Für die Mehrheit der Franzosen war Jacques Chirac der beste Präsident der Fünften Republik. Vor wenigen Wochen ist der ehemalige Staatsmann im Alter von 86 Jahren gestorben.
Die Nachricht von seinem Tod bewegte ganz Frankreich. Sogar der Eiffelturm trug Trauer und hüllte sich in düsteres Schwarz. 18 Jahre lang hatte er die Geschicke der französischen Hauptstadt von 1977 bis 1995 geleitet, zwölf Jahre lang, von 1995 bis 2007, die der französischen Nation. So beliebt wie er war seit Charles De Gaulle, dem legendären Gründer der Fünften Republik und Künder der Größe und Unabhängigkeit Frankreichs, kein französischer Staatspräsident. Weder der intellektuelle Schöngeist Georges Pompidou, noch der aristokratische Technokrat Valéry Giscard d’Estaing, noch der geheimnisumwitterte „Florentiner" François Mitterrand. Auch nicht der umtriebige Nicolas Sarkozy und dessen biederer Nachfolger François Hollande, Vorgänger des aktuellen Staatschefs Emmanuel Macron. Jacques Chirac, der kürzlich im Alter von 86 Jahren gestorben ist, war Frankreichs viertes Staatsoberhaupt nach General De Gaulle.
Chirac eroberte den Elysée-Palast erst im dritten Anlauf. Zuvor hatte er als konservativer Regierungschef, als Oppositionsführer und Bürgermeister von Paris das politische Leben des Landes mitgestaltet. Der Sohn eines Buchhalters, der es bis zum Vertrauten der Industriellenfamilie Dassault schaffte, wurde 1932 in Paris geboren. Er absolvierte die Elitelaufbahn, die Frankreich seinen talentiertesten Kindern offenhält: Studium an der renommierten Pariser Hochschule Sciences Po, wo er seine Gattin Bernadette kennenlernte, Examen an der Verwaltungshochschule ENA, dazwischen Wehrdienst und Freiwilligen-Einsatz in Algerien. 1969 wurde er Mitarbeiter des Präsidenten Pompidou.
Der hoch gewachsene Gaullist (1,89 Meter) zeichnete sich durch große Volksnähe aus. Er genoss das Bad in der Menge, besonders bei Wahlkämpfen und in der Corrèze im französischen Zentralmassiv, wo er seine politische Karriere begonnen hatte. Im Gespräch mit einheimischen Bauern ließ sich der Jungpolitiker dort auch schon mal duzen, augenzwinkernd auf die Schultern klopfen und vertraulich die Haare kraulen. Dabei pflegte er seine Ehefrau und enge Mitarbeiterin Bernadette privat zu siezen, wie es auch bei den De Gaulles Sitte war – gemäß einer alten großbürgerlichen Tradition.
40-jährige Karriere mit höhen und Tiefen
Jacques Chirac erlebte im Laufe seiner 40-jährigen Karriere Höhen und Tiefen, Erfolge und Niederlagen, nicht zuletzt manchen politischen Skandal und eine schmerzliche Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung (2011). Grund dafür war die Veruntreuung von Steuergeldern in seiner Zeit als Bürgermeister von Paris.
Nach seinem Amtsabschied 2007 avancierte er trotz allem in IFOP-Umfragen für „Paris-Match" für mehr als 70 Prozent der Befragten zum beliebtesten Politiker Frankreichs.
Der ehemalige Präsident wurde zum „gutmütigen Großvater der Nation", was Gérard Courtois noch in seinem Nachruf in der linksstehenden Tageszeitung „Le Monde" mit spürbarem Unbehagen vermerkte. Als der letzte große „Bannerträger des Gaullismus" (Gaston Carré im „Luxemburger Wort") starb, bekundeten drei Viertel der Franzosen über die Parteigrenzen hinweg ihre Zuneigung zu „Chichi". Mittlerweile gilt Chirac einer Mehrheit der Franzosen – laut einer aktuellen IFOP-Umfrage – als der beste Präsident der Fünften Republik, auf einer Stufe mit De Gaulle.
Tausende von Franzosen trugen sich in die im Vestibül des Elysée-Palastes ausliegenden Kondolenzbücher zu Ehren des Verstorbenen ein. Ihre Gedanken und viele Interview-Statements in den Medien spiegeln persönliche Erinnerungen und Urteile wider. Ramdane, der 41 Jahre alte Sohn marokkanischer Einwanderer, zählt sich zur „Generation Chirac". Er dankt dem Charmeur im Präsidentenamt, dass er 2002 Frankreich vor dem rechtsextremistischen Front National gerettet habe. Antoine, 36 Jahre alt, nennt Chirac einen „Friedenspräsidenten", weil er die Wehrpflicht abgeschafft und zum Irak-Krieg Nein gesagt habe. Jeanne, eine elegante 70-Jährige, schwärmt von der Energie und dem Lebenshunger des Präsidenten. Damals sei Frankreich noch Frankreich gewesen, und kein Minister habe zurücktreten müssen, weil er Gästen edle Weine und Hummer auf einem Silbertablett servieren ließ. Es sind Sympathiebekundungen mit einem nostalgischen Blick in die Vergangenheit.
