Der deutsche Boxsport hängt in den Seilen, ein neuer Hoffnungsträger wird sehnsüchtig erwartet. Experten trauen Abass Baraou diese Rolle zu.
Ulli Wegner ist mittlerweile 77 Jahre alt, doch das Auge für Talente hat er nicht verloren. Der Trainer, der Sven Ottke, Arthur Abraham und Marco Huck zu Weltmeistern geformt hat, sieht nach eigenen Aussagen schon nach wenigen Trainingseinheiten und Kämpfen, ob ein Boxer das Format zur Weltklasse besitzt. Und bei Abass Baraou ist sich Wegner ganz sicher: Der junge Mann hat das Potenzial, das deutsche Boxen aus seiner tiefen Krise zu ziehen. „Ich hatte selten einen so talentierten Boxer wie Abass unter meinen Fittichen", sagt Wegner über seinen 25 Jahre alten Schützling. „Er bringt alle Voraussetzungen für eine große Karriere mit." Der im württembergischen Aalen geborene Sohn togolesischer Eltern ist für einen Superweltergewichtler physisch stark und sehr beweglich. Dank seiner Amateur-Karriere, in der er 2017 die Goldmedaille bei der EM und Bronze bei der WM gewann, ist er technisch bestens geschult. Aber sein womöglich bester Trumpf, der ihn von anderen Talenten abhebt, ist seine Box-Intelligenz. „Er kann meine taktischen Vorgaben umsetzen", lobt Wegner. „Auch das spricht für seinen klugen Kopf."
Mit einem taktisch cleveren Kampfstil hatten schon Henry Maske und Ottke einst den Box-Thron erobert. Baraou könnte ihnen schon bald folgen. „In seiner Einstellung und Zielstrebigkeit erinnerte er mich immer mehr an Henry Maske und Sven Ottke", vergleicht Wegner. Sollte Baraou verletzungsfrei bleiben, „kann er im nächsten Jahr in der Weltspitze mitreden".
Bislang hat das große Boxtalent acht Profikämpfe bestritten. Er hat sie alle gewonnen. Auch seine bislang größte Herausforderung, der Kampf Ende Oktober in London gegen den Iren John O’Donnell, meisterte der deutsche Hoffnungsträger mit Bravour. Baraou kämpfte im Rahmen der World Boxing Super Series erstmals auf der ganz großen Bühne, das brachte ihn aber nicht aus der Fassung. Im Gegenteil: Die Aufmerksamkeit und der Druck schienen ihn zu beflügeln. Baraou siegte nach technischem K. o. in der sechsten Runde und erhielt hinterher von seinem Promoter Kalle Sauerland ein riesengroßes Lob. „John O’Donnell ist ein sehr taffer und erfahrener Gegner, der zuvor erst zweimal verloren hatte, aber Abass hat den Fight dominiert", sagte Sauerland, der Baraou im März mit einem langfristigen Vertrag verpflichtete. Vor allem dessen Konsequenz im Kampf gegen O’Donnell beeindruckte Sauerland: „Er lag nach Punkten bereits weit vorn, hat sich jedoch nicht darauf ausgeruht und den Kampf vorzeitig beendet."
„Der kommende Mann im Super-Weltergewicht"
Baraou wollte ganz offensichtlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Das ist ihm so sehr gelungen, dass sein Promoter schon an die nächsten höheren Aufgaben dachte: „Abass hat mit seinem Auftritt unterstrichen, dass er bereit ist, sehr bald um eine Weltmeisterschaft zu boxen." In einem Interview mit dem Sender iFL TV sprach Sauerland sogar noch euphorischer über seinen Schützling – und noch konkreter über die WM-Chance. Baraou sei „der kommende Mann im Superweltergewicht", schwärmte Sauerland. „2020 trägt er Gold! Er ist das Beste, was Deutschland in den letzten 20 Jahren hervorgebracht hat. Er wird unser Muhammad Ali." Man habe zudem Conor Benn bereits ein Angebot unterbreitet.
Conor „The Destroyer" Benn ist im Weltergewicht seit 16 Kämpfen ungeschlagen und Inhaber des WBA/Continental/Titels. Wenn es nach Baraou selbst geht, würde er aber lieber schon jetzt um einen WM-Gürtel boxen. „Ich fühle mich zu jeder Zeit dafür bereit", sagt der junge Mann selbstbewusst.
Nach einem Sieg im Februar gegen den ehemaligen IBF-Weltmeister Carlos Molina darf sich Baraou „International Champion" des Verbandes WBC nennen. Das ist kein besonders bedeutender Titel, aber er hat das Selbstvertrauen des Boxers in sich und seinen Weg sichtlich gestärkt. Und mit jedem Profikampf hat der ehemalige Amateur (143 Kämpfe) weniger Probleme mit der Umstellung von einem Drei- auf einen Zwölf-Runden-Fight. Wenn er seine Gegner nicht vorher mit einem K. o. auf die Bretter schickt. „Abass hat sofort verstanden, dass es nicht darum geht, jeden Schlagabtausch oder jede Runde zu gewinnen", lobt Trainer Wegner. „Ich habe selten einen Boxer erlebt, der taktisch so schnell gewachsen ist." Und dann kommt von ihm wieder dieser große Vergleich: „Ich bin überzeugt, dass Abass einer ist, wie wir ihn auf diesem Niveau nicht oft hatten. Henry Maske, Sven Ottke, Dariusz Michalczewski. Das war‘s."
