Seit einem Jahr leitet Tim Hartmann die Stahlholding Saar sowie die beiden Unternehmen Saarstahl und Dillinger. Um wettbewerbsfähig zu bleiben und gleichzeitig den Klimazielen des Bundes gerecht werden zu können, verändert sich die deutsche Stahlindustrie radikal, teils im laufenden Betrieb. Dafür notwendig seien verlässliche politische Rahmenbedingungen, so der Vorstandschef.
Herr Hartmann, Sie sind jetzt seit etwa einem Jahr Vorstandschef von Saarstahl und Dillinger. War Ihnen das Ausmaß der Entscheidungen, die auf Sie zukommen, zuvor bewusst?
Dillinger und Saarstahl sind zwei hervorragende Unternehmen mit Substanz und engagierten Mitarbeitern. Gleichzeitig besteht dringender Handlungsbedarf. Ja, da hat man mir reinen Wein eingeschenkt. Bis auf die konjunkturelle Entwicklung war allen Beteiligten klar, was auf uns zukommen wird.
Auch der Verlust von 2.500 Arbeitsplätzen?
Nein, nicht im Einzelnen. Was ich wusste, war, dass wir einen CO2-Transformationspfad benötigen, dass wir eine neue Strategie entwickeln werden und uns anschauen müssen, wo wir ein Kosten- oder Einnahmeproblem haben. Ganz klar: Wir haben beides. Und wir haben für beides einen Plan. Wir haben uns angesehen, was wir erwirtschaften müssen, damit wir unsere kontinuierlichen Investitionen in neue CO2-ärmere Technologien zum Großteil selbst stemmen können. Und im Vergleich zu unseren direkten europäischen Wettbewerbern haben wir insgesamt höhere Kosten. Der Personalabbau dient nicht der Konjunkturbewältigung, sondern unserer Wettbwerbsfähigkeit. Die Gespräche zu den sozialverträglichen Personalinstrumenten mit den Arbeitnehmervertretern haben wir inzwischen abgeschlossen. Für jeden einzelnen ist das ein schwerer Stein, aber wir haben ein hohes Potenzial an Altersteilzeit. Davon zu trennen ist der Bereich Outsourcing, zum Beispiel in Bereichen, in denen nicht unsere Kernkompetenz liegt und andere Unternehmen als langfristige Partner eben besser aufgestellt sind.
Technologische Transformation heißt, dass die Stahlbranche nun auf Wasserstoff setzt, auch Dillinger und Saarstahl. Wird Ihre Anlage planmäßig in diesem Jahr an den Start gehen?
Unsere Einblasanlage am Hochofen für stark wasserstoffhaltiges Koksgas wird planmäßig fertig. Wir haben ja bereits eine Versuchsanlage im Betrieb und schaffen nun die baulichen Voraussetzungen, um dies im großen Stil weiterzuführen. Allerdings ist dies ja nur ein Schritt – erst einmal auf der Hochofenroute – auf dem Weg zur Transformation hin zu grünem Stahl.
Wie wird das konkret funktionieren?
Koksgas hat einen deutlich größeren Wasserstoffgehalt, mehr als zum Beispiel Erdgas. Das Koksgas ist sozusagen ein Nebenprodukt unserer Kokerei, das wir bislang für Wärme genutzt haben. Jetzt blasen wir es in den Hochofen und ersetzen damit Koks, binden bei Weitem mehr Kohlenstoff und erzeugen damit einen niedrigeren CO2-Ausstoß. Und wir haben die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen, mit dieser Anlage Koksgas durch reinen Wasserstoff zu ersetzen. Wir müssen also schrittweise das neue System aufbauen und gleichzeitig das alte abbauen – das heißt, eine Operation am offenen Herzen, mit Investitionen in neue Infrastruktur und Bauten bei gleichzeitig laufenden Kosten, die wettbewerbsfähig sein müssen.
Darüber hinaus befassen wir uns innerhalb unseres laufenden Strategieprozesses mit den technischen Möglichkeiten, die Ziele des Pariser Klimaabkommens in dem vorgegebenen Zeitrahmen zu erreichen. Dabei stoßen die etablierten Produktionsverfahren zur Stahlherstellung bei der Reduzierung der CO2-Emissionen an Grenzen. Man hat sich daher in unseren Unternehmen bereits 2016 in einer Studie überlegt, wie eine CO2-freundlichere Transformation aussehen würde: Dies könnte die Direktreduktion in einem Elektrolichtbogenofen, ob mithilfe von Erdgas oder Wasserstoff, sein, die heute aber noch nicht wirtschaftlich ist. Die fehlende Wettbewerbsfähigkeit ist auch der Grund, warum nicht alle Welt bereits auf Wasserstoff umgestiegen ist.
Woher könnte der reine Wasserstoff im letzten Schritt kommen?
