Johannes Oerding hat auf seine innere Stimme gehört und Songs geschrieben, mit denen er nicht nur sich selbst, sondern auch die Gesellschaft scharf analysiert. Sein aktuelles Album heißt „Konturen".
Johannes, was hat Ihnen Ihre innere Stimme gesagt, als Sie mit der Arbeit am aktuellen Album „Konturen" anfingen?
Mein Problem war, dass ich lange keine innere Stimme hatte. Ich war so sehr mit dem Herumtouren beschäftigt, dass ich vergessen hatte, mir zwischendurch meine Gedanken aufzuschreiben. Deshalb war bei mir die Panik groß, dass mir nichts einfällt.
Wie überwanden Sie den „inneren Schweinehund"?
Immer wenn ich dachte, heute fange ich endlich an zu schreiben, bin ich am Ende doch lieber im Tourbus sitzen geblieben und habe eine Serie geguckt. Bis es zu einem Tag kam, an dem wir im Trio in der Türkei gespielt haben. Am Pool kam mir die Idee zu der Nummer „An guten Tagen". Meine Jungs sind sehr kritisch, aber sie merkten, dass die Idee gut war. Zu Hause habe ich den Song zu Ende geschrieben. Daran merkte ich, dass die kreative Phase wieder beginnt.
Was haben Sie beim Erarbeiten der Platte über sich selbst herausgefunden?
An den kritischen Songs spürt man, dass ich mich nicht nur mit mir selbst, sondern auch mit dem großen Ganzen beschäftige. Ich sehe es als meine Aufgabe, Leute zum Nachdenken zu bringen. Als Künstler bin aber niemand, der eine Lösung hat. Das ist viel zu komplex. Und in persönlichen Songs wie „Unter einen Hut" bin ich sehr offenherzig. Damit werden die Konturen immer klarer. Die Leute sollen wissen, wofür ich stehe.
In „Unter einen Hut" beschreiben Sie sich als „sicheren Zweifler und treuen Betrüger, der es selten ganz allein aushält. Als Scheinwerfer-Ego, das zerbricht und zusammenfällt und sich wieder aufbaut wie Lego". Was wollen Sie mit diesem „Offenbarungseid" sagen?
Eine Psychoanalyse ist immer unangenehm. Diese Nummer habe ich zusammen mit meinem besten Freund geschrieben. Ihm ist aufgefallen, dass ich ein sehr ambivalenter Mensch bin, der von einem Extrem ins andere wechselt. Manchmal presche ich selbstbewusst nach vorne, manchmal sitze ich unsicher in der Ecke. Ich habe ein gutes Zeitmanagement und bin strukturiert. Alles, was dazwischen passiert, ist eher impulsiv und emotional.
Des Weiteren heißt es: „der Typ, der gern austeilt und bei den Echos lieber ausweicht". War dieses Album mehr als alle anderen eine Selbsttherapie?
Ja, weil ich diesmal mehr ins Detail gehe, wenn ich über meine Gefühlslage singe. Ich glaube, meine Gedanken teile ich mit ganz vielen Menschen in der Gesellschaft. Zum Beispiel verändert und nervt mich die digitale Welt ganz schön. Oder wenn ich mich bei „Besser als jetzt" frage, was wir gegen den Hass unternehmen können.
Darf Kunst politisch sein oder muss sie es sogar?
Für mich muss sie das sein. Am Tag der Deutschen Einheit in Kiel habe ich mit Peter Maffay „Blinde Passagiere" gesungen. Er passte zu diesem Tag wie die Faust aufs Auge. Ich habe gespürt, dass die Leute bei solch einem Lied aufmerksam zuhören. Viele erwarten, dass man als Künstler Stellung bezieht. Ich sehe mich aber nicht als Künstler, sondern als Bürger in der Pflicht. Ich bin ja auch auf der Straße unterwegs und versuche, Dinge anzuschieben und zu verändern.
Was ist das für ein Gefühl, mit Peter Maffay auf einer Bühne zu stehen?
„Über sieben Brücken musst du gehn" beim Tag der Deutschen Einheit in Kiel vor vielen Tausend Leuten mit Peter Maffay zu singen – das hat schon was! Da hat man gespürt, was Musik bewirken kann. Ich war auch bei seinem MTV-Unplugged-Konzert zu Gast und habe für sein aktuelles Album „Jetzt" viele Songs geschrieben. Es ist eine richtige Freundschaft entstanden. Wir sind nach Sankt Peter-Ording gefahren und haben nur gequatscht.
