Es gibt Momente im Leben, da passt einfach alles. Auf solch einem Höhenflug befindet sich derzeit Joaquin Phoenix. Die Diskussion um die Darstellung der Figur des
Jokers könnte seiner Karriere eine neue Richtung geben.
Psychopath hin, Kontroversen her: Der Joker verkauft sich einfach gut. Regenschirme, Krawatten, Baseballcaps, Schlüsselbänder, Brotdosen, Sneakers, Perücken, Tassen, Shirts – es gibt kaum etwas an Fan-Artikeln, das nicht das irre Grinsen des „Clownprince of Crime" trägt. Durch seine zahlreichen Inkarnationen in Filmen, Fernsehserien, Computerspielen, Büchern und natürlich den Comics hat der Charakter längst einen Platz im kollektiven Gedächtnis sicher. Das Joaquin Phoenix im aktuellen Psychodrama „Joker" eine ebenso beeindruckende wie fesselnde Leistung abliefert, ist unbestritten.
Der 45-Jährige, der wegen der Intensität der Darstellung als heißer Oscar-Kandidat gehandelt wird, dürfte sich des regen Interesses an dem aktuellen Film also bewusst gewesen sein. Seine erste Reaktion sei „Auf keinen Fall!" gewesen, wie er dem Portal goldenekamera.de vor Kinostart erzählte. Er fügte aber auch hinzu: „Ich wusste schon immer, dass es bei Figuren wie dem Joker noch sehr viel zu ergründen gibt, das wir bisher in anderen Comicverfilmungen noch nicht gesehen haben. Von dieser schmerzvollen Seite hatte ich den Joker noch nie gesehen."
Zum Hype um den Film spielt natürlich erst mal die Rolle an sich mit hinein. Die durch den deutschen Schauspieler Conrad Veidt in „The Man Who Laughs" inspirierte Figur ist so ziemlich seit Anbeginn des Siegeszuges der Batman-Comics mit dabei. Anfänglich als „normaler Massenmörder" charakterisiert, erlebt sie im Laufe der Jahrzehnte sowohl in Comics als auch in anderen Medien immer wieder Veränderungen. Einen komödienhaften Touch verleiht dem Joker von 1966 bis 1968 Cesar Romero in der „Batman"-Fernsehserie. Ein Meilenstein nicht nur in der Darstellung des hageren Killers, sondern generell im Bereich der Comicverfilmungen legt Tim Burton 1989 mit seiner Kinovision „Batman" vor. Dort glänzt Jack Nicholson als durchgeknallter, aber auch irgendwie liebenswerter Verbrecher-Onkel. Mit seinem von Haus aus sardonischen Grinsen zählt er als Idealbesetzung.
Tim Burtons Version war komödiantisch
Doch schon von 1996 bis 2000 wird ein weiteres Meisterstück erstausgestrahlt: die Zeichentrickserie, die im Original ganz einfach „Batman: The Animated Series" heißt. Um in den Genuss der famosen Stimmarbeit von Mark Hamill zu kommen, sollte man das natürlich auch im Original schauen beziehungsweise hören. Dank dieser Serie kann sich Hamill nach dem Megaerfolg als Luke Skywalker in den „Star Wars"-Filmen aus einer künstlerischen Flaute wieder herausarbeiten. „Viele Jahre habe ich davon geträumt, eine Rolle zu finden, die so weit wie möglich von Luke entfernt war …", erinnert er sich in einem Tweet anlässlich des „Batman Days" im vergangenen Jahr. Hamills Joker-Stimme erklingt seitdem in Spielzeugen, Freizeitparks, Filmen aus der Animationsfilmreihe der Warner Studios und diversen Computerspielen. Etwa in der famosen „Arkham Asylum"-Reihe.
2008 sollte aber endgültig das Jahr des Jokers werden. Der britische Regisseur Christopher Nolan stellte dem dunklen Ritter in „The Dark Knight" seine bis dato ultimative Nemesis gegenüber: den Australier Heath Ledger, der sich anfangs noch wegen seines Castings verteidigen musste. In einem seiner letzten Interviews vor seinem Tod durch einen Mix an Schmerz- und Beruhigungsmitteln – mutmaßlich ein Unfall – sagte Ledger im „FHM"-Magazin über seine Rolle: „Ich landete in der Welt eines Psychopathen." Er überzeugt mit seinem genialischen, infernalisch-intensivem Spiel jedoch Kritik und Publikum gleichermaßen – und erntet posthum einen Oscar für die beste Nebenrolle.
Joaquin Phoenix jedenfalls reiht sich also ein in eine lange Reihe von handwerklich und inszenatorisch herausragenden Leistungen. Dass das große Publikum erst recht spät seine Leistungen honoriert, ist ein Schicksal, das er mit Granden wie Robert Downey junior oder Johnny Depp teilt. Beide waren früh als Charaktermimen anerkannt, hatten nie große kommerzielle Erfolge vorzuweisen, hielten dafür aber die Regenbogenpresse mit Alkohol- und Drogeneskapaden in Atem. Drogen sind es auch, die Phoenix 1993 den Tod seines schauspielerisch ebenso hochbegabten Bruders River hautnah miterleben lassen. Der 23-Jährige stirbt nach einer Überdosis Heroin und Kokain in Joaquins Armen.
