Gesünder, schöner, entspannter: Immer mehr Menschen versuchen mithilfe von Apps, Ratgebern und Programmen zu einer neuen Version ihrer selbst zu werden. Hilft uns diese Optimierung, oder schadet sie am Ende gar?
Es begann vor einigen Jahren. Der Münchner Matthias Dippl steckte mitten in einer echten Lebenskrise. Diagnose: Burn-out. Als ausgemergelt, energielos und benebelt im Kopf beschreibt er sich selbst in dieser Zeit. Er begann, sich mit seinem Körper zu beschäftigen und stieß schließlich auf das sogenannte Biohacking. Ein Trend, der mittlerweile aus dem Silicon Valley nach Deutschland rübergeschwappt ist und verspricht, das Bestmögliche aus dem Körper herauszuholen zu können. Der Begriff kommt aus der Computersprache. So, wie man per Hacking in Computerprogramme eingreift, nehmen die Biohacker mit Hilfsmitteln Einfluss auf die Leistungsfähigkeit ihres Körpers. Das alles soll dazu dienen, die maximale Gesundheit zu erlangen oder wie die Biohacker es nennen: sein volles genetisches Potenzial zu entfalten.
Dippl ist begeistert. Er trägt jetzt eine spezielle Atemmaske zum Joggen, die die Atmung erschwert, die Zwerchfellmuskulatur trainiert und das Lungenvolumen erweitert. Per Fitnessuhr zeichnet er all seine Bewegungen sowie seinen Herzschlag auf, und nachts klebt er sich ein Pflaster auf den Mund, um durch die Nase zu atmen, nicht zu schnarchen und mehr Sauerstoff aufzunehmen. Am nächsten Morgen wertet er dann seine Daten aus: Puls, Bewegung, Tiefschlafphasen, Wachzeiten und so weiter. Biohacking, sagt er, habe ihm sehr geholfen, den Burn-out hinter sich zu lassen.
Wie ihm geht es scheinbar immer mehr Menschen. Sie alle begeben sich auf die Suche nach einer besseren Version ihrer selbst und dabei geht es längst nicht nur um die Optimierung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Partnerschaften, berufliche Erfolge, Ernährung, Wohnungen, Kleiderschränke oder die eigene Entspannung – im Grunde lässt sich alles optimieren. In diesem Jahr fand gar ein selbsternannter „Selbstoptimierungskongress" statt. Online konnten sich die Teilnehmer dafür Videos zu Themen wie Anti-Aging, Entgiftung, Mond- und Naturrhythmen, Hormonhaushalt, Öle des Lebens oder intakte Mitochondrien anhören. Immerhin, einer der Speaker ging auch der Frage nach, was uns bei der Selbstoptimierung gesund und krank mache.
Warum aber will sich der Mensch überhaupt optimieren? Die Idee dazu ist gar nicht neu. Schon von Goethe weiß man, dass er über 35 Jahre penibel Tagebuch über den Fortschritt seiner Werke, Treffen mit unterschiedlichen Personen und Spazierwegen zur Erholung führte. Tausende Seiten füllte er mit den genauen Daten seiner Tage. Bereits 1927 versuchte der Münchner Psychologe und Ökonom Gustav Großmann mit dem Thema einen Markt zu erschließen, indem er das Buch „Sich selbst rationalisieren. Lebenserfolg ist erlernbar" veröffentlichte. Darin rief er dazu auf, der Leser möge mit einem von ihm erstellten orangefarbenen Glückstagebuch jeden Tag im Voraus planen und hinterher Protokoll über den tatsächlichen Ablauf führen. Dinge planen und sie zu überprüfen, um sich zu verbessern – das ist die Ursprungsidee der Selbstoptimierung. Und die scheint erstmal gar nicht so abwegig, entspricht sie doch dem Ideal der körperlichen und geistigen Bildung. „Selbstverständlich gehen Kinder zur Schule, und wer es sich leisten kann, schickt sie überdies noch zu Klavier- und Ballettunterricht. Darauf folgt dann lebenslanges Lernen, und wenig scheint so erstrebenswert wie gute Gesundheit und ein langes Leben. Wer Kopfschmerzen hat, nimmt ganz selbstverständlich eine Pille dagegen. Ganze Branchen leben von Yoga und Meditation, und niemand käme auf die Idee, das als Selbstoptimierung zu kritisieren. Wir suchen uns aus, wobei wir mitmachen wollen und wobei lieber nicht. Warum also finden wir dann jemanden suspekt, der mit umgeschnalltem Schrittzähler durch den Wald joggt?", argumentiert der Journalist und Wissenschaftsinformatiker Enno Park. Er beschäftigt sich mit den Auswirkungen des digitalen Wandels auf die Gesellschaft bis hin zur Verschmelzung von Mensch und Maschine. Seit er Cochlea-Implantate trägt, bezeichnet er sich selbst als Cyborg und ist einer der Gründer des Cyborgs e.V. in Berlin. Schon Kant habe gesagt, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Und nichts anderes als Aufklärung sei es, Daten über sich selbst zu sammeln und daraus Schlüsse für das eigene Handeln zu ziehen.
