Eigentlich wollte ich dieses Jahr mit einer besinnlichen Betrachtung über die kulturellen Raffinessen diesjähriger Neujahrsansprachen beginnen, soweit die schon gehalten sind oder noch drohen. Was mir aber gleich eine Frage nach dem ersten Wochenende des Jahres zu verhageln drohte: „Bekommen wir jetzt einen Atomkrieg?" Mal abgesehen davon, dass ich mir dabei wohl ebenso ziemlich überfordert vorkam wie die Fragestellerin: Kann ich bei einer derart ernst gemeinten Fragen einfach zur Tagesordnung übergehen? Zumindest waren meine Gedanken zu einem der Hauptwörter diesjähriger Neujahrsreden jäh unterbrochen.
Wie sollte ich auch von der Frage nach Krieg zur „Kultur" kommen? Diesem mysteriösen Wesen, dessen Renaissance derzeit durch die Bank beschworen wird. Dabei muss der arme Kulturbegriff ein robustes Dasein fristen, muss er doch für ziemlich vieles herhalten. Auf Empfängen treibt einen die Sorge um die politische Kultur um, die bedroht scheint durch eine „Erregungskultur". Wenn die dann auch noch als „Aufregerkultur" daherkommt, könnte ich mich schon aus rein sprachlichen Gründen aufregen. Wer „Aufregerkultur" als neue Geißel der Menschheit brandmarkt, meint vermutlich eher eine „Unkultur" – falls es so etwas gibt. Kultur ist, was der Mensch gestaltend hervorbringt. Wenn dabei grober Unfug rauskommt, wäre das folglich eben auch eine Form von Kultur.
Abgesehen von den Wortspielen kommt mir die Aufregung um die Aufregerkultur gekünstelt vor. Letztlich scheinen doch die, die am lautesten sind, am ehesten Gehör finden, nicht nur, aber eben auch in „der Politik"? Und am lautesten sind in der Regel die, die gegen etwas sind. Auf deren Protest zu hören ist legitim. Aber eben nicht zwingend die ganze Wirklichkeit.
Die kurzfristig vorgeschlagene „Stillhalteprämie" („Windradprämie") mag gut gemeint sein. Findige Mitbürger könnten sie gleich als besonderen Beitrag zu einer, auch zum Neujahr gern geforderten, neuen Streit- oder Diskussionskultur nutzen: Ich bräuchte ja nur streitbar Protest in Aussicht zu stellen, um mich gleich ganz ohne Diskussion per Prämie besänftigen zu lassen. Da bekämen „Erregungs-" und „politische Kultur" gleich ganz ungeahnt neue Perspektiven.