Nach Alexander Zverev 2018 schmückt sich 2019 der erst 21-jährige Stefanos Tsitsipas als ATP-Weltmeister mit dem Titel des Besten der Saison. 2020 wollen mindestens vier Tennis-Twens weitere Grand-Slam-Titel der großen Vier der Ü30-Generation verhindern.
Sommer am Neusiedler See. Der Ausblick in den Sonnenuntergang ist herrlich, auf den Tellern liegen knusprige Köstlichkeiten vom Grill. Doch die Blicke der Gäste im Seerestaurant gehen woanders hin. Sie hängen fest an kleinen Tablet-Displays. Junge wie alte Surfer und Strand-Genießer beugen sich übereinander, um ein Tennis-Match zu verfolgen: Der Niederösterreicher Dominic Thiem spielt. An diesem Sommerabend voller Sterne am Himmel setzt er gerade zum ersten seiner zwei heißersehnten Titel an, die der 26-Jährige in dieser Saison in seiner Heimat Österreich erringen wird: Kitzbühel und Wien.
Stark verbessert hat der Tenniskönig von Austria in diesem Jahr seine bezwingende Spielweise, seine taktischen Finessen, seine blitzschnelle Akkuratesse. Hartplätze sind Thiems neue Freunde, denn sie bieten schnelle und willige Absprungflächen für seine präzisen Bälle. Ob hart gepresste Schichten aus Gummi und anderen Fasern wie in Wien, oder staubender, teils leicht bremsender Sand wie in Kitzbühel: „Domi" genießt in dieser ATP-Tennissaison von Januar bis November 2019 alle Oberflächen – außer Rasen – sichtlich. Der erfahrene Stratege nutzt das Spiel mit seinen speziellen Absprungeigenschaften, um mit weiteren fünf Titeln als ebenbürtiger Fixstern zu den Etablierten in die Top Vier der Weltrangliste aufzusteigen.
Derweil legt das scheinbar unerschütterliche Triumvirat aus Rafael Nadal, Roger Federer und Novak Djokovic einmal mehr ein begeisterndes Jahr hin. Und Andy Murray, der vierte im Bunde der „Big Four", die seit gefühlten Ewigkeiten die größten Tennisturniere dominieren, kehrt nach Schmerz-Historie, Hüft-OP und Quasi-Rücktritt mit ersten Erfolgen in die Wertung zurück.
Thiem holte ersten Masters-1.000-Titel
Doch Rang vier ist besetzt mit Thiem. Der 26-Jährige aus der Wiener Neustadt ist die Gallionsfigur für die symbolstarken Top Ten der Saison-Endrangliste der Herren. Hier finden sich keine vorüberziehenden Glimmersternchen, sondern willensstarke und leistungsbereite Stars der Zukunft. Diese Jüngeren sammelten 2019 so viele Punkte und Selbstbewusstsein bei Events des Tennis-Zirkus, überall auf der Welt, dass sie die eingefahrenen Herrschaftsstrukturen erschüttern. Beispielsweise Thiem in Indian Wells, wo der Niederösterreicher seinen ersten Masters-1.000-Titel holte. Und auch bei den vier großen Turnieren im Jahr, den Grand-Slams. Mit bis zu fünf Sätzen pro Match sind sie die Creme einer jeden Tennissaison. Einmal mehr erreichte „Domi" bei den French Open das Endspiel. Diesmal hatte er im Halbfinale Djokovic, den fast Unschlagbaren, rausgesetzt. Der Sandplatz-Prinz war in den ersten zwei Sätzen gefährlich wie nie zuvor für Nadal. Trotzdem gewann der Spanier seinen zwölften Titel in Paris. Wieder ein Rekord. Doch die Jüngeren rücken näher, legen zu, während sich die Generation „Ü30" gegen das Aufbegehren ihrer jahrzehntelang geschundenen Körper wehrt.
