneaker. Und das wird derzeit vor allem transportiert durch viel Volumen und neue aufwendige Formen, die den Körper nicht einfach bequem kleiden, sondern ihn larger than life machen."
Mit der Rückbesinnung auf die großbürgerliche Mode der 1970er-Jahre gibt es aktuell bekanntlich eine weitere, womöglich zukunftsweisende Alternative zum lange Zeit dominierenden Athleisure-Look. Doch bei den „Big Dresses", die sowohl in kurzem als auch in langem Schnitt auf den Catwalks aufgetaucht waren, geht es um viel Grundsätzlicheres. Nämlich um einen neuen „Maximalismus", ein Begriff, der sich allerdings im Unterschied zu „Minimalismus" bislang nicht in der Fashion-Welt durchsetzen konnte. Dabei geht es in der Modegeschichte ja letztlich immer nur um vergrößern oder verkleinern, zufügen oder weglassen, gewissermaßen um These oder Antithese. „NZZ": „Häufig fängt das als Experiment einiger weniger Designer an und wird dann zur Konvention. Dadurch wird es ein bisschen weniger extrem und schließlich von der breiten Masse getragen. Durch Volumen oder eben das Weglassen von jenem sind schon immer neue Silhouetten entstanden."
Im Sommer geht es munter weiter
Es könnte also durchaus sein, dass die in den letzten Dekaden vorherrschenden schlichten Entwürfe im Zeichen des Minimalismus künftig im Zuge eines modischen Paradigmenwechsels durch überdimensionierte Formen ersetzt werden. Oder dass zumindest beide Ausprägungen nebeneinander vorkommen werden. Das Überdimensionale ist ja für die Damenmode längst nichts mehr ganz Ungewohntes, schließlich feiern die barockinspirierten 1980er-Jahre mit ihrer Vorliebe für Volumen und Pomp immer wieder in unregelmäßigen Abständen Wiederauferstehung in neueren Kollektionen. Auch diesen Winter wieder bei Labels wie Louis Vuitton (Dresses mit gigantischen Rüschen an den Schultern), Marc Jacobs (opulente Cape-Mäntel) oder Richard Quinn (aufgebauschte Minis mit Puffärmeln) zu bewundern.
Die gerade genannten Designer-Beispiele könnten durchaus schon als alltagstaugliche Umsetzungen des neuen „Big Dresses"-Trend angesehen werden, weil die aktuellen Schaustücke weit darüber hinausgehen. Viele andere scheinen allenfalls als festliche Garderobe für Galas oder Abendveranstaltungen geeignet zu sein, gewissermaßen als eine neue Form von Avantgarde-Eveningwear. Auch auf dem roten Teppich könnten Promi-Ladys darin gekleidet einen großen Auftritt hinlegen. Die britische „Vogue" hat mehr oder weniger kommentarlos wunderschöne Bilder von Models in Big Dresses sprechen lassen, und zwar von den Laufstegen von Marc Jacobs, Alexander McQueen, Roksanda, Carolina Herrera und vielen anderen. Wir möchten hier zusätzlich auf die prächtigen Pieces von Erdem, Balenciaga, Miu Miu, Calvin Klein, Y/Project oder Valentino hinweisen.
Einige der Kreationen lohnen durchaus eine gesonderte Beschreibung. Beispielsweise die wolkenähnlichen, regenbogenbunten Pieces des japanischen Newcomer-Stars Tomo Koizumi, die romantisch-ballonähnlichen Tüllkleider von Molly Godard, die gefederten Traumfantasie-Stücke von Roksanda oder die pompösen Ballkleider von Emilia Wickstead. Es dürfte sicherlich nicht lange dauern, bis auf Instagram sämtliche Paradebeispiele den staunenden Followern vor Augen geführt werden. Kommenden Sommer geht’s in Sachen Big Dresses munter weiter, wie ein Blick auf die London Fashion Week 2020 schon mal verraten hat.