Produzieren wir ihn hier vor Ort, bräuchten wir riesige Mengen an Strom – wir reden hier vom Strombedarf ganzer Städte, den wir nur für die Wasserstoffproduktion benötigen. Und dabei sollte es sich natürlich um grünen Strom handeln. Beim Einsatz der Direktreduktion mithilfe von Wasserstoff bräuchten unsere Unternehmen alleine etwa 13 Terrawattstunden zusätzlich. (Anm. d. Red.: Zum Vergleich, die deutschlandweite Stromproduktion lag 2018 bei 491,8 Terrawattstunden) Wenn wir unsere Jahresstahlproduktion über die Direktreduktion mit reinem Wasserstoff herstellen wollen, brauchen wir 350.000 Norm-Kubikmeter Wasserstoff pro Stunde. In unserer direkten Nähe soll eine der größten Wasserstoff-Elektrolyse-Anlagen mit einer Kapazität von 3.800 Kubikmetern pro Stunde gebaut werden – das wäre, Stand heute, noch zu wenig. Die Frage ist also: Wie kommen wir in dieser Technologie schnell genug voran, um einerseits wettbewerbsfähig zu bleiben und andererseits die Rahmenbedingungen aus den Klimaabkommen und -zielen der Bundesregierung einzuhalten? Und am Ende dieses Prozesses möchten wir als Unternehmen auch noch lebend ankommen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir stehen zu der notwendigen Veränderung, aber die Dimensionen müssen auch in der öffentlichen Diskussion klar sein.
Wäre Erdgas also eine günstigere Brückentechnologie?
Bis wir bei reinem Wasserstoff ankommen, brauchen wir eine Brücke. Bis dahin halten unsere beiden Hochöfen nicht, im Schnitt 20 Jahre, dann müssen sie mit größeren Investitionen instandgesetzt werden. Also, ja, ich halte Gas als Brückentechnologie für sehr realistisch.
Was erwartet die Stahlbranche in der jetzigen Situation von der Politik? Was muss aus Ihrer Sicht hier geschehen?
Konjunkturelle Entwicklungen können und müssen wir alleine als Unternehmen abfedern, aber es gibt strukturelle Probleme, die die Politik steuern kann. Den Überkapazitäten kann die EU durch faire Wettbewerbsrahmen begegnen – über Mengenbegrenzungen oder über CO2-Strafen für weniger umweltfreundlichen Stahl aus dem Ausland zum Beispiel. Ich habe auch nichts dagegen, CO2-Abgaben zu bezahlen – wenn der Wettbewerb mit dem Ausland dadurch nicht verzerrt wird. Für die technologische Transformation hin zu einer CO2-freien Stahlerzeugung sind sehr hohe Mittel notwendig: Zum einen ist die Anlagen-Infrastruktur umzubauen, zum anderen wird Strom aus regenerativen Quellen in genügend großer Menge und zu wettbewerbsfähigen Preisen benötigt. Den Investitionsrahmen kann die Politik steuern, indem sie neue Projekte finanziell fördert oder laufende Kosten, zum Beispiel den Strompreis, abfedert.
Spielt denn China noch immer eine große Rolle im Kampf gegen Überkapazitäten?
Nicht allein, aktuell weniger die Chinesen als andere. Große und steigende Importmengen kommen aktuell auch aus Russland, der Ukraine und Indien. Osteuropa, die Türkei spielen für uns eine spürbare Rolle, wenn es um das kreative Unterlaufen der EU-Safeguards, um Überkapazitäten im Stahlmarkt geht: Diese EU-Importquoten sind vollkommen unzureichend.
Neben der Forderung nach fairem Handel kritisiert die Stahlbranche den Emissionszertifikatehandel. Dieser bietet derzeit noch keine großen Anreize, um auf Wasserstoff umzusteigen – wie müsste der Handel aus Ihrer Sicht reformiert werden?
Da wäre zum einen die Frage nach der Mittelverwendung der durch den Handel eingenommenen Gelder. Das, was Unternehmen entzogen wird, könnte wiederum in neue Technologien investiert werden. Die Stahlwirtschaft hat den Vorteil, dass hier die Technologien schon da sind und schnell signifikante CO2-Einsparungen erzielbar sind. Ich habe jedoch Sorge, dass Wasserstoff der meistüberschätzte Energieträger derzeit ist – nicht, weil ich nicht an seinen Erfolg glaube, sondern weil ich derzeit noch befürchte, dass nicht genügend Wasserstoff in den kommenden fünf bis zehn Jahren zur Verfügung steht, um die deutsche Stahlproduktion daraufhin auszurichten.
Eine Maßnahme der Bundesregierung könnte ein sogenannter Carbon Contract for Difference (CFD) sein, sprich der Staat zahlt die Differenz zwischen einem garantierten CO2-Preis und einem möglichen geringeren CO2-Marktpreis. Ist der Preis höher, zahlt das Unternehmen. Diese CFD soll erst mal erprobt werden – kommt diese Maßnahme nicht ein bisschen spät?
