„Lippenstiftmuseum" steht am Klingelbrett eines würdevollen Gründerzeithauses in Berlin-Schöneberg. Es ist das Reich des Visagisten René Koch. Was sich darin findet, ist lehrreich und schön anzuschauen.
Holztreppe mit rotem Bastläufer. Die erste Etage ist eine ehemalige Herrschaftswohnung, heute ein Privatmuseum auf 300 Quadratmetern mit breiten Türstöcken, knarrendem Parkett, Stuckdecken, Messingbeschlägen und sanftem Licht, Vitrinen mit unzähligen Kosmetikartikeln darin.
Hausherr René Koch öffnet eine davon und entnimmt ihr vorsichtig eine kleine Dose: „Das ist aus der Belle Époque", sagt er und dreht an einem Schräubchen. Plötzlich erklingt eine Melodie. „Hier ist eine Spieluhr drinnen. Dann klappt man das auf, und da hat man die Puderdose. Und hier unten ist der Lippenstift. Und da ein Spiegel. Alles zusammen aus Sterlingsilber. Das ist heute natürlich ein Vermögen wert."
René Koch ist 74 Jahre alt, trägt helles Haar, Brille, und einen kurz gestutzten Bart. Der gebürtige Heidelberger war nach seiner Kosmetikerausbildung 21 Jahre lang Chefvisagist für die Weltmarken Charles of the Ritz und Yves Saint Laurent. In den herrschaftlichen Räumen seines Museums sind die Werkzeuge eines reichhaltigen Berufslebens ausgestellt: Voluminöse Lippenstiftmodelle aus Plastik etwa dominieren einen breiten Tisch im Salon. Sie standen einst in Schaufenstern, um Kunden anzulocken.
Der Hausherr hat alles zusammengetragen
Der Lippenstift ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Schon vor 2.000 Jahren färbten Frauen ihren Mund mit Lippenstein aus gebrannter roter Erde. René Koch führt vorbei an Schaukästen mit Schminkutensilien von Königin Luise oder Gräfin Kosel, winzigen Behältern, die mit Edelsteinen geschmückt sind, aus Barock und Renaissance. Dann holt er ein unscheinbares Plättchen aus einer Vitrine, auf dem die falschen Wimpern von Hildegard Knef liegen, die er fast 30 Jahre betreut hatte. „Wenn ich alles zusammenzähle, wie oft ich die geklebt habe, dann sind es Kilometer", erinnert sich Koch. „Und Hilde hat immer gesagt, wenn ich kam: Mach mir die Dinger dran, dass ick weeß, wo vorne ist!"
Nach dem Krieg hatte Hildegard Knef für den sogenannten Volkslippenstift Werbung gemacht: „1 Mark 50 im Jahr 1952, für jede Frau bezahlbar", sagt René Koch. „Man wollte eben in dieser Aufbauzeit wieder sagen: Frauen, schminkt euch, Wirtschaftswunder, jetzt geht es wieder bergauf!" Schminken machte auch vor der Emanzipation nicht Halt, im Gegenteil: „Die Suffragetten, die 1910 auf die Straßen gingen, in London, in New York, überall; die haben sich die Lippen blutrot gemacht und riesig übermalt, um zu zeigen: Hier, wir riskieren ’ne Lippe, aber nicht nur mit Farbe, sondern auch mit Power", erzählt der Schminkexperte. „Und dadurch ist der Lippenstift natürlich auch ein Mittel zum Zweck, ein Zauberstab eigentlich für die Emanzipation."
Er öffnet eine Vitrine und nimmt eine kleine Schachtel heraus, in Größe und Aussehen einer Zigarettenpackung nicht unähnlich. „Die emanzipierte Frau hat jetzt auch geraucht. Und somit haben sie hier alles drin: die Spieluhr wieder, die Puderdose, den Lippenstift an der Seite. Und wenn sie das aufklappen, haben sie hier das Zigarettenetui. Und sie hatte eine Zigarettenspitze und ihren eigenen Ascher dabei."
