Bei all dem Hype um den „Joker" wissen wohl nur die wenigsten, dass Joaquin Phoenix einen ziemlich bewegten Lebens- und Wandlungsweg vom Hippie- und Sektenkind zum gefeierten Schauspieler hinter sich hat. Selbst sein eigentlicher Geburtsname blieb dabei auf der Strecke.
Kaum zu glauben, dass zwei der begnadetsten Schauspieler der jüngsten Vergangenheit ausgerechnet aus einer ehemaligen Hippie- und Sektenfamilie abstammen. Als bislang einzigem Brüderpaar der Filmgeschichte ist ihnen beiden eine Oscar-Nominierung gelungen, obwohl sie teils nicht einmal eine reguläre Schul-, geschweige denn eine Theater- oder Leinwandausbildung absolviert hatten. Dabei stand Joaquin (phonetisch „Wha-keen" ausgesprochen) lange Zeit im Schatten seines auf der Leinwand in seinen Charakterrollen schnell zum Antihelden im Stil aufgebauten Bruders River Jude, der seit seiner Teenagerzeit bis zu seinem durch einen wilden Speedball-Drogencocktail verursachten Tod im Alter von gerade mal 23 Jahren so etwas wie der Hauptverdiener der Familie war. Schon im zarten Alter von fünf Jahren musste River gemeinsam mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Rain zum Kohlemachen auf den Straßen des venezulanischen Caracas Gitarre spielen und dazu singen. Etwa ein Jahr zuvor hatte am 28. Oktober 1974 mit Joaquin Rafael das dritte Kind der Familie Bottom in San Juan, der Hauptstadt von Puerto Rico, das Licht der Welt erblickt. Später kamen noch die Kinder Liberty und Summer hinzu, die von den Eltern ebenso wie ihre drei älteren Geschwister ganz gezielt in den Schauspielberuf hineingedrängt werden sollten.
Wie viele junge Hippie-Jünger hatten sich der aus Kalifornien stammende Vater John Lee Bottom und die aus New York stammende, vom Juden- zum Christentum konvertierte Mutter Heart, geborene Aryl Sharon Dunetz, 1973 der von David Berg 1968 gegründeten Sekte „Children of God" angeschlossen und in deren Auftrag Missionsarbeit zur Mitglieder-Akquise in Süd- und Mittelamerika aufgenommen. Ihren Lebensunterhalt versuchten sie dabei als Erntehelfer zu verdienen, da das Geld aber hinten und vorne nicht reichte, mussten die Kinder, die statt eines Schulbesuchs nur von den Eltern unterrichtet wurden, schon früh mit einspringen. Ende 1978 stiegen die Eltern aus der Sekte aus, wofür laut John Lee vor allem das „Flirty Fishing", eine Art von Prostitution zur Mitgliedergewinnung, und der herrisch-messianische Führungsanspruch von David Berg verantwortlich gewesen waren, womöglich auch noch die von der Sekte geduldete und häufig praktizierte Pädophilie.
Das Geld der Eltern reichte nie
Einer Legende nach wurde die gesamte Familie auf der Rückreise in die USA zu Veganern, da sie auf ihrem Schiff die hässliche Seite des kommerziellen Fischfangs miterleben mussten. Die Bottoms ließen sich zunächst im Dezember 1978 für kurze Zeit in Gainesville/Florida nieder und legten sich als Zeichen für einen kompletten Neuanfang den Namen Phoenix zu, schließlich war auch dieser antik-mythische Vogel aus seiner eigenen Asche wieder auferstanden. Womöglich ist die ab diesem Punkt einsetzende Sozialisation eine mögliche Erklärung dafür, dass laut dem Portal epd-film.de „sich die Figuren, die Joaquin Phoenix im Laufe seiner mittlerweile gut 35-jährigen Karriere gespielt hat, eher selten in tradierte Rollenmuster oder Darstellungsklischees fügen."
Nach dem 1979 erfolgten Umzug nach Los Angeles traten die Eltern ganz brav ins bürgerliche Leben ein, der Vater wurde Landschafsgärtner, die Mutter trat einen Job als Sekretärin beim Fernsehsender NBC an. Und Joaquin legte sich den Vornamen „Leaf" (= Blatt) zu, weil er ähnlich wie seine Geschwister kosmisch-naturverbunden angesprochen werden wollte. Ein kleiner persönlicher Rückfall in die Flower-Power-Zeiten seiner Eltern, die vormals auch mit der Namenswahl für ihre anderen Kinder der konservativen Gesellschaft ganz bewusst eine Absage erteilt hatten. Erst als Fünfzehn- oder Sechszehnjähriger sollte er wieder zu seinem ursprünglichen Vornamen Joaquin zurückkehren. Zeitlich fiel das ziemlich genau mit seiner ersten frühen Lebenskrise zusammen. Die Eltern standen vor der Scheidung, Joaquin schlug sich auf die Seite seines Vaters und trat mit ihm eine Art von Flucht nach Mexiko an, um danach auf eigene Faust auch die benachbarten Staaten der Region auf einer langen Entdeckungstour zu erkunden.
