Die verheerende öffentliche Wahrnehmung des Karlsruher Gründungsparteitags der Grünen vor 40 Jahren wird heute meist als Hauptursache dafür angesehen, dass die junge politische Organisation bei der Bundestagswahl 1980 nur kümmerliche eineinhalb Prozent erreichen konnte.
Die unweit des Karlsruher Bahnhofs gelegene Stadthalle platzte am 12. und 13. Januar 1980 aus allen Nähten. Denn exakt 1.004 Delegierte diverser grün-bunt-alternativer Gruppierungen hatten sich auf den Weg ins Badische gemacht, um „Die Grünen" als Bundespartei zu konstituieren. Die Teilnehmerzahl stand symbolisch für die „Tiefboorstelle 1004" des geplanten radioaktiven Endlagers im Salzstock Gorleben. Ein einziger Stuhl war freigehalten worden, um den früheren marxistischen Wortführer der Studentenbewegung Rudi Dutschke zu ehren. Er hatte sich grün-ökologischem Gedankengut zugewendet und die Sonnenblume als Emblem ins Spiel gebracht, war aber wenige Tage vor der Karlsruher Veranstaltung an den Spätfolgen des auf ihn 1968 verübten Attentats verstorben.
Zusätzlich forderten 254 Delegierte der autonomen Alternativszene vehement Einlass, obwohl sie das klar festgelegte Teilnahmekriterium nicht erfüllt hatten. Dieses sah vor, dass nur Vertreter solcher Gruppierungen bei der Parteigründung beteiligt sein sollten, die zuvor der anlässlich der ersten Europawahl 1979 etablierten, mehrheitlich eher bürgerlich-ökologisch ausgerichteten „Sonstigen Politischen Vereinigung (SPV) Die Grünen" beigetreten waren. Um gleich zu Anfang einen Eklat zu vermeiden, wurde 30 Autonomen die Teilnahme zugestanden, die übrigen durften das Geschehen im Saal nur auf Fernsehmonitoren in einem Nebenraum verfolgen. Der Umweg über die Mitgliedschaft bei SPV/Die Grünen war ganz bewusst gewählt worden, weil man formal die künftige politische Organisation nicht als Neu-, sondern lediglich als Umgründung der SPV/Die Grünen ins Leben rufen wollte. Hintergrund war das Ziel, so die Wahlkampfkostenerstattung aus der Europawahl in Höhe von 4,5 Millionen Mark zur Anschubfinanzierung der neuen Partei nutzen zu können.
Bunt gemischtes Völkchen
Bei dem bunt gemischten Völkchen, das sich in Karlsruhe versammelt hatte, machte die „Welt" im Rückblick nicht ganz zu Unrecht viele Parallelen zur Frühphase der AfD aus: „Genau genommen wäre aus den Grünen damals beinahe schon eine AfD geworden. Auch sie bot den unterschiedlichsten Weltanschauungen eine Heimat." Es sei 1980 nicht einmal ausgemacht gewesen, „dass sie sich im Parteienspektrum links verorten würde." Das Motto lautete damals noch „Von Gruhl bis Dutschke", mithin vom wertkonservativen Ex-CDU-Mitglied und Öko-Bibel-Autor mit dem 1975 veröffentlichten Bestseller „Ein Planet wird geplündert" bis hin zur ultralinken Galionsfigur. Dass sich dieses gesellschaftlich und politisch extrem breite Spektrum auf Dauer kaum innerhalb einer einzigen Partei würde zusammenhalten lassen, war eigentlich von Anfang an abzusehen gewesen.
Einen ersten Vorgeschmack auf künftige Divergenzen bot denn auch gleich der tumultartige, um nicht zu sagen chaotische Gründungsparteitag der Grünen. Hier war quasi alles vertreten, was in irgendeiner Form mit den Zuständen in der Republik in Sachen Umweltzerstörung, Energiepolitik, Friedenssicherung, Frauendiskriminierung, ersten sichtbaren Globalisierungstendenzen oder kapitalistischer Wirtschaftsfortschrittsgläubigkeit nicht einverstanden war. Zwischen all den vertretenen Gruppen einen gemeinsamen Nenner zu finden, schien schier aussichtslos. Rauschebärte und strickende Frauen boten schon rein äußerlich ein gänzlich anderes Erscheinungsbild, als es die Zeitgenossen bei den traditionellen Parteien gewohnt waren. Neben Punks oder Schlipsträgern gab es auch einige prominente Persönlichkeiten wie den Künstler Joseph Beuys, der für den Europawahlkampf 300.000 Mark aus eigener Tasche beigesteuert hatte, den ausgebürgerten DDR-Dissidenten Rudolf Bahro, das ehemaligen SPD-Mitglied Petra Kelly, aus deren Feder die Satzung der SPV/Die Grünen stammte, oder den als RAF-Anwalt bekannt gewordenen Otto Schily.