Matchgewinne sind den Granden zweier Jahrzehnte weiter wichtig. Zunehmend genießen sie nebenher das Ausloten großer Geschäfte, die sich für ihr künftiges Berufsleben, als Big-Four-Legenden, ergeben. Nadal baut seine Akademien aus. Sein Erzrivale Federer schaut, welche anderen Dimensionen der Tennis-Zirkus hat. Was bei „Holiday on Ice" schon lange für erfolgreiche Eiskunstläufer funktioniert, praktiziert Roger bei einer Südamerika-Tour in vollen Arenen: Abertausende Fans mit Sportstar-Glamour erfreuen und dabei Geld verdienen. Quasi Urlaubstage auf dem Show-Court, jenseits des Wettkampf-Kalenders.
Aufsteiger Thiem erholt sich indes im tennisfreien Zwischensaison-Urlaub, bevor er – früher vor Ort als sonst – in Australien den Angriff auf vollendete Grand-Slam-Titel starten will. Im Zuge seiner spielerischen Neuselbstfindung, hat „Domi" für 2019 alle seine Ziele erreicht. Losgelöst vom bisherigen Trainer, Manager und Mentor Günter Bresnik. Sogar der Halbfinaleinzug in London gelang, als sich die acht besten Spieler der Saison im November bei den ATP Finals miteinander maßen. Mehr noch: Thiem bezwang Federer, Djokovic und schließlich den Vorjahressieger Alexander Zverev, als es um den Einzug ins Endspiel ging.
„Ich habe gekämpft, habe 100 Prozent gegeben"
Erst im Finale der Finals bremsten den „Dominator" Thiem eine Verkühlung und ein weiterer heißer Aufsteiger der Saison. „Ich habe gekämpft, habe 100 Prozent gegeben, aber so ist Tennis", sagte Thiem noch auf dem Platz. Der 26-Jährige hatte den ersten Satz im Tiebreak gewonnen, aber dann wieder mal erlebt, wie „brutal" und „eng" es hergehen könne.
Als jüngster ATP-Weltmeister seit 18 Jahren konnte Stefanos Tsitsipas sein Glück kaum fassen: „Ich weiß nicht, wie ich so gut im zweiten Satz spielen konnte." Der 21-Jährige ist ein junger Grieche mit Agassi-Mähne, faszinierender Sprechweise, eigenem Youtube-Kanal und optimal trainiertem Offensivspiel, der sich selbst als schüchtern bezeichnet und trotzdem mit knallhartem körperlichem und mentalem Training selbstbewusst nach den Sternen greift. Noch so ein Star, der sich 2019 zum neuen Fixstern der Top Ten entwickelte und bald der „Big Four" angehören könnte. „Ich glaube, ich bin nah dran, zu einem Grand-Slam-Champion gekrönt zu werden", sagte der Hobby-Filmer, nachdem er ATP-Weltmeister der Saison geworden war. Er sei überzeugt davon, dass er dahin gehöre.
Am Anfang des Jahres besiegte Tsitsipas – der auch von Patrick Mouratoglou, dem Coach von Serena Williams in Nizza trainiert wird – den größten Tennisspieler aller Zeiten nach aktuellem Stand: Roger Federer. Bei den Australian Open war das, dem ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres, bei dem Stefanos bis ins Halbfinale durchzog. Dann war Schluss, aber nicht mit seinen Erfolgen in dieser Saison. Obwohl er keinen Titel jenseits der 250er-Ebene der ATP-Tour gewann – also kein 500er-, 1.000er- oder ITF-Grand-Slam-Event –, arbeitete sich der neue Held der Griechen in dieser Saison mit drei Siegen von Position 15 auf Rang sechs vor. Seine erste Teilnahme bei den ATP Finals der besten acht Spieler der Saison war Tsitsipas’ Lohn, nachdem er 2018 bereits die entsprechende Veranstaltung der U21-Spieler in Mailand gewonnen hatte. Das Sahnehäubchen seiner Premiere in London war der Titel, errungen, obwohl das Triumvirat Federer, Nadal und Djokovic komplett und unverletzt beim Kampf um den Jahreskönigstitel vertreten war. Thiem lobte ihn nach dem hochklassigen Titelkampf bei der Siegerehrung: „Du verdienst es."