All diese Heroen ihres Sports hatten in den 90er-Jahren und zu Beginn des Jahrtausends für einen Boom des Boxens gesorgt, für ihre Kämpfe schalteten viele Millionen Zuschauer auch zu später Stunde den Fernseher ein. Doch von dieser Euphorie ist kaum noch etwas übrig geblieben. „Dass das Boxen in Deutschland ein bisschen untergegangen ist", sagt Baraou, „ist schon schade." Seine Sportart hängt sinnbildlich in den Seilen, einen K. o. sieht Baraou aber nicht: „Wenn Deutschland wieder einen Zugang zum Boxen findet, dann kann das jeden packen."
„Ulli Wegner ist ein Vorbild"
Doch davon ist das deutsche Boxen weit entfernt. Das Fernsehen hat sich weitestgehend abgewendet, zu miserabel sind die Einschaltquoten. Geld lässt sich mit dem Boxen kaum noch verdienen, weshalb selbst der Sauerland-Boxstall zu drastischen Sparmaßnahmen gezwungen ist. Er kündigte zum Jahresende das Gym am Berliner Olympiastadion und damit auch den Vertrag von Startrainer Wegner. Ein Schritt, der nicht mehr überraschend kam. Die Entwicklung sei zwar „traurig", sagte Wegner, er sei aber „finanziell abgesichert". Außerdem bedeute dieser Schritt nicht, dass er in Boxrente gehe: „Ich werde mich bis zum letzten Tag um meine Jungs kümmern."
Das hört Abass Barou gern. Doch ob die Zusammenarbeit zwischen dem erfahrenen Coach und dem talentierten Boxer eine Zukunft hat, ist offen. Sauerland ist der Meinung, die Athleten müssten ihre Trainer selbst bezahlen, während der Boxstall sich vor allem um die Organisation der Kämpfe kümmert. Rein sportlich betrachtet würde Baraou gern mit Wegner weiterarbeiten. „Die Zusammenarbeit mit ihm lässt mich wachsen. Er weiß genau, wie er auf mich einwirken muss, damit ich meine Leistung bringe", sagt er. „Ulli Wegner ist so etwas wie ein Vorbild."
Mit Wegner an seiner Seite gewinnt Baraou zudem deutlich an Popularität, den Trainer kennen noch immer viel mehr Leute als ihn selbst. Der 25-Jährige ist ein weitestgehend unbeschriebenes Blatt für die breite Öffentlichkeit. Doch das werde sich schon bald ändern, glaubt Wegner: „Dank seines Intellekts ist Abass in der Lage, die Rolle eines Stars im Boxen zu bedienen, ohne dabei abzuheben."
Der zum großen Hoffnungsträger seiner Sportart auserkorene Baraou will den Druck nicht zu sehr an sich herankommen lassen. „Das schmeichelt mir, dass ich die Rettung sein soll", sagt er zwar, „aber ich versuche das auszublenden. Es gibt mir keine Sicherheit, ich gewinne dadurch keinen Kampf."
Baraou verlässt sich lieber auf seinen inneren Antrieb. Der ist aufgrund seiner nicht einfachen Kindheit groß. Sein Leben in Oberhausen als Junge mit afrikanischen Wurzeln war hart, nur wenige Türen standen ihm offen. Im Jugendcenter traf er dann auf einen Coach, der ihn zum Boxtraining einlud. Baraou schaute vorbei – und sein Leben veränderte sich. „Ab da konnte ich nicht mehr vorbei am Boxen" erinnert sich Baraou. Der Sport gab ihm eine Perspektive. „An dem Tag, an dem ich die Halle betrat, habe ich die anderen Jungs gesehen, wie sie richtig Gas gegeben und sich gequält haben", erinnert sich Baraou. Er habe sich dann „selbst gefragt: Ey, was machst du denn eigentlich? Du machst nur Quatsch! Das wäre doch etwas für dich!"
Bronze bei der Heim-WM 2017
Baraou trainierte fortan hart, und er schaute sich die großen Kämpfe von Mike Tyson und Muhammad Ali an. „Was die geschafft haben, das ist auch irgendwie für mich möglich, egal welche Umstände ich habe", sagt Baraou. Er träumt von einem großen Kampf im Mekka des Boxsports: „Irgendwann mal im Madison Square Garden zu boxen, darauf arbeite ich hin."
Der junge Mann verfolgt zielstrebig seinen Weg. Diesen Ehrgeiz zeigte er schon als Amateur, als er bei der Heim-WM 2017 in Hamburg nach dem knapp verlorenen Halbfinale gegen den Kubaner Roniel Iglesias, Olympiasieger von 2012, um Fassung rang.
„Ich wollte unbedingt Weltmeister werden. Ich habe alles gegeben. Ich hoffe, ich habe niemanden enttäuscht", sagte er damals tief enttäuscht ins Hallenmikrofon. „Ich entschuldige mich, dass ich so ein Weichei bin."
Die Fans bewiesen damals ein feines Gespür und bauten Baraou mit einem warmen Applaus auf. Zu Recht, schließlich hatte er bei der WM immerhin Bronze gewonnen. Doch sein Antrieb ist nicht Platz drei, sondern der Box-Thron. „Ich bin noch ganz frisch in meiner Karriere, es gibt noch so viel zu holen", sagt Baraou und betont: „Das ist noch nicht mal der Anfang. Jetzt geht es erst richtig los."