Braunbären sind scheu und gehen Menschen am liebsten aus dem Weg. Im westlichen Teil der Hohen Tatra in der Slowakei haben Touristen mit Bärenführer Jan Barilla gute Chancen, die pelzigen Tiere zu sehen.
Unser Blick wandert suchend über die sonnenbeschienenen Blaubeerbüsche am Hang gegenüber. Eine Bewegung, eben noch nicht zu sehen, elektrisiert uns. Drei große Punkte bewegen sich langsam aus dem in dieser Höhe niedrig gewachsenen Kiefernbestand. Das Fernglas gibt Aufschluss: Eine Braunbärin ist mit zwei fast ausgewachsenen Jungen an diesem Nachmittag auf Futtersuche. Der plötzliche erste Wintereinbruch am Vorabend hat die Tiere aufgeschreckt. Sie nutzen die letzten Tage der Fülle zum Anlegen von Fettreserven, bevor sie sich zur Winterruhe in eine Höhle zurückziehen. Die Bärin führt die Jungen durch ein fast trockenes Bachbett. Der Hunger treibt sie zu den nahrhaften, vollreifen Früchten.
Am späten Vormittag sind wir mit Jan Barilla, unserem „Bärenführer", losgezogen in den westlichen Teil der Hohen Tatra in der Slowakei. Die Braunbären (Ursus arctos) bevorzugen zu dieser Zeit im September am sonnigen Hang die Nachmittagsstunden. „Je später am Tag, desto wahrscheinlicher ist eine Sichtung", erläutert der Biologe. Dabei sind sie generell zur Nahrungsaufnahme nicht auf eine bestimmte Tageszeit festgelegt. Sie ruhen sich zwischendurch immer wieder aus und sind auch nachts unterwegs. Ob man sie zu Gesicht bekommt, ist gar nicht so sicher. Denn scheu sind sie, was man ob ihrer Größe kaum glauben mag. Unser Naturführer kennt sich aus im Land der Bären, denn er studiert das Verhalten der Tiere seit vielen Jahren. Die Tiere gehen dem Menschen aus dem Weg, wann immer es ihnen möglich ist. Das ist auch wenig verwunderlich, denn der Mensch hat ihnen übel mitgespielt. In Europa, ihrer Heimat, sind die Braunbären vielerorts ausgestorben. Jan führt eine Studie aus Schweden an, die das Verhalten der Bären bei Kontakt mit Menschen untersuchte. In mehr als 150 Fällen liefen Probanden in einer vorher festgelegten Entfernung an Bären, die mit GPS-Sendern ausgestattet waren, vorbei. Fazit: Die meisten Bären machten sich frühzeitig aus dem Staub. In etwa acht von zehn Fällen bekommt der Mensch gar nicht mit, dass ein Bär in seiner Nähe war. Zum Glück erfahren wir das gleich zu Beginn unserer Wanderung. Das nimmt uns die letzten Bedenken. Trotzdem bleibt es ein aufregendes Gefühl, zu Fuß in ihrer wilden Heimat unterwegs zu sein. Doch mit Jan fühlen wir uns sicher, denn auch für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir doch auf Bären treffen sollten, ist er gewappnet. Gut für uns sichtbar und stets griffbereit baumelt am Rucksack das Bärenspray. Es besteht aus Chilipulver. Erwischt ein angreifender Bär eine Nase voll davon, will er sie nur noch im Wasser kühlen – denn sein Riechorgan ist wesentlich empfindlicher als das des Menschen. Bislang hat unser Guide das Spray noch nie eingesetzt, versichert er glaubhaft, obwohl auch er schon einmal eine brenzlige Situation erlebt hat. Zum Beispiel sei er bei einer Wanderung zur Datenerhebung auf ein kletterndes Jungtier im Baum getroffen. Kaum habe er es entdeckt, sei auch schon die Bärin zur Stelle gewesen. Sie habe ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er hier nicht erwünscht sei. Zum Schein habe sie ihn angegriffen, woraufhin er sich langsam und leise aus der Gefahrenzone zurückzog.