Einen Gegensatz bietet jene Vitrine, die dem einstigen Osten Deutschlands gewidmet ist. Denn in der DDR war der Lippenstift Gebrauchsgegenstand. Jede Arbeiterfrau sollte ihn sich leisten können. Allerdings bestand er aus einfachem Plastik und war nur in fünf Sorten beziehungsweise Farbnuancen erhältlich.
Inzwischen gilt der Lippenstift als das meistverkaufte Kosmetikprodukt der Welt. Früher kam der rote Farbstoff von der Cochenilleschildlaus, die in Mexiko und auf Teneriffa auf Kakteen lebt. Die winzig kleinen rot gefärbten Weibchen wurden gesammelt und getrocknet. Immerhin benötigte man für ein Kilogramm Farbstoff 100.000 Läuse. Heute werden natürliche und künstliche Farbpigmente gerührt und gemixt. Hinzu kommen Carnauba- und Candelilla-Wachse, die einen hohen Schmelzgrad haben, damit er nicht so leicht abgeht. „Man will ja auch damit knutschen", sagt René Koch.
Ein Berufsleben für Lippenstift und Puderdose. In den Vitrinen stehen Exemplare aus Peru oder Paraguay. Und so mancher Stift hat eine besondere Geschichte, wie jener, den Grace Kelly im Original als Fürstin von Monaco zu ihrer Hochzeit getragen hatte – der erste mit Geschmack und Geruch, kreiert von ihrer Freundin Estée Lauder unter dem Namen „Grace". „Weil die Fürstin so gerne Feigen gegessen hat, hat er Feigengeschmack, und weil ihr Lieblingsparfum der Vanillegeruch Shalimar war, riecht er nach Vanille", ergänzt Koch.
Der Flur des Museums ist dicht behängt mit zahlreichen alten Fotografien. Kaum eine Berühmtheit, die René Koch zu seiner aktiven Zeit nicht geschminkt hat: Nadja Tiller, Claudia Schiffer, Shirley Bassey, Shirley MacLaine, Juliette Gréco, Dalida, Karl Lagerfeld, Gianni Versace, Joan Collins, Greta Keller, Mireille Mathieu, die Thomallas, Karin Dor, Dolly Buster.
Promis verewigen sich auf dem „Knutschbär"
Mitten in einem Zimmer hockt ein lebensgroßer sogenannter Knutschbär. Auf seinem weißen Kunststoff-Körper haben sich bereits viele Prominente mit Lippenstiftkuss verewigt, von Katja Ebstein bis zum ehemaligen Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit. Immer wieder werden Exponate auch verliehen, meist an Filmproduktionen über historische Themen, wie soeben zu Pola Negri oder Mata Hari.
René Koch stellt auch selbst Schminkprodukte her, mischt Farben und Wachse. Als Spezialist für die jeweiligen Epochen ist er schminktechnisch gefragt, insbesondere für historische Filme. „In den 20ern natürlich dunkelrot, fast bis schwarz, bis Brombeere. Denn im Schwarz-Weiß-Film musste ja der Mund relativ dunkel sein, sonst setzte er sich ja nicht ab."
Am Ende des langen Flurs liegt noch ein Zimmer. Ein wenig sieht es aus wie beim Friseur oder in einer Theatergarderobe, als René Koch das Licht anknipst:
große Spiegel an den Wänden, weiße Drehstühle, Puderquasten und Schminktiegel auf den Tischen, Perücken und Hüte auf den Köpfen von Schaufensterpuppen. Das ist das Reich der Besucherinnen zum Schluss jeder Führung. „Die Frauen dürfen jetzt alles ausprobieren: Rot, rosa, pink, lila, was sie wollen. Wie Kindergeburtstag."
René Koch ermuntert hier die Frauen fast philosophisch, es zu wagen: „Das Leben ist keine Generalprobe. Das gibt’s nur einmal, wir können es nicht wiederholen. Und alles, was man versäumt hat, gibt’s nicht mehr. Also: Macht es jetzt!"