In der kurzen Ära Al Capones wurde der Grundstein dafür gelegt, dass Chicago heute eine der Hauptstädte des Verbrechens ist. Eines ist bis heute gleich geblieben: die kaum nennenswerte Mord-Aufklärungsrate.
Es war ein explosionsartiger Aufstieg von einer winzigen Kolonialsiedlung zur Millionenstadt, was das 1837 gegründete Chicago innerhalb weniger Jahrzehnte erlebte. Die „Windy City", einer der vielen Spitznamen, war zwischen 1890 und 1940 die absolute Boomtown der gesamten USA. 1837 lebten hier gerade mal 4.000 Menschen, 1860 waren es schon 100.000, danach verdoppelte sich die Einwohnerzahl fast alle zehn Jahre und übersprang 1890 erstmals die Millionengrenze, vor allem dank eines wahren Heeres von europäischen Einwanderern. Stolze 40 Prozent der Bürger im Jahr 1890 waren nicht in den USA geboren. Bereits fünf Jahre später löste Chicago Philadelphia als zweitgrößte US-Metropole ab und erreichte schon 1910 die Zwei-Millionen-Einwohner-Marke. Die Stadt war ein Magnet für all jene, die sich Arbeit und ein besseres Leben erhofften. Zunächst fanden sie Jobs in der florierenden Getreide- und Holzindustrie, auch die Stahlproduktion hatte hier einen großen Stellenwert, nicht zuletzt dank der Entwicklung Chicagos zum weltgrößten Eisenbahnknotenpunkt.
Ein Magnet für all jene, die Arbeit suchten
Doch der Stolz der Stadt waren ihre Schlachthöfe, die „Union Stock Yards", auch sie die größten der Welt. Um 1900 malochten 25.000 Menschen für wenig Geld und unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen. Rheuma und Säureverätzungen waren der Normalfall in den Schlachthöfen, in denen bald das Fließband und ein neues Tiefkühlsystem eingeführt wurden. Doch nicht nur in den Fleischfabriken hielt die Moderne in Chicago rasant Einzug, sondern auch im architektonischen Stadtbild. Weil die Verantwortlichen den verheerenden Brand von 1871, der ein Drittel der Einwohner besitz- und obdachlos gemacht hatte, als Anlass nahmen, Holzhäuser aus der City zu verbannen und diese komplett neu in Stein zu errichten – inklusive des 1885 fertiggestellten weltweit ersten Wolkenkratzers namens „Home Insurance Building".
In dem pulsierenden Schmelztiegel aus 25 Nationalitäten hatte auch die frühe Filmindustrie ihre eigentlichen Wurzeln. Schon 1896 war die Selig Polyscope Company gegründet worden, die erste Streifen mit Stars des Stummfilms wie Harold Lloyd oder Colleen Moore produzierte. Die 1907 etablierte Firma Essanay sollte Schauspielern wie Charlie Chaplin oder der 1899 in Chicago geborenen Gloria Swanson erste Leinwanderfolge ermöglichen.
In den von der Cosa Nostra beherrschten Clubs der Stadt tummelten sich daher schon früh die ersten Stars und Sternchen. Kein Wunder also, dass die Mafia das Filmgeschäft in den 1920er-Jahren schnell als neuen Geschäftszweig für sich entdeckte. Aller Wahrscheinlichkeit nach konnte sie sich der Hilfe von Joseph P. Kennedy erfreuen, dem Begründer der Kennedy-Dynastie. Joe Kennedy war tief in den Alkoholschmuggel involviert und investierte das Schwarzgeld in die aufsteigende Filmbranche von Hollywood, wo er der Mafia von Chicago ab Mitte der 1920er-Jahre den Einstieg erleichterte und damit erst die ab Mitte der 1930er-Jahre gestarteten erpresserischen Aktivitäten des Chicagoer Outfits gegenüber kalifornischen Studiobossen, Kinobesitzern, Filmgewerkschaften und Film-Angestellten überhaupt ermöglicht hatte. Das mafiöse Hollywood-Engagement sollte erst durch einen Prozess im Frühjahr 1943 gestoppt werden.