Dinge planen, sie überprüfen und dann verbessern
Dass das Thema derzeit so boomt, führt der Bestseller Autor Rolf Dobelli, der unter anderem „Die Kunst des guten Lebens" geschrieben hat, auf die komplizierter gewordene Welt zurück. „Die Welt verändert sich sehr schnell. Ein Job ist nicht mehr ein Job fürs Leben. Eine Beziehung ist vielleicht nicht mehr eine Beziehung fürs Leben. Alles verändert sich, alles ist im Fluss, und die Leute suchen Orientierung, und die große Orientierung, die früher das Christentum lieferte, (…) fehlt, ist weggebrochen", so der Autor. Auch der Philosoph Peter Sloterdijk hält die Selbstoptimierung für eine Folge von Ideologien, die ausgedient hätten. Nachdem sie wegbrächen, bliebe dem freien Menschen bloß mehr diese eine große Meta-Idee: Mach das Beste aus dem eigenen Leben. Das aber ist nicht so einfach, denn die Auswahl der potenziellen Möglichkeiten scheint schier unendlich. So wird die vermeintliche Freiheit schnell zur Pflicht: Wer schon die große Auswahl hat, der muss es zu was bringen. Dass die Selbstoptimierer bei ihrer Suche nach einem möglichst gesunden, glücklichen und erfolgreichen Leben zunehmend technologische Möglichkeiten nutzen, hält der amerikanische Psychologe Roy Baumeister für ein Zeichen der menschlichen Überforderung. In seinem Buch „Die Macht der Disziplin" argumentiert er, dass es heute mehr Versuchungen denn je gäbe. Am Arbeitsplatz lockten das Maileingangsfach, das Videospiel oder die Newsseite zur Zerstreuung. Im Supermarkt winkten all die fetten, zuckrigen, bunten Waren und zu Hause die unzähligen Freizeitoptionen. Baumeisters Fazit: Der Kapitalismus produziert unzählige Angebote und Versuchungen und verkauft den Konsumenten die Möglichkeiten zur eigenen Disziplinierung in Form von Apps, Ratgebern und Programmen gleich mit.
Dass sich aus dieser Überforderung ein gutes Geschäft machen lässt, hat auch der Programmierer Christian Reber erkannt. Gemeinsam mit Freunden hat er 2010 das Unternehmen „6 Wunderkinder" gegründet. „Synchronisiere dein Leben" und „erstelle Pläne für alles" heißt es da. Ihre Idee: ein Programm, mit dem jeder sein Leben organisieren kann. Die App wurde zu einer der beliebtesten GDT-Anwendungen für Apple iOS und in 104 Ländern zur iPhone-App der Woche. „Das Ziel jedes Einzelnen muss sein, mehr zu schaffen, produktiver zu werden", sagte Reber dazu vor einigen Jahren der „Zeit". „Der Arbeitsmarkt ändert sich, Unternehmen werden effizienter, Menschen werden durch Maschinen ersetzt." Da müsse der Mensch eben besser werden, um mithalten zu können. Wir alle werden bald wie Tagelöhner arbeiten, glaubt Reber: „Du hast deine App, siehst ein Job-Offer und loggst dich ein." 2015 hat Microsoft zwischen 100 und 200 Millionen Dollar für den Kauf des Start-ups bezahlt.