Bären mögen es vegetarisch
Meist belassen die Bären es bei einem Scheinangriff und suchen sich einen Weg aus der für sie unangenehmen Situation. Am besten verhält man sich ruhig und sucht den Rückzug. Nur in Ausnahmefällen bleibt der Bär hartnäckig. Dann kauert man sich auf dem Boden zusammen, hält die Hände schützend über den Kopf und bleibt so still wie möglich. Bären mögen keinen Lärm – er macht sie angriffslustig. Davonlaufen ist auch keine gute Idee – das könnte ihren Jagdinstinkt wecken. Am besten beugt man vor: Man sollte nicht alleine in den Wald gehen oder beim Wandern durch Geräusche wie Sprechen oder ein Bärenglöckchen auf sich aufmerksam machen. Dann kann sich der Bär frühzeitig zurückziehen.
Die meiste Zeit wandern wir durch dichten Kiefernforst auf schmalen Trampelpfaden. Viel Platz ist zwischen den Sträuchern oft nicht. Das wissen auch die Bären – sie nutzen die Wege der Menschen. Auf unserem Pfad treffen wir auf eindeutige Hinterlassenschaften. Dieser Bär war in Sachen Blaubeeren unterwegs: Seine Losung ist blau gefärbt, unverdaute Beerenreste sind gut erkennbar. Wir wandern weiter stetig bergan über schöne Lichtungen und durchqueren kleine Bäche. Unsere Beinmuskulatur ist gefordert – für Ungeübte ist diese Wanderung nicht zu empfehlen. Überall ragen Wurzeln oder spitze Steine aus der harten Erde. Nur manchmal ist der Waldboden weich. Dann klingt er bei jedem Tritt etwas hohl und federt angenehm nach.
An einer großen Kiefer machen wir Rast. Hier stand ein Bär auf seinen Hintertatzen und hat mit den Krallen seiner Vorderpranken die Baumrinde traktiert. Warum die Bären das tun, ist noch nicht umfassend erforscht. Das ausgetretene Harz am Stamm verströmt einen intensiven Duft, die Spuren sind noch frisch. Ein Bär steht auf seinen Hinterbeinen – unsere Fantasie geht mit uns durch. Wir assoziieren damit Drohgebärden und eine lebensgefährliche Situation. Unser abgespeichertes Wissen stammt hauptsächlich aus Spielfilmen oder Romanen. Unser Bärenkenner belehrt uns eines Besseren und bringt Licht in die alte Mär: Die Tiere stellen sich auf ihre Hinterbeine, weil sie nicht so gut sehen können. Von weiter oben haben sie einen besseren Überblick. Klingt plausibel. Jan lacht und meint: „Das ist eine allzu menschliche Interpretation der Situation." Möglicherweise hält der Bär einfach nur Ausschau nach einer Möglichkeit, wie er sich zurückziehen kann. Das hätte dann mit Drohen nicht viel zu tun.
Eine Information zur bärigen Diät überrascht uns besonders: Sie besteht zu 90 Prozent aus vegetarischer Kost bei den Bären in der hohen Tatra. Je höher man in den Norden kommt, desto mehr Fleisch fressen sie. Pflanzliche Kost steht in der Arktis nicht so viel zur Verfügung. In der Tatra verspeisen sie Gras, Kräuter, Beeren, Obst und lieben wilden Honig. Pilze gehören seltener dazu, obwohl sie hier reichlich wachsen. Zum selber Jagen sei der Braunbär nicht schnell genug, deshalb ernähre er sich nach dem Winter beispielsweise von Aas, das unter dem schmelzenden Schnee zum Vorschein kommt. Manchmal, so weiß Jan, findet man auch größere, umgedrehte Steine. „Das kann ein Bär gewesen sein, der darunter Insekten oder Weichtiere gesucht hat", erklärt er uns. So kommen sie nach langen Wintern an dringend benötigtes Protein.