Ab Mitte der 90er startet er durch, überzeugt in „To Die For" neben Nicole Kidman und in „U-Turn" von Oliver Stone. In „Gladiator" trumpft er 2000 als gestörter und mörderischer
Commodus neben Russell Crowe auf. Zwei Jahre später besteht er als Alu-behüteter Sohn locker neben seinem Filmvater Mel Gibson in „Signs – Zeichen", dem Film zum Kornkreis-Phänomen. 2010 verstört Phoenix als er selbst in der Fake-Dokumentation „I’m Still Here" über seinen Neustart als Rap-Musiker.
Seine dritte Oscar-Nominierung erhält er für das Psychogramm „The Master", in dem er einen Veteranen mimt, der in den Bann eines Sektenführers gerät. Es folgen 2013 „Her", ein Jahr später die Krimi-Groteske „Inherent Vice – Natürliche Mängel" und 2017 das brutale Drama „A Beautiful Day". Bereits 2005 fühlte er sich famos in den Countrysänger Johnny Cash in „Walk the Line" ein. Von der „Elle" danach befragt, ob er wirklich weder singen noch Gitarre habe spielen können, antwortet er 2006: „Wenn ich eine Rolle spiele, muss ich alles vergessen, was ich kann und ganz von vorn anfangen. Am besten werde ich, wenn ich mich richtig unwohl fühle."
Wie unwohl muss er sich wohl bei „Joker" gefühlt haben, um diese Leistung abzurufen? Diese zahlt sich auch finanziell aus. Der nicht gerade zimperliche Streifen von „Hangover"-Regisseur Todd Phillips knackt als erster R-Rated-Film die Milliarden-Marke. Es bedeutet im Grunde, dass in Amerika Kinder und Jugendliche unter 17 Jahren den Film nur in Begleitung eines Elternteils oder Erwachsenen anschauen dürfen. In Deutschland ist „Joker" von der Freiwilligen Selbstkontrolle ab 16 Jahren freigegeben. Die Diskussion über die angeblich verherrlichende Gewaltdarstellung sorgt sicherlich ebenfalls für vermehrte Aufmerksamkeit. Einige US-Kinobetreiber befürchten Anschläge wie 2012 in Aurora, als ein Amokläufer während der Premiere des Batman-Films „The Dark Knight Rises" in das Publikum feuerte.
Ihnen spielte die ambivalent angelegte Figur des Jokers in die Hände und auch die Machart des 2019er-Jokers, die dem Geschehen einfach folgt und über nichts urteilt. Phoenix selbst teilte dem Magazin „Access" mit: „Ich hatte komplizierte, gemischte Gefühle beim Lesen des Drehbuchs, was den Charakter des Joker betrifft. Aber ich mochte das." Und „Brisant" gegenüber verlautbarte er über die Motive seiner Figur Arthur Fleck: „Ich verstehe, wenn jemand sein eigenes Leben schützt. Aber das ist jemand mit psychischen Problemen, der überall Gefahren sieht. Ich weiß nicht, ob ich meiner Filmfigur trauen kann, wenn sie sagt, dass sie sich angegriffen fühlt."
Last des Films liegt auf seinen Schultern
So wie Johnny Depp 2003 mit seiner Darstellung des zerzausten Captain Jack Sparrow in „Fluch der Karibik" die Kassen klingeln lässt und Robert Downey juniors Stunde 2008 mit der selbstironischen Darstellung des Tony Stark in „Iron Man" schlägt, hat nun auch Joaquin Phoenix einen veritablen kommerziellen Erfolg vorzuweisen – und möglicherweise den Start eines eigenen Franchise? Was den riesigen Erfolg von seinen vorherigen Filmen wohl am ehesten unterscheidet: Die Last des Filmes liegt ganz alleine auf seinen Schultern.
Mit dem Hauptdarsteller feiert übrigens auch das DC-Universum endlich nicht nur einen kommerziellen, sondern vor allem einen künstlerischen Riesenerfolg. Gern drischt man ja auf die Verfilmungen eines der größten amerikanischen Comicverlage wie „Suicide Squad" oder den unterhaltsamen „Justice League" ein. Viele Filmfans präferieren die immer gleichen Storys aus dem Marvel Cinematic Universe (MCU) – die mit den „Avengers"-Filmen, „Black Panther" oder „Captain Marvel" erfolgreichste Filmreihe überhaupt. Phoenix hatte übrigens schon vor einigen Jahren das Angebot, im MCU mitzuwirken. Er war als Ersatz für Edward Norton als Bruce Banner respektive Hulk im Gespräch und bekam auch die Hauptrolle in „Doctor Strange" angeboten. Er lehnt jedoch ab, da ihn vor allem die langfristige Vertragsbindung abschreckt. Im Gespräch mit dem Portal Little White Lies sagt er zudem: „Ich glaube, jede Seite war wirklich glücklich darüber, wie sich alles entwickelte."
Ob er für seinen Joker einen Goldjungen erhält, wird sich am 9. Februar zeigen, wenn der bekannteste Filmpreis der Welt verliehen wird. Seit vergangenen Montag ist es amtlich: Phoenix hat wieder einmal eine Nominierung als bester Hauptdarsteller eingefahren. Bei den Golden Globes war der Film in vier Kategorien nominiert: Als bester Film, für die beste Regie, die beste Originalmusik – und natürlich für die beste Hauptrolle – und ja, für seinen Arthur Fleck bekam er ihn. Der Golden Globe zählt ja als Gradmesser für einen Oscar-Gewinn.