Kritiker warfen Chirac vor, er scheue das Risiko
Zeitgenössische Forscher und Publizisten relativieren das Lob mit kritischen Anmerkungen. Der aus dem Saarland kommende Professor Wilfried Loth, der an der Universität Essen lehrt, ist ein ausgewiesener Experte in Sachen Frankreich. Für ihn war Chirac ein Mann der Linken, kein Sozialist, aber ein radikaler Republikaner. Dafür nennt er mehrere Belege.
Einmal Chiracs Bekenntnis zur – von Mitterrand noch mit Schweigen übergangenen – Mitschuld der Franzosen an der Deportation von 76.000 Juden während des Vichy-Regimes. Dann sein kategorisches Nein zum Bündnis mit dem Rechtsextremisten Le Pen, das ihm eine verheerende Wahlschlappe bescherte. Ferner sein Misstrauen gegenüber der Unternehmerschaft und sein von großer innerer Überzeugung getragener Widerstand gegen den Irak-Feldzug der USA. Maßgeblich dafür waren, wie „FAZ"-Korrespondentin Michaela Wiegel anmerkt, nicht Pazifismus oder Antiamerikanismus, sondern die „aufrichtige Sorge über die geostrategischen Folgen" dieser Intervention. Loth verweist auch auf die begrenzte Risikobereitschaft Chiracs bei der Durchsetzung notwendiger Reformen: Verlängerung der Arbeitszeit, Reform des überlasteten Sozialsystems, Beschneidung der Privilegien des öffentlichen Dienstes. Sobald sich ein Proteststurm erhob, knickte der Präsident ein – aus Gründen des Machterhalts. Loth pflichtet hier dem Publizisten Franz-Olivier Giesbert bei, der Chiracs Mitverantwortung für die wirtschaftliche Malaise des Landes betont: Die „perfekte Verkörperung einer risikoscheuen Gesellschaft."
In seinen zwölf Präsidentenjahren arbeitete Chirac vertrauensvoll mit drei deutschen Regierungschefs zusammen – Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel. Immer dem Gedanken der deutsch-französischen Verständigung verpflichtet, die ihm ein Herzensanliegen war. Gelegentliche Meinungsverschiedenheiten, etwa beim EU-Gipfel in Nizza im Jahr 2000 über das Stimmengewicht Deutschlands, änderten daran nichts. Chirac zeigte sich davon überzeugt, dass unter den Aussöhnungsprozess zwischen Franzosen und Deutschen kein Schlussstrich gezogen werden kann: „Wir müssen täglich versuchen, uns besser zu verstehen." Die Tradition der ständigen Abstimmungen zwischen Präsident und Bundeskanzler begründeten Jacques Chirac und Gerhard Schröder Anfang 2001 im Restaurant „Au Boeuf" im elsässischen Blaesheim nahe Straßburg – bei Gänseleber und Sauerkraut. Die Franzosen schätzten den Präsidenten nicht nur wegen seines Charmes und seiner bereitwillig verteilten Wangenküsschen. Man amüsierte sich auch wegen seiner mitunter derben Sprüche und saftigen Polemiken. Kostproben davon inklusive Klatsch und Tratsch bei Hofe bietet der Promi-Publizist Franz-Olivier Giesbert in seinem Enthüllungsbuch „Jacques Chirac. Tragödie eines Mannes und Krise eines Landes". Dies sei „eine brillante, bisweilen überzogene Polemik", urteilte ein Kritiker, doch nie langweilig.
Staatsmann ließ mitunter derbe Sprüche los
Der „Bulldozer" Chirac, der Machtmensch, der Populist und der Macho begegnen uns in den vielen überlieferten Bonmots des verstorbenen Präsidenten. „Ich mag Brot, Pâté und Wurst lieber als Tempolimits" äußerte er 1977 einmal gegenüber dem „Auto-Journal". „Was will sie denn noch, diese unausstehliche Frau?", erhitzte er sich 1988 über die ständigen Geldforderungen der britischen Regierungschefin Margaret Thatcher an die EU. „Natürlich bin ich links! Ich mag Sauerkraut und Bier", erklärte er im Wahlkampf 1995 dem Linksblatt „Libération". Schließlich 2004 Chiracs Machtwort: „Ich entscheide, und er führt aus", seinen ehrgeizigen Finanzminister Nicolas Sarkozy zurechtweisend. Dieser folgte ihm 2007 im Präsidentenamt.