„Daniil spielt auf eine Weise, die wir niemals zuvor gesehen haben"
Für „langweilig" hält Tsitsipas selbst das Spiel eines Mannes, der sich in eineinhalb Jahren von Rang 65 auf fünf der Weltrangliste hochspielte, und mit seinen undurchschaubaren Ballwechseln und heftigen Aufschlägen 2019 neun Endspiele und davon drei Titel in Serie einfuhr: das des Russen Daniil Medvedev. Andere sehen den Playstation-Fan und mathematisch-naturwissenschaftlich ausgebildeten Moskauer eher als Genie, der seine emotionalen Ausbrüche gegen Schiedsrichter oder Zuschauer allmählich besser unter Kontrolle bringt. „Daniil spielt auf eine Weise, die wir niemals zuvor gesehen haben. Also kann man es von zwei Seiten betrachten", sagt hingegen Alexander Zverev, der den 23-Jährigen seit Kindertagen kennt und ihn für einen der besten Spieler derzeit hält. Zumal er von ihm im Finale des 1.000er-Masters von Shanghai geschlagen wurde. In seiner Erfolgsdauerschleife seit dem Hochsommer wurde der unerschrockene, gefürchtete Russe bei den US Open im September erst durch Nadal von seinem ersten Grand-Slam-Titel abgehalten.
Und dann war da noch Alexander, genannt „Sascha", Zverev, bester deutscher Spieler der Gegenwart, bei dem in diesem Jahr lange Zeit nicht viel zusammenlief. Immerhin ein Titel in Genf und ein Halbfinalsieg in Shanghai gegen Matteo Berrettini, den gnadenlosen Italiener, der in diesem Jahr aus den Top 60 in die Top Ten hochschoss und mit 23 Jahren das Ablöseteam um die Grand-Slam-Trophäen erweitern könnte. Bei den US Open im September rückte Berrettini mit einem Viertelfinal-Sieg über den virtuosen Zauberer Gaël Monfils bereits bis ins Halbfinale vor.
Doch Sascha Zverev gelang immerhin so viel, dass der Titelverteidiger in London wieder dabei war und dort erstmals in seiner Karriere die Nummer eins der Weltrangliste, den überragenden und frisch verheirateten Spanier Rafael Nadal, besiegte. Ein versöhnlicher Abschluss der offiziellen Saison für Sascha, bevor der müde Hamburger als Jahresend-Siebter mit seinem Idol Roger Federer zur Show-Tour in Südamerika abhob. Ob Management-Diktat dahinter steckte oder nicht: Der 22-Jährige sah es als gute Vorbereitung für 2020 an, wenn vor allem vier junge Spieler der Top Sieben die alten „Big Four" ein Stück mehr schubsen wollen, um an ihre Plätze, vor allem bei den Grand-Slam-Turnieren, zu rutschen. Novak Djokovic und Nadal hatten die Sehnsuchtstitel von Wimbledon, Paris, New York und Melbourne in diesem Jahr gerecht unter sich aufgeteilt, Federer ging diesmal leer aus. „Ich glaube fest, dass es nächstes Jahr einen neuen Grand-Slam-Sieger geben wird", beschloss Zverev seine Saison. Thiem, Tsitsipas und Medvedev will er beim Generationswechsel aber nicht allein lassen: „Ich hoffe, dass ich auch in der Verlosung bin." Zwei Ü30-Spieler könnten übrigens neben den „Twens" ebenfalls endlich einen Grand-Slam-Titel einfordern: Roberto Bautista Agut, der ruhige, sympathische Spanier, der mit 31 Jahren seinen Kindheitstraum erfüllte und in die Top Ten aufstieg. Außerdem der Franzose Gaël Monfils, der mit 33 Jahren die besten Zehn komplettierte und eine weitere Saison lang zeigte, wie schön Tennis anzusehen sein kann. Auch ohne Grand-Slam-Titel.