Parteiprogramm zwei Monate später
Nur das Rauchverbot wurde eingehalten, ansonsten fühlte sich niemand einer Tagesordnung verpflichtet. Es wurden unzählige Anträge eingereicht, über die aus Zeitmangel gar nicht debattiert werden konnte. Es wurde stundenlang vor allem über die Fragen der Gewaltfreiheit und einer möglichen Doppelmitgliedschaft gestritten, was vor allem für die anwesenden Delegierten kommunistischer Kleinstparteien wichtig war. Die geplante Verabschiedung einer Satzung geriet dabei völlig ins Hintertreffen. Dass es überhaupt noch zur Etablierung der Partei „Die Grünen" kam, war allein dem Fahrplan der Bundesbahn zu verdanken. Denn unter Hinweis auf den letztmöglichen, um 17.56 Uhr von Karlsruhe abfahrenden Zug gen Norddeutschland wurde in aller Eile der Gründungsbeschluss mit der nötigen Zweidrittelmehrheit von 875 gegen 53 Stimmen bei zwölf Enthaltungen gefasst. Um Punkt 17.25 Uhr war auf der Hallenleinwand der Spruch zu lesen: „Hurra, die Grünen sind da!"
Das Bundesprogramm der Grünen sollte erst auf dem Saarbrücker Parteitag zwischen dem 21. und 23. März 1980 erarbeitet werden. Bis dahin blieben Satzung und Vorstand der SPV/Die Grünen mit Herbert Gruhl & Co. als Sprecher bestehen. Die vier Satzungskernpunkte ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei sollten auch für das Bundesprogramm bestimmend werden. Der Parteiname „Die Grünen" war erstmals von vorwiegend bürgerlichen bayerischen Ökos bei der Landtagswahl im Oktober 1978 verwendet worden, bis dahin gab es nur „Grüne Listen", „Bunte Listen" oder Bürgerinitiativen. Dass man in Karlsruhe dem Namen „Die Grünen" den Vorzug gab, beruhte auf einem Vorschlag der Aktivisten rund um Petra Kelly und Herbert Gruhl, die dafür auf einem Bundestreffen der SPV/Die Grünen Anfang November 1979 in Offenbach die Zustimmung erhalten hatten. Die erste bundesweit agierende grüne Partei war übrigens die von Herbert Gruhl im Juli 1978 gegründete „Grüne Aktion Zukunft" gewesen.
Verheerendes Medienecho
Das mediale Echo auf den Gründungsparteitag war für die Grünen nahezu verheerend. In der „Zeit" war damals das Resümee zu lesen: „Karlsruhe als Visitenkarte hat die Untauglichkeit und Unverantwortlichkeit der grünen Bewegung bewiesen." Ähnlich der negative Tenor in der „Süddeutschen Zeitung": „Wer den Gründungsprozess der Grünen erlebt hat, dem muss die Vorstellung, die Entscheidung über eine neue Regierung, ja gar die innen- und außenpolitische Handlungsfähigkeit einer Bundesregierung solle im Zweifel von dieser Organisation abhängen, grelle Alpträume verursachen." Auch die etablierten Parteien, von denen vorab vor allem die FDP um ihr ewiges Koalitionszünglein gefürchtet hatte, meinten sich milde-süffisant lächelnd zurücklehnen zu können. Mehrheitlich sah man in den Grünen eine kurze Modeerscheinung, die bestenfalls der sozialliberalen Koalition bei Wahlen einige Stimmen abknöpfen konnte.
Die Grünen verstanden sich anfangs als „die grundlegende Alternative zu den herkömmlichen Parteien". Oder um es mit Petra Kelly, ihrer ersten Spitzenkandidatin bei der Europawahl 1979, zu sagen: als „Anti-Parteien-Partei", womit sie zum Ausdruck bringen wollte, dass sich die Grünen in ihrer Frühphase weniger als Partei denn als Bewegung definierten. Sprich die Präsenz in gewählten politischen Vertretungen wurde als Spielbein angesehen, während das eigentliche Standbein die außerparlamentarischen Aktivitäten bleiben sollten. Das hing natürlich mit ihrer Vorgeschichte zusammen. Schließlich ging sie im Wesentlichen aus der Studentenbewegung, die sich ab Mitte der 1960er-Jahre zur Außerparlamentarischen Opposition gewandelt hatte, sowie den Neuen Sozialen Bewegungen mit den Schwerpunkten Umwelt, Anti-Atomkraft, Frieden und Frauenrechte hervor. Die Bürgerinitiativen, die sich angesichts der beunruhigenden, 1972 veröffentlichten Prognosen des Club of Rome, geplanter Atomanlagen oder des umstrittenen Nato-Doppelbeschlusses gebildet hatten, erhielten vielerorts wachsenden Zulauf.
Einzug in mehrere Landtage
Überraschungserfolge links-ökologischer Wahlbündnisse bei den französischen Kommunalwahlen im März 1977 dürften auch deutsche Umweltaktivisten ermutigt haben, sich ebenfalls zu Wahlgemeinschaften zusammenzuschließen. Entsprechende Bündnisse in Niedersachsen und Schleswig-Holstein machten Ende 1977 den Anfang. Seit Anfang 1979 wurden die ersten Landesverbände gegründet, in Bremen gelang einer grünen Gruppierung bereits 1979 erstmals der Einzug in eine Länderkammer. Dank Mitwirkens des „Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz" konnte für die Europawahl 1979 die SPV/Die Grünen aus der Taufe gehoben werden. Quasi aus dem Stand erzielten diese beachtliche 3,2 Prozent. Nach der Schlappe bei der Bundestagswahl 1980 schafften die Grünen sogleich den Einzug in den Landtag von Baden-Württemberg, wenig später sollte ihnen dies auch in Berlin, Niedersachen, Hamburg und Hessen gelingen.