Eine weitere Mär kann unser Naturführer entkräften: Ein Bär „schläft" im Winter nicht wirklich tief und fest. Wir erfahren, dass es sich mehr um eine Winterruhe handelt. Kurz bevor er sich zurückzieht, frisst er Kräuter, die für Verstopfung sorgen. Damit muss er im Winter, wenn es kalt und ungemütlich draußen wird, nicht raus für „große Bären". Dennoch: Stört man einen Bären in seiner Höhle, ist er durchaus in der Lage, sich kraftvoll zu wehren. „Das ist anders als bei Siebenschläfern oder anderen Tieren, die tatsächlich einen Winterschlaf halten", weiß Jan. Würde man einen Siebenschläfer stören, könnte das für das Tier den Tod bedeuten, denn es fährt alle lebenswichtigen Körperfunktionen auf ein Minimum herunter. Der Bär ruht nur. Nach seiner Winterruhe löst er seine Verstopfung, indem er morsches, moderndes Holz frisst und verschmutztes Wasser trinkt.
Männchen töten oft fremde Jungtiere
Von Tiefschlaf kann bei den weiblichen Tieren sowieso keine Rede sein. Sie bekommen im Januar ihren Nachwuchs. Ein bis zwei, seltener drei Junge werden blind geboren und sind am Anfang nur eine „Handvoll" Bär. Sie wiegen knapp 500 Gramm. Das demonstriert uns Jan anschaulich mit dem kleinen Stoffbären, den er aus dem Rucksack zaubert. In den ersten Monaten legen sie kräftig an Gewicht und Größe zu, damit sie mit der Mutter im Frühling draußen Schritt halten können. Zwei bis drei Jahre bleiben sie bei ihr, bevor sie eigene Wege gehen. Gefährlich wird es für die Jungtiere hauptsächlich dann, wenn die Paarungszeit herannaht und große Männchen auf der Suche nach paarungsbereiten Weibchen sind. Im Reich der Bären ist es üblich, dass die ausgewachsenen Männchen Jungtiere töten. Das führt zu schnellerer Paarungsbereitschaft bei den Weibchen. Deshalb trennen sich Bärenmütter manchmal temporär von ihren halberwachsenen Jungtieren und treffen sie nach der Phase der Paarung wieder.
Fast eine Stunde haben wir das Vergnügen, die Bären fressend in den Beerensträuchern zu beobachten. Wir entdecken eine Gemeinsamkeit: Auch uns schmecken die Blaubeeren ausgezeichnet. Allerdings nehmen wir sie in Form des Blaubeerkuchens zu uns, den Jan extra für uns mit in die Wildnis geschleppt hat. Die Sonne sinkt schnell, und wir machen uns auf den Rückweg. Auf halber Strecke stoßen wir auf eine leere Bienenwabe auf dem Waldweg. Das ausgehobene Nest ist schnell gefunden, ein paar Bienen umschwirren es noch aufgeregt. Lange vor uns kann Meister Petz hier nicht vorbeigekommen sein. Offenbar hat er sich den Snack gut munden lassen. Er ist als Honigliebhaber bekannt.
Bei einer Pizza im „Utopia", Poprads bekanntester Pizzeria, lassen wir unsere kleine Expedition ausklingen. Dabei erfahren wir, dass Jan sich nicht nur mit Bären ausgezeichnet auskennt. Er befasst sich auch mit Wölfen, Gämsen, Wisenten, Auerhähnen und anderem Getier, das in seiner Heimat zu Hause ist. Im zarten Alter von acht Jahren entdeckte der 27-Jährige seine Liebe für Bären und die Natur. Später investierte er viel Zeit und Energie ins Klettern und andere Outdoor-Aktivitäten, entschied sich letztendlich aber doch für das Studium der Bären. Inzwischen betreibt er die Unterkunft „The Bear Tracker Inn". Sein Traum ist eine eigene Nichtregierungsorganisation, mit der er Forscher und Naturliebhaber zusammenbringen möchte. Dazu lebt er am denkbar günstigsten Ort: dem Dorf Betlanovce, nur knappe zwei Kilometer entfernt vom „Slowakischen Paradies" im Nationalpark „Slovenský raj". Für uns jedenfalls ist nach dieser Erfahrung klar: Bei nächster Gelegenheit streifen wir wieder mit Jan durch die Wälder seiner Heimat. Vielleicht geht es dann zu den Wölfen oder Auerhähnen.
Weitere Informationen unter: Jan Barilla, beartrackerinn@gmail.com