Chaitanya Singh macht etwas Seltenes: Er entwickelt die indische Küche weiter, indem er ihre Aromen in europäische Gerichte hineinpflanzt. Sein Restaurant „Kreuz + Kümmel" zog nach Mitte und ist in der Auguststraße nun eine neue kulinarische Anlaufstelle.
Eigentlich ist vieles ähnlich geblieben. Türkisfarbene Akzente im Gastraum, die europäisch-indische Crossover-Küche und natürlich die Currywurst. Neu sind ein offener Kamin, ein großer Gastraum mit 60 Plätzen, ein Hof für den Sommer und eine zentrale Lage in Mitte. Willkommen zurück, „Kreuz + Kümmel"! Das Restaurant von Chaitanya Singh schloss im Juni 2019 seine Pforten im Wins-Kiez und schlüpfte in der Auguststraße im Erdgeschoss des Hotel Augustinenhof unter. Es eröffnete Anfang Dezember 2019 in altbewährt schmackhafter Art auf dem Abschnitt zwischen Oranienburger und Tucholskystraße neu.
„Ich habe erst mal Party gemacht und bin mit meiner Familie verreist", erzählt Chaitanya Singh von seiner Auszeit, die auch eine wohlverdiente Pause nach zwei Jahren beinah alleiniger Verantwortlichkeit für Küche und Service war. Nun hat er mit Mauricio Acosta, vormals „La Lucha", einen Küchenchef an seiner Seite, der seine Crossover-Ideen aus europäischer Bistroküche mit indischem Touch punktgenau umzusetzen weiß. Denn Singh tut das, woran sich Köche aus produktzentrierten Traditionsküchen wie der indischen oder der italienischen selten heranwagen: Er entwickelt das Eigene weiter und pflanzt es in andere europäische Gerichte ein. Da werden ein klassisch britisch-indisches Chicken Tikka sowie italienischer „Stracciatella di bufala"-Käse aus Kampanien in urdeutsche Maultaschen implantiert.
Ob das „Schwaben-Ärgern", wie Singh es bereits im „Prenzlberg" beabsichtigt hatte, auch in Mitte funktioniert? Die Maultaschen schmecken mit dem marinierten, gegrillten und in tomatiger Tunke verarbeiteten Huhn jedenfalls genau so überzeugend wie zuvor. Sehr schmuck präsentieren sich Ravioli Roganjosh auf dem zweiten Pasta-Teller. Die kreisrunden Pasta-Hütchen sind mit geschmortem Lamm auf Kaschmiri-Art gefüllt und mit einer rosafarbenen Rote-Bete-Ayran-Sauce besprenkelt: „Ohne Zwiebeln. Die isst man in Kaschmir als Extra-Gemüse", erklärt Singh. Obwohl die Fleischliebhaberinnen und -liebhaber einfacher fündig werden, gibt’s die Pasta für die Veggies auch „ohne": Die Ravioli werden dann mit Palak Paneer zubereitet, der aus Ricotta di bufala selbst hergestellt wird – keine Selbstverständlichkeit in indischen Restaurants in Berlin. In den Veggie-Maultaschen befindet sich alternativ ein Paneer Tikka.
Obacht – Chaitanya Singh meint es gut mit seinen Gästen. Wer der Ankündigung in der Rubrik „Als Kostprobe" auf der Karte Glauben schenkt und einen Pasta-Teller für 8,50 oder 9,50 Euro verspeist, wird danach keine Kapazitäten mehr für ein Hauptgericht aus der Kategorie „Bei Kohldampf" haben. Wir sehen eine Lammhaxe Rezala mit Cashew, Mohn und Joghurt an den Nachbartisch schweben und kündigen an, so etwas nicht mehr bewältigen zu können. Müssen wir auch nicht, denn der Chef hat bereits Barbecue Short Ribs Jardalu und Schweinebauch Vindaloo für uns vorgesehen. Wer, wenn nicht die philippinische Foodie-Freundin aus „Pork Belly Country" wäre zum Probieren besser geeignet? Wir halten uns unsere Bäuche, aber „wat mutt, dat mutt", wie es in meiner westfälischen Heimat heißt.
Currywurst neu erfunden
Die Barbecue-Shortribs vom amerikanischen Black-Angus-Rind könnten wir mit einem Löffel vom Knochen lösen, so weich ist das Fleisch nach zwölfstündigem Schmoren zusammen mit getrockneten Aprikosen geworden. Da gibt’s nichts abzunagen oder abzufummeln. Eine Überraschung ist Alu Posto als Beilage: ein Kartoffelstampf mit Mohn verfeinert – großartige Sache, das! Die „Bohnen Foogath" dagegen wurden mit schwarzem Senf, Curryblättern und Kokosraspeln angemacht. Diese aromatische Interpretation von Schlangenbohne erscheint mir ebenso nachahmenswert. Irgendwo zwischen den USA, Indien und deutschem Winteressen ist dieses Gericht zu Hause. Es macht sich bestens als kräftiger Konterpart zum Berliner „Usselwetter" draußen und zum Kaminfeuer drinnen.
Der Freundinnenhund darf vom Schweinebauch ebenfalls naschen. Eigentlich hatte Juancho schon Chaitanya Singh reichlich Hundekekse mit Hühnerleber und Dinkel buchstäblich aus der Hand gefressen. Die hausgebackenen Kekse hatten sich bereits in Prenzlauer Berg als Einkehr-Magneten für Hund und Herrchen oder Frauchen erwiesen. Also gibt es sie in Mitte nun ebenfalls.