Dank der Zuwanderung vieler Afroamerikaner aus dem amerikanischen Süden entwickelte sich Chicago zudem zu einer frühen Hochburg des vielerorten noch als „Negermusik" verunglimpften Jazz. In den größeren Clubs begann in den 1920er-Jahren der Aufstieg von Legenden wie Louis Armstrong, Earl Hines oder Jelly Roll Morton. In den Flüsterkneipen sorgten jede Menge unbekannte Musiker für beste Stimmung, nicht unbedingt zur Freude von Rassentrennungsvertretern, die auch die von Afroamerikanern gegründete und seit den 1930er-Jahren von Chicago aus operierende „Nation of Islam" erbittert bekämpften. Aufgrund ziemlich laxer Behördenaufsicht konnte sich das illegale Glücksspiel schon ab den frühen 1830er-Gründerjahren in der Stadt ausbreiten, ab den 1870er-Jahren auch die illegale Prostitution.
Das Amüsierviertel, anfangs noch mitten in der City gelegen, verlegte sich ab 1890 in den Süden der Stadt ins berüchtigte Viertel Levee, das zunächst von korrupten Stadtverordneten gelenkt und bis zu seinem Abriss in den 1930er-Jahren spätestens ab 1915 in Person von Jim Colosimo von der Cosa Nostra übernommen wurde. Im Lokal „The Four Deuces", dem ein Bordell angeschlossen war, begann Al Capones Karriere in Chicago. Die Adresse, 2220 South Wabash Avenue, sollte er auch später noch auf seiner Visitenkarte als persönliche Hausanschrift beibehalten. Die Schönen und Reichen hatten sich da schon längst von den südlichen Quartieren, wo hauptsächlich Schwarze in Slums wohnten, verabschiedet und prächtige Wohnsitze in nördlichen Vororten rund um den Lake Michigan bezogen.
Allein die Prohibition und die Lust am Trinken führte all die divergierenden Gesellschaftsschichten wieder zusammen. Und da beim Alkohol viel Geld im Spiel war, litt die Stadt unter einem hier ganz besonders stark ausgeprägten Makel, den der Chicagoer Politikwissenschaftler Prof. Charles Edward Merrian 1920 genau auf den Punkt gebracht hatte: „Chicago ist einmalig. Es ist die einzige Stadt in Amerika, die durch und durch korrupt ist." Diese Einschätzung wurde nach Einführung der Prohibition noch weiter bestätigt, als der oberste Polizeichef von Chicago, Charles Fitzmorris, offen bekannt hatte, dass 60 Prozent seiner Uniformierten im Alkoholgeschäft involviert seien. Und wohl auch vom Augenzudrücken bei illegalen Glücksspielen reichlich profitiert haben dürften. Schließlich seien von jährlich rund 4.000 Anzeigen im Schnitt höchstens 175 vor einem Gericht verhandelt worden.
Selbst der Bürgermeister galt als völlig korrupt
Wer wollte den einfachen Polizisten auch das Handaufhalten verübeln, wenn selbst der Bürgermeister von Chicago, William Hale Thompson, als völlig korrupt galt und auf der Gehaltsliste von Al Capone stand. Capone konnte sich durch Wahlkampffinanzierung wichtige Stadtratsvertreter zu gefügigen Werkzeugen machen. Für die Ära Al Capone galt schon das Prinzip, das ein Chicagoer Gerichtsreporter Mitte der 1960er-Jahre, so beschrieben hatte: „Es gibt in Chicago zwei Regierungen. Die erste wird durch das Volk gewählt. Die zweite Regierung ist das Syndikat. Manchmal ist schwer zu sagen, welche die Stadt regiert."
Mit 13,3 Morden pro 100.000 Einwohner war es zweifellos mordträchtiger als New York mit 6,1, aber meilenweit entfernt von Städten wie Miami mit 40, Atlanta mit 43,4, Charlotte mit 55,5 oder Memphis mit dem Spitzenwert von 69,3. Die Mordaufklärungsrate lag aber gleichsam bei Null, wie aus einem 1963 publizierten polizeilichen Untersuchungsbericht abgelesen werden konnte: Von 976 der Cosa Nostra in Chicago seit 1919 zugeschriebenen Morden konnten lediglich in zwei Fällen die Täter ermittelt werden. Seit den 1980er-Jahren hat die Mafia in Chicago ihren Machtzenit überschritten, auf der Straße wurde das Vakuum zunehmend durch extrem gewaltbereite Jugendgangs gefüllt, die trotz eines der schärfsten Waffengesetze der USA regelrechte Blutbäder anrichten, 2017 kamen dabei rund 800 Menschen ums Leben. Die Mord-Aufklärungsrate wurde zuletzt auf gerade mal 14 Prozent taxiert.