In „Alles okay" singen Sie von dieser Welt, die verrücktspielt und „Schlagzeilen voller Hass". Lässt sich die chaotische Zeit, in der wir leben, in Musik ausdrücken?
Dieses Chaos und diese Verzweiflung kann man in Musik umsetzen. Ich wollte diese Bilder immer wieder in meinen Texten drin haben. Ich fühle mich in der heutigen Zeit manchmal sehr hilflos, das drücke ich in melancholischen Songs wie „Anfassen", „Besser als jetzt" und „Alles okay" aus. Darin steckt die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft. Gibt es denn nichts Besseres, als unser eigenes Grab zu schaufeln?
Kann Kunst, die politische Themen aufgreift, wirklich etwas an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ändern?
Das ist der große Wunsch. Es reicht schon als Ergebnis, wenn mir fünf Leute schreiben, dass ich recht habe. Wenn man nur einen Menschen dazu bringen würde, keine rechtsextreme Partei mehr zu wählen, wäre das schon ein Gewinn. Aber ich würde mich freuen, wenn es zu einer Bewegung werden würde. Ich schreibe solche Songs nicht, weil ich den Zeitgeist treffen will, sondern ich interessiere mich wirklich für Politik. Ich hinterfrage Dinge und präge mir Zusammenhänge ein. Beim sechsten Album muss ich nicht mehr beweisen, dass ich radiokompatible Songs schreiben kann. Ich mache jetzt einfach Sachen, die manchen vielleicht nicht gefallen. Es kann auch sein, dass es keinen interessiert. Dann hat man halt ein geflopptes Album.
Was würden Sie ändern, wenn Sie die Macht dazu hätten?
Ich würde eine umfassende Bildungsreform anstreben. Die Fächer müssten an die Neuzeit angepasst werden. Sozialkompetenz und pädagogische Fächer wie Ethik und Moral, richtiges Diskutieren und argumentativer Austausch sollten im Vordergrund stehen. Religion kann man auch machen, finde ich aber nicht so wichtig. Man muss für den digitalen Raum einen rechtlichen Rahmen finden. Jeglicher Extremismus muss schärfer bekämpft werden. Die Gesellschaft muss sich viel mehr dagegen wehren.
Worüber können Sie sich maßlos aufregen?
Über bestimmte perfide Taktiken. Jemand brüllt etwas Extremes heraus und holt sich dafür Applaus ab. Dann entschuldigt er sich dafür und behauptet, so hätte er es gar nicht gemeint. Aber den Applaus wollte er haben, weil er auf diese Weise seinen Leuten ein geheimes Zeichen gegeben hat. Das ist wirklich perfide.
Konstruktiver Dialog ist heutzutage schnell unmöglich, sobald unterschiedliche Meinungen und Überzeugungen aufeinanderprallen.
Und zwar in beiden Richtungen. Selbst die Linken zerfleischen sich untereinander. Es gibt nur noch Schwarz und Weiß und keine Graustufen mehr. Dass es zum Beispiel meinen Eltern schwerer fällt, mit ihren 70 Jahren manche Veränderungen zu akzeptieren, ist mir klar. Es ist ein Zeichen von Toleranz, nicht sofort auf jeden einzuhacken, der eine andere Meinung hat. Aber es gibt auch Meinungen, die sind ganz klar rechtswidrig, menschenverachtend und nicht zu dulden. Die kommen meistens aus dem rechtsextremen Spektrum. Natürlich gibt es auch extreme Linke, aber die setzen sich immer noch für Menschenleben ein. Ihnen geht es nicht darum, Menschen zu entsorgen oder zu vernichten.
In „Besser als jetzt" heißt es: „Wo sind die Dichter und Denker? Seh’ nur noch Richter und Henker" und „Lava aus Ego und Neid". Welche großen Geister haben Sie geprägt?
Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie wir Deutsche im Ausland wahrgenommen werden. Ich glaube, es geht mit uns bergab, weil hier gerade so viel passiert. Ich habe in der Schule nicht immer aufgepasst, aber Geschichte fand ich interessant. Immer wenn Staaten oder Menschen nationalistisch dachten, führte das zu Spannungen, und es entstanden sogar Kriege. Im Zweiten Weltkrieg sind Friedenstauben gegen das Regime aufgestanden, obwohl sie wussten, dass das ihre letzte Aktion sein wird.
Wie denken Sie über Greta Thunberg?