Der „Pork Belly Vindaloo" im Goa-Style besteht auch bei uns Menschen die Geschmacksprobe mit Bravour. „Right texture. That’s delicious", befindet die Freundin. Mit geschmortem Rotkohl und angerösteter Masala-Brioche spielt der Schweinebauch angeschärftes Weihnachten auf dem Teller. Die indischen Gewürze mit Ingwer-, Chili- und Pfeffer-Touch sowie Nelken- und Zimtnoten entsprechen einfach unserem saisonalen Empfinden. Die beiden fleischigen Gerichte spielen für 21,50 und 24,50 Euro in der „Bei Kohldampf"-Liga. Allerdings wäre es nicht so, als hätten wir nicht schon Quesadillas – einmal mit süßsaurer Jackfrucht und Mangos, einmal mit süß-scharfem Prawn Patio gefüllt – zuvor probiert.
Bei den Blaumais-„Klappstullen" mischen dreierlei Käse schmelzig mit: ein Allgäuer Sennkäse und Emmentaler sowie ein weicher italienischer Stracchino. Ob die Tortillas mit Guacamole und Sour Cream Chef Mauricio Acosta an seine Heimatstadt Mexico City erinnern? An die unkonventionellen Füllungen mit Jackfrucht oder scharfen Garnelen nach Parsi-Art dürfte er sich inzwischen gewöhnt haben. „My recipe is my left hand", sagt er. „I take the spices with that." Er kocht also nach Rezept, damit’s genau so hinkommt, wie Chaitanya Singh sich das ausgedacht und jahrelang selbst zubereitet hat.
Die Currywurst, die Chaitanya Singh schon vor Längerem neu erfunden und mit einer „echten" indischen Currysauce verbessert hat, mussten und wollten wir unbedingt probieren. Grob geschnitten und nur aus Thüringer Duroc-Schweinen muss die hausgemachte Wurst für Singh sein. Das Nicht-Geheimnis der Currysauce besteht aus „einem schönen Tomatenketchup mit Karotten, Sellerie, Tomaten und viel, viel Zucker"; das Geheimnis dagegen aus der exakten Gewürzmischung und -menge. Das übliche Berliner Luftbrötchen wurde durch eine Masala-Brioche ersetzt, die mit süßlichem Touch und ihrem gehaltvollen Fluff viel besser passt. Eine in Senföl und mit Asafoetida, „Teufelsdreck", frittierte grüne Chili-Schote und frisch geröstete Zwiebeln machen die Currywurst zu einem Aha-Erlebnis.
Gäste verlangen hartnäckig Lassi
Ungewöhnlich zeigten sich auch die gebratenen Sardinen à la Kerala bei den Vorspeisen. Sie werden mit einer Mayo aus Kasundi-Senf serviert. „Dieser Senf aus fermentierten Senfkörnern ist typisch für Kalkutta. Er wird gerade wiederentdeckt", sagt Singh. „Jedes Restaurant, das was auf sich hält, macht jetzt was damit." Wir stehen Kalkutta in keinster Weise nach. Bei den Papadams mit drei Chutneys wird der Subkontinent auf einer Platte zusammengefasst: ein Tomaten-Dattel-Chutney ist typisch für Bengalen, eines mit Mango und Kreuzkümmel für Zentralindien, und ein Tamarinden-Chutney hat „den richtigen Punjabi-Bumms". „Meine türkischen Freunde", wie Singh lachend sagt, werden wiederum mit Börek-Zigarren mit einer Füllung aus Keema Matar mit Rindfleisch und Erbsen zu Tamarinden-Sauce kulinarisch gewürdigt.
Bei der Weinauswahl verlassen wir uns auf seine spanische Empfehlung. Der 2018er Fuentemilano Verdejo von Pedro Escudero aus der Region Castilla y León ist eine großartige, angekräuterte, säurearme und feinherbe, also ins Süße spielende, Ergänzung, die der fruchtigen Schärfe der Gerichte standhält. Mehr davon!
Wer Indien anschließend süß komprimiert vernaschen will, bestellt Rasmalai-Torte. Die „Königin der indischen Desserts", bei der Milch, Safran, Mandeln und Nüsse eine nicht unwesentliche Rolle spielen, wird bei Singh zwischen Biskuit geschichtet. Sie nimmt ganz berlinerisch unbescheiden die Ausmaße von einem „Stücken Torte" an. Singhs Kuchen und Torten, die bereits in Prenzlauer Berg einen Ruf hatten, werden im neuen „Kreuz + Kümmel" als Desserts angeboten, denn bislang ist ausschließlich abends geöffnet. Längst hat sich Singhs Mango-Lassi-Cheesecake aus Frischkäse und mit Safran und Mango-Pulp eigenen Kultstatus erarbeitet. „Ich wollte nie wie so ein typischer Inder Mango-Lassi anbieten." Das ging gründlich daneben. Die Gäste verlangten hartnäckig weiter danach. Die Legende besagt, dass Singh die Eingebung „Mango-Lassi zu Cheesecake" im Traum hatte. „Ich bin dann nachts um drei aufgestanden, in meine Küche gegangen und habe es ausprobiert. Nach siebenmal hatte ich den Cheesecake so wie ich ihn wollte."