In seiner Filmografie gibt es daher für die Jahre 1990 bis 1995 eine Lücke. Vor allem seiner Mutter, die allen ihren fünf Kindern mit kleinen Werbespot-Engagements die Tür zur Filmindustrie geöffnet hatte, dürfte die cineatische Auszeit ihres Drittgeborenen kaum gefallen haben. Zumal dieser seit seinem ersten kleinen Auftritt in der TV-Serie „Seven Brides for Seven Brothers" 1982 schon das Potenzial hatte aufblitzen lassen, in die Fußstapfen seines schon gefeierten Bruders River treten zu können. Doch selbst erste Engagements in Kinofilmen seit 1986 schienen in Joaquin nicht die Flamme des Berufswunsches Schauspielerei entzünden zu können. Auch das tragische Schicksal seines Bruders River, der mit 14 Filmen in elf Jahren kometenhaft zu einem der talentiertesten Hollywood-Jungstars aufgestiegenen war, dürfte ihn nachdenklich gestimmt haben. Er selbst war es, der an Rivers Todesabend den Notruf vor dem von Johnny Depp geführten Nachtclub „The Viper Room" in Los Angeles getätigt hatte.
Letztlich hatter River ihn aber zur Wiederaufnahme der Schauspielerei aufgefordert, wie Joaquin 2019 öffentlich bekannte: „Dafür stehe ich in seiner Schuld. Die Schauspielerei hat mir so ein unglaubliches Leben beschert." Und auch im Eintreten für Umwelt- und Klimaschutz oder für die Tierrechtsorganisation Peta folgte Joaquin ganz dem Vorbild seines Bruders. Nur dessen musikalischen Aktivitäten, beispielsweise der Gründung der Folk-Rock-Band „Aleka’s Attic", hat Joaquin bislang außer den Songs für den Film rund um das Leben von Johnny Cash „Walk the Line" und einigen von ihm als Regisseur gedrehten Musikvideos kein gleichwertiges Pendant an die Seite stellen können.
Der vermeintliche, 2008 postulierte und von vielen geglaubte Wechsel vom Schauspieler zum Rapper war ja nichts anderes als ein clever inszenierter Medienspaß, um daraus die 2010 lancierte Mockumentary „I’m Still Here" zu machen. Ein riskantes Spiel, mit dem auf das problematische Verhältnis von Prominenz, Publikum und Presse hingewiesen werden sollte. „Mich zum Affen zu machen", sagt Phoenix im Rückblick, „war total erleichternd. Ich war ja von der Schauspielerei unter anderem deswegen frustriert, weil ich sie so ernst nahm. Ich wollte derart gut sein, dass ich mir selbst im Weg stand."
„Die Schauspielerei hat mir so ein unglaubliches Leben beschert"
Sein markantestes Merkmal, nämlich die Narbe zwischen Oberlippe und Nase, stammt nicht von einem Unfall, den er im Januar 2006 ausgerechnet mit dem deutschen Regisseur Werner Herzog hatte, sondern ist ein Geburtsfehler – eine korrigierte Gaumenspalte. Das frühere Kettenrauchen und die gelegentlichen Alkoholprobleme hat Joaquin inzwischen hinter sich gelassen. Von den sozialen Medien hält er sich fern, man wird ihn also auf Facebook, Twitter & Co. vergeblich suchen.
Sein Privatleben versucht er außerhalb des öffentlichen Rampenlichts zu führen. Im Juni 2019 wurde jedoch seine Verlobung mit Schauspielkollegin Rooney Mara bekannt, mit der er seit 2016 nach gescheiterten Beziehungen mit der Actrice Liv Tyler (von 1995 bis 1998), der Schauspielerin Anna Paquin (2001), dem Model Topaz Page-Green (2001 bis 2005) und der DJane Allie Teilz (2012 bis 2015) liiert ist.
Er ist eng befreundet mit Kollegen wie Matt Damon, Vince Vaughn, Keanu Reeves oder Ben Affleck und nennt selbst häufiges Reisen sowie die Lektüre der Werke von Tennessee Williams, Rainer Maria Rilke oder Hubert Selby jr. als seine Lieblingshobbys. Politisch ist er in der von seiner Mutter geleiteten „The Peace Alliance" engagiert, die unter anderem die Einrichtung eines US-Friedendepartements fordert, und hatte sich vor den US-Präsidentschaftswahlen 2016 für den Reformer Bernie Sanders öffentlich stark gemacht.