Hut ab! Dass ein 16-jähriges Mädchen mit einem Schild auf der Straße sitzt und ein Jahr später vor der Uno oder mit diversen Präsidenten redet, ist ein symbolisches Bild für alle, die irgendetwas verändern wollen. Es ist machbar. Ich begreife nicht, warum Greta Thunberg von älteren Herrschaften so sehr gehasst wird. Man kann sagen, mich interessiert der Klimawandel nicht, aber man schimpft doch nicht auf Leute, denen er nicht egal ist. Lasst sie doch machen! Das Problem ist so komplex, dass kein Politiker dafür eine Pauschallösung hat.
Haben Sie Verständnis dafür, dass Menschen in der heutigen komplizierten Zeit verbale Ausraster haben?
Ich kann das nachvollziehen. Manche Leute sind in ihrer Wortwahl oder Weitsicht begrenzt. Nicht jeder kann um die Ecke denken. Aber es müsste jedem in diesem Land klar geworden sein, dass man nicht unbedingt ein Nazi ist, wenn man die AfD wählt, aber wenn man sie wählt, wählt man halt Nazis. Das allein sollte eigentlich Grund genug sind, es nicht zu tun. Ich habe aber das Gefühl, manche wollen genau diese Leute wählen. Sie wollen einen Systemwechsel. Es wird immer von den diffusen Ängsten der Menschen insbesondere im Osten geredet. Das verstehe ich total. Der Westen trägt daran eine Mitschuld. Aber ich will auch, dass man meine Ängste versteht. Ich will nicht, dass uns wieder ein nationalsozialistisches Regime regiert. Ich finde, die Leute, die das auch nicht wollen, müssen lauter werden.
Haben Sie mit Ihren Großeltern über das Dritte Reich gesprochen?
Ehrlich gesagt zu wenig. Meine Großeltern sind ziemlich früh gestorben. Aber ich habe mit meinem Vater darüber gesprochen. Die Erfahrung des Nationalsozialismus hat auch etwas mit seiner Generation gemacht. Sein Vater war bei der Wehrmacht und kam in russische Gefangenschaft. Und der Opa meiner Ex-Freundin war lange in Afrika in Gefangenschaft. Ich verstehe nicht, wie man das alles zurückhaben wollen kann. Im Fernsehen habe ich eine junge Frau gesehen, die die Existenz von KZs geleugnet hat. Es ist zum Verzweifeln.
In dem Lied „Wenn du gehst" beschäftigen Sie sich mit Abschied und Tod. Was gab Anlass zu diesem melancholischen Song?
Für mich ist das eigentlich ein Song über das Abschiednehmen im Allgemeinen. An den Reaktionen sehe ich aber, dass er manche Hörer an Menschen erinnert, die von uns gegangen sind. Das macht den Song zeitlos.
Welches einschneidende Erlebnis hat bei Ihnen tiefe Narben hinterlassen, die heute noch schmerzen?
Der Tod meiner Oma Trudi aus Datteln bei Oer-Erkenschwick. Sie war Klavierlehrerin und hat mich zur Musik gebracht. Ich saß als Kind immer neben ihr und guckte ihr fasziniert auf die Finger. Wir wohnten 100 Kilometer auseinander, aber immer, wenn sie auf uns Kinder aufgepasst hat, sang sie mit mir. Das habe ich erst geschnallt, als ich am Grab von ihr Abschied nahm. Trudis Tochter überraschte mich, indem sie bei der Beerdigung das Lieblingslied ihrer Mutter spielte. Es war mein Song „Engel". Darauf war ich nicht vorbereitet, und es hat mich komplett aufgewühlt. Trudi war sehr stolz auf mich, weil ich das Musische weitergetragen habe. Sie selbst hatte nie die Chance, das zu tun, weil sie Mutter von fünf Töchtern war. Am liebsten hätte sie auf der Bühne gestanden. Das geht meiner Mutter übrigens genauso. Eigentlich wäre sie gern Künstlerin geworden, aber sie hat auch fünf Kinder zur Welt gebracht.
Wann haben Sie angefangen, nur noch das zu tun, was Ihnen Spaß macht?
Während meines Studiums in Holland. Bis dahin wusste ich gar nicht, dass man von Musik leben kann. Die Leute im Fernsehen waren für mich eine andere Welt. Aber mit 17 wurde ich im Sauerland entdeckt und nach Hamburg eingeladen. In den Räumlichkeiten dort hingen überall Goldene Schallplatten. In dem Moment wusste ich, dass es geht und beschloss, das BWL-Studium in Hamburg abzuschließen. Ich habe dort meine Diplomarbeit geschrieben, damit ich nachts auf der Reeperbahn singen konnte. Das war mein neues Leben.