Nichts kommt zu spät in diesen Tagen. Ich halte die CFD für eine richtige Maßnahme. Die Zeit, die uns bleibt, um eine komplette Technologie zu verändern, ist kürzer als unsere üblichen Investitionszyklen. Insofern rentiert es sich für den Staat, zu überlegen, wie er in dieser kurzen Zeit finanziell helfen kann. Wir brauchen aber eine neue Geschwindigkeit in der Politik, und zwar in Berlin und in Brüssel, wenn der Stahl weiter hier in Deutschland produziert werden soll. Vor allem die laufenden Energiekosten könnten über solch einen CFD aufgefangen werden.
Aber wäre das nicht eine EEG- Umlage durch die Hintertür? Der Staat wird seine Kosten refinanzieren, möglicherweise durch eine Klima-Umlage auf Stahl, also würden die Endkunden draufzahlen.
Korrekt, die Klimawende gibt es nicht zum Nulltarif. Aber deshalb sage ich, ist die Begründung des Staates hierbei entscheidend: Stahl ist der Werkstoff der Zukunft: ohne Stahl keine Klima- und Mobilitätswende. Lassen wir den Stahl künftig woanders produzieren oder hier in Deutschland? Wir können nicht davon ausgehen, dass Konkurrenzunternehmen die Stahlproduktion so klimafreundlich erledigen wie die deutschen Unternehmen. Wenn wir in Deutschland Vorbild sein wollen, müssen wir einen Mechanismus finden. Und je fairer der weltweite Handelsrahmen ausgestaltet ist, desto weniger individuelle Investitionsunterstützung brauchen wir.
Auch der Umbruch der Automobilindustrie zeigt Auswirkungen auf die Stahlbranche. Wie machen Sie hier Ihre beiden Unternehmen zukunftsfest?
Wenn sich unsere Kunden verändern, gehen wir mit. Wir investieren gerade bei Saar-Blankstahl in Homburg einen zweistelligen Millionenbetrag in eine Wärmebehandlungsanlage, um neue Stähle herzustellen gemäß den Vorgaben, 42 Kilogramm Gewicht pro Auto einzusparen. Dazu brauchen wir hochfesten gewichtsärmeren Stahl. Wir brauchen also neue Herstellungsverfahren und neue Stahlsorten. Wenn weniger Stahl verbaut wird, muss dieser jedoch eine höhere Qualität aufweisen, um auch nach Jahren im Dauereinsatz bestehen zu können, und zwar von der einzelnen Schraube bis zum Federstahl.
Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung?
Falls es mal eine Reklamation geben sollte, können wir nachvollziehen, welche Bedingungen am Tag der Produktion dieses Bauteils herrschten und wie es zu dem Fehler kommen konnte. Und das schaffen wir nur durch eine digitale Prozesssicherheit. Man sieht es dem Hochofen draußen nicht an, aber dort ist Künstliche Intelligenz am Werk. Wir digitalisieren, was wir in unseren Prozessen digitalisieren können und produzieren dadurch weit weniger Ausschuss. Sprich auch dadurch senken wir unsere CO2-Bilanz, mittelfristig durch neue, leichtere, qualitativ hochwertige Stähle, die zum Beispiel für mehr Klimaschutz im Einsatz sind.
Wie sieht denn der Beitrag von Stahl zum Klimaschutz aus Ihrer Sicht aus?
Stahl ist Teil des Klimaschutzes: Nehmen Sie Stahlwasserbau, Windräder, im Automobilbau, in der Photovoltaik, überall wird Stahl verwendet. Was wir vor Jahren für Ölpipelines produziert haben, produzieren wir heute für Produkte, die den Klimaschutz vorantreiben. Ein Viertel unserer Jahresproduktion bei Dillinger wird für Bleche von Offshore-Windrädern verwendet. Viele, die an einem Stahlwerk und den Hochöfen vorbeifahren, denken: „Das sieht ziemlich alt aus…" Doch der Werkstoff, der hier mit hochmodernen Methoden produziert wird, ist ein Werkstoff der Zukunft. Und es kann nicht sein, dass der dreckige Stahl, der unter Missachtung von sozialen und Umweltstandards produziert wird, den sauberen Stahl aus Europa verdrängt. Der Welt ist es aber völlig egal, wo sie zerstört wird. Die Welt braucht sauberen Stahl. Von 1,4 Milliarden Euro, die wir in den letzten Jahren alleine in Dillingen investiert haben, sind rund 500 Millionen in Umweltschutz geflossen – nicht nur zur CO2-Senkung, sondern auch für Wasser- und Lärmschutz, Luftreinhaltung und so weiter. Außereuropäische Wettbewerber haben diese Kosten so nicht.