Über Schwedens Grenzen hinaus gilt die 70.000-Einwohner-Stadt Borås als wichtiger Standort für Innovationen in der Textil- und Modebranche. Dabei stehen Nachhaltigkeit und „smarte Textilien" oben auf der Agenda.
Der Weg ins Stadtzentrum von Borås führt an einem überdimensionalen Pinocchio vorbei, einer neun Meter hohen Bronzeskulptur. Ein Werk des amerikanischen Bildhauers Jim Dine, das noch vor gut zehn Jahren in dem westschwedischen Städtchen kontrovers diskutiert wurde. Viele waren entsetzt – was schließlich hatte die Märchenfigur mit der traditionellen Textilstadt bei Göteborg überhaupt zu tun? Andere bejubelten den Mut der Stadtväter, ein solch unübersehbares modernes Kunstwerk im öffentlichen Raum zu platzieren. Heute markiert Jim Dines Riesenskulptur den Beginn eines Wandels, in Bezug auf das Stadtbild aber auch das Image von Borås in Schweden und darüber hinaus.
Noch in den 80er-Jahren hatte die Textilkrise in Borås für verheerende Auswirkungen gesorgt – zahlreiche hier ansässige Spinnereien, Textilfabriken, Werkstätten mussten schließen, da sie der Konkurrenz in den asiatischen Billiglohnländern nicht mehr standhalten konnten. 30.000 Jobs gingen verloren. So erzählt es Helena Alcenius vom Textile Fashion Center, das in einer der ehemaligen Fabriken untergebracht ist. Ein lichtdurchflutetes Gebäude mit einem überdachten Innenhof, große Fensterfronten lassen Einblicke in Werkstätten und Ateliers zu, geben aber auch den Blick auf den angrenzenden Kanal frei, dessen Wasser jahrhundertelang Mühlräder und Maschinen antrieb.
Auch wenn viele Jobs in der Textilbranche verloren gegangen seien, sagt Helena, habe man es doch geschafft, in Borås verwandte Branchen anzusiedeln – der Onlineversand von H&M ist in dem Städtchen bei Göteborg ebenso ansässig geworden wie Forschungslabore, Textil- und Modedesigner. Einen gehörigen Anteil daran hat das Textile Fashion Center – hier residiert unter anderem die Swedish School of Textiles, an der momentan rund 900 Studenten aus aller Welt unter anderem Programme in Textiltechnik, Design, Marketing aber auch zur Entwicklung neuer Materialien besuchen. Die Rahmenbedingungen fänden wohl kaum ihresgleichen, betont Stig Nilsson von der Hochschule, während er Besucher durch die sogenannten Labs der Universität führt.
Vom traditionellen Handwebstuhl bis hin zu den neuesten computergesteuerten Hightech-Maschinen können die Studierenden hier verschiedenste Techniken erlernen und experimentieren. Beispielsweise bei der Suche nach neuen Fasern für die Herstellung von Textilien, angesichts immer knapper werdender Rohstoffe eines der aktuellen Themen der Branche. Akram Zamani erforscht zurzeit, wie Lebensmittelabfälle – vor allem Brot – für die Herstellung von Fasern verwendet werden können. Andere Nachwuchswissenschaftler untersuchen, wie man unterschiedlichste Pilzarten als biologischen und damit umweltfreundlichen Farbstoff einsetzen könnte – nicht nur für Kleidung sondern in erster Linie für Lebensmittel. Manche der Ateliers ähneln daher eher einem Chemielabor, in anderen großen Hallen sitzen Studenten an Strickmaschinen und testen die Verarbeitung verschiedener Materialien. Überall stehen Regale mit Hunderten bunten Garnrollen und Stapeln von Stoffproben, von Kleiderständern baumeln Outfits – vom kunterbunten Material-Patchwork bis hin zu futuristischen Modellen aus neu entwickelten Kunstfasern.
Eine regelrechte Experimentierwerkstatt
Es ist Zeit für einen Ausflug in die Geschichte von Westschweden als Textilregion. Also geht es eine Etage höher ins „Textilmuseet". Gleich im ersten Raum befindet sich eine Vitrine mit einem Leinensack – Museumsguide Line schmunzelt, als sie die fragenden Blicke der Besucher bemerkt. Ein solch großer Stoffsack habe zur Grundausstattung der Bauern gehört, die in den Wintermonaten als fliegende Händler mit Stoffen und Textilien aber auch anderen Waren übers Land zogen. Handel allerdings war im 17. Jahrhundert nur von Städten aus erlaubt und so schickten die Bauern eine Delegation zu König Gustav II. Adolf, um Stadtrechte zu bekommen. Der Grundstein für das schwedische Textilzentrum Borås war gelegt, in dem im 19. Jahrhundert Dutzende Spinnereien, Färbereien und Fabriken für Wohlstand sorgten. Beispiele für die teils mühseligen, teils extrem aufwendigen Arbeitsprozesse damals gibt es im Museum reichlich – von der Kollektion feinster Kleidung aus den Jahren 1870 bis 1920 zu überbordend bestickter Haushaltswäsche und aus Stoffbändern geknüpften Teppichen.
Daneben alte Webstühle, die ohrenbetäubend rattern, wenn Guide Line sie in Gang setzt. Das „Textilmuseet" widmet sich aber auch den prekären Lebensbedingungen der Menschen, die in den Manufakturen und Fabriken arbeiteten. Um sie mit heutigen Verhältnissen beispielsweise in Textilzentren in Indien und Bangladesch zu vergleichen ist die Wellblechhütte einer indischen Familie eins zu eins aufgebaut – inklusive festgestampftem Lehmboden und dürftigem Mobiliar. Einen Raum weiter leuchten und funkeln im Halbdunkel prächtige Theaterkostüme um die Wette, eine Sonderausstellung, die inzwischen von einer Gianni-Versace-Retrospektive abgelöst wurde.
Doch das „Textile Fashion Center" in Borås beherbergt nicht nur eines der renommiertesten Ausbildungsinstitute in Sachen Design und Textiltechnik und ein detailverliebt gestaltetes Museum. Viel Raum ist auch der Forschung gewidmet – und dabei allen nur denkbaren Kooperationen zwischen Fashion und Hightech, zwischen Nachwuchsdesignern und Wirtschaftsunternehmen. Was alles möglich ist und sein könnte, kann der Besucher im „Smart Textiles Showroom" sehen. Wo ein aus Holzfasern – Abfallprodukten der regionalen Holzproduktion – hergestelltes Kleid ebenso ausgestellt ist wie „Mollii", ein eng anliegender Trainingsanzug mit integrierten Elektroden. Er wurde speziell für Menschen mit Lähmungen oder Störungen des Nervensystems entwickelt und kann ihnen dabei helfen, sich trotz Beeinträchtigung des Bewegungsapparats im Alltag zurechtzufinden. Das aber sei erst der Anfang, sagt Mathias vom gleich nebenan liegenden „Do Tank" – einer riesigen Experimentierwerkstatt, die allen zur Verfügung steht, ausgestattet mit dem Neuesten, was an 3-D-Druckern, Lasercuttern und Co. auf dem Markt ist. Die werden unter anderem dafür eingesetzt, um ressourcenschonende Materialien zu entwickeln. Eines der neuesten Projekte: die Herstellung von Shirts aus abbaubarem, wasserlöslichen Material.