Roy Baumeister glaubt, dass solche digitalen Helfer jede Menge Probleme lösen können und den Menschen nicht nur produktiver, sondern letztlich auch glücklicher machen würden. Zwanghafter Konsum, Verschuldung, Gewalt, Versagen in Schule und Arbeit, Sucht, Fehlernährung, Unbeweglichkeit. All diese Leiden sind laut Baumeister auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen: den Mangel an Selbstdisziplin. Die digitalen Wunderwaffen könnten uns, hofft Baumeister, von der inneren Schwäche erlösen.
All dem will sich die Autorin Rebecca Niazi Shahabi nicht beugen und macht deshalb was? Genau, Antioptimierungsratgeber schreiben. Ihre Bücher „Nett ist die kleine Schwester von Scheiße" und „Ich bleib so scheiße, wie ich bin: Lockerlassen und mehr vom Leben haben" standen wochenlang auf der „Spiegel"-Bestsellerliste. Sie versprechen dem Leser Entlastung nach dem Motto „Lass den ganzen Quatsch doch einfach bleiben". Shahabi glaubt, dass jeder, der sich selbst optimiert, zwangsläufig auch normiert wird. Jede Gemütsregung, jedes zwischenmenschliche Thema werde einem Check unterzogen: Darf ich dies oder das, selbst unsere Schwächen, unser Versagen, wie Übergewicht, Ungeduld, Jähzorn würden wohlwollend in das Optimierungsgefüge aufgenommen. Die meisten Optimierungsangebote sieht sie deshalb kritisch: „Die Leute erwarten wirklich etwas, was sie einen Schritt nach vorne bringt. Und irgendwie ein Geheimnis, dass sie noch nicht kennen, das kann es nicht geben." Das glaubt auch der Philosoph Richard David Precht, der mit seinem Buch „Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?" einem größeren Publikum bekannt geworden ist. Insbesondere Ratgeber sieht er kritisch und will seine eigenen Bücher deshalb auch nicht so verstanden wissen. „Normalerweise erwarten Menschen von Ratgeberliteratur, dass am Ende zehn todsichere Tipps stehen, wie man Millionär wird oder wie man seine Ehe rettet oder wie man das Glück findet, und jemand, der einem Menschen so etwas verspricht, der will ihn veralbern. Das geht alles nicht. Es ist auch gut, dass das nicht so geht. Das Leben wäre ja furchtbar langweilig, wenn man nur zehn Regeln befolgen müsste, und dann wären alle in ihrer Liebe erfüllt und alle reich und glücklich. Als Philosoph versucht man als erstes, den Menschen klarzumachen, dass es auf die großen Fragen des Lebens eben keine guten und keine einfachen Antworten gibt." Keine guten und einfachen Antworten – das muss man erst mal aushalten. Und vermutlich geht es genau darum.
Zwanghaftes Verhalten
Dass bei übertriebener Selbstoptimierung auch Gefahren drohen, darauf lässt unter anderem der Begriff „Healthism" schließen. Damit bezeichnen Wissenschaftler den Zwang, über das normale Maß der gesunden Lebensführung hinaus alles für seine Gesundheit zu tun. Der New Yorker Ernährungswissenschaftler Paul Marantz etwa hat sich vor einigen Jahren über einen übertriebenen Hang zur maximalen Gesundheit beklagt: „Wenn sich jemand einen Cheeseburger an die Lippen hält, ist das ja mittlerweile moralisch gleichbedeutend damit, sich eine Pistole an die Schläfe zu setzen."
Befragt man die Menschen zur Selbstoptimierung, gehen die Meinungen weit auseinander. Während die einen den Leistungsgedanken fürchten und sich sorgen, der Mensch würde normiert werden, sehen andere darin eines der letzten Felder der Überschaubarkeit und Autonomie in einer komplexen Welt, und wieder andere beschwören, dass in der Selbstoptimierung inklusive ihrer technischen Neuerungen ganz neue Chancen für den Menschen lägen. So bewegen sich Selbstoptimierung und Selbstoptimierer in einem permanenten Spannungsfeld: sich der prinzipiell guten Idee des lebenslangen Lernens und damit des Sich-Verbesserns anzunehmen, ohne dabei dem Markt und seinen teils irrsinnigen Versprechen zum Opfer zu fallen oder sich aus lauter Überforderung in selbst zwanghaftes verhaltenerschaffene neue Zwänge und Begrenzungen zu stürzen.