Ob römischer Herrscher oder Johnny Cash, ob Rapper oder zugekiffter Privatdetektiv: An Vielfältigkeit fehlt es Joaquin Phoenix bei der Wahl seiner Filmrollen nicht. Als „Joker" eroberte er jüngst weltweit die Kinos und gilt als Oscarkandidat Nummer eins.
Seine erste Oscarnominierung ist das allerdings nicht, denn schon seine Verkörperung des römischen Kaisers Commodus in „Gladiator" wurde der damals 26-Jährige in der Kategorie Bester Nebendarsteller vorgeschlagen. Zu Recht, denn wer den Film gesehen hat, der merkte: Phoenix schien sich den sadistischen Kaiser so sehr in seine Seele gesaugt zu haben, dass es selbst viele Zuschauer im Kinosessel schmerzte – so offensichtlich war in seinem Gesicht dieses morbide Zusammenspiel aus Hass, Neid und Wahnsinn zu sehen: Commodus nahm sich ganz wahrhaftig seinen greisen Vater Marcus Aurelius zur Brust und erstickte ihn in seinen Armen. Des Vaters Tod war des Sohnes Rache, weil der alte Herr nicht den gesetzlichen Stammhalter, sondern den Feldherrn Maximus zum Nachfolger bestimmen wollte. In dieser Szene zeigt Joaquin Phoenix große Schauspielkunst. In seinem Gesicht ist Enttäuschung ebenso zu erkennen wie Verzweiflung und Wut – und ja, auch etwas Trauer über den Vater, der in diesen Sekunden sein Leben durch die Gewalt des Sohnes aushaucht. Was sein muss, muss sein.
Dieses Aufeinandertreffen von Emotionen und Charaktereigenschaften in einer Person ist typisch für die Figuren, die sich Joaquin Phoenix aussucht. Während viele Schauspielkollegen sich recken, entweder das schier abgrundtief Böse und die allumfassende Liebe darstellen zu können, scheint diese Einseitigkeit für Phoenix nicht ausreichend zu sein. Und in zwei Filmen ähnliche Männer darzustellen, das käme für den Edel-Akteur schon gar nicht in Frage. Phoenix’ ungeschriebenes Gesetz scheint zu sein, sich mit einem neuen Film jeweils von dem vorherigen so weit wie möglich zu entfernen. So kommt es, dass heute noch – trotz einer gut 35 Jahre andauernden Karriere – bei vielen Kinobesuchern das Gesicht von Phoenix nicht recht einzuordnen ist.
Erstmals für Aufmerksamkeit sorgte er im Jahr 1995 in der Filmwelt. An der Seite von Nicole Kidman spielte er in Gus Van Sants „To Die For" den Jimmy, einen verklemmten Sonderling, der von Kidman als skrupelloser TV-Moderatorin verführt und manipuliert wird. Jimmy begeht blind vor Liebe einen Mord. Erst im Gefängnis scheint er wieder klar sehen zu können, und es ist Phoenix zu verdanken, dass der zum Bauernopfer degradierte Jimmy eine gewisse charakterliche Tiefe erhält statt hinter Kidman und Matt Dillon, der die männliche Hauptrolle spielte, in Vergessenheit zu geraten.
Dennoch: Nach „To Die For" stocke die Karriere von Joaquin Phoenix. Er schien sich noch nicht vom Tod seines Bruders River erholt zu haben. Dieser galt bis zu seinem Ableben als Jungstar Nummer eins, und Joaquin hätte sich im Schauspiel stets mit ihm vergleichen lassen müssen. So dauerte es bis 1997, um Joaquin wieder in einem Erfolgsfilm sehen zu können. Zwar trat er in „U-Turn – Kein Weg zurück" als quasi Neben-Neben-Rolle auf (sein Name erscheint erst an sechster Stelle in der Cast-Liste), aber immerhin spielt er unter der Regie von Filmmeister Oliver Stone und zusammen mit Nick Nolte, Sean Penn sowie Claire Daines und Jennifer Lopez: ein Ensemble, das für den komödiantischen Psychothriller großes Lob erhielt.
„Signs" war ein Kassenschlager
Es folgte für Phoenix die Hauptrolle in „Für das Leben eines Freundes" (1998), mit dem sich Schauspieler einen Stoff ausgesucht hatte, der das islamische Regime in Malaysia wegen seiner drakonischen Strafen für Drogendelikte kritisiert. Bemängelt an dem Film wurde, dass die Story nur vordergründig an Menschenrechtsfragen interessiert ist und sich zu sehr um das Gefühlsleben einiger Freunde kümmert. Sie scheitern an der Aufgabe, drei Jahre ihres Lebens zu opfern, um ihren Freund vor der Todesstrafe zu bewahren. Dass Phoenix sich eben die Rolle des Verurteilten ausgesucht hat, ist ein Glücksfall für den sonst schwachen Film. Phoenix versteht es, die Angst vor seiner Hinrichtung ebenso zu vermitteln wie ein gewisses Verständnis für die Gewissenskonflikte seiner Freunde.
Wie schon „Für das Leben eines Freundes" kam auch Phoenix‘ nächster Film nicht so richtig gut bei Kritikern und Publikum an. In „8mm" geht es um einen Privatdetektiv (Nikolas Cage), der bei den Recherchen eines Gewalt-Pornos auf einen Sexshop-Besitzers (Phoenix) stößt. Kein einfaches Thema, das zudem vor allem in der zweiten Hälfte spannungsarm umgesetzt wurde. Ein Gewinn war der Film aber für Phoenix, weil er ihm die Möglichkeit bot, erneut mit einem großen amerikanischen Regisseur zu arbeiten. Joel Schumacher nämlich hatte zuvor schon Michael Douglas in „Falling Down" (1993) und Matthew McConaughey in „Die Jury" (1996) zu starken Auftritten verholfen. Und so wurde Phoenix’ Darstellung des kriminellen Sexhändlers von vielen Kritikern als beängstigend und verstörend empfunden – und ist doch ein Lob für einen Künstler im Schauspiel.
Im Jahr 2000 wirkte Phoenix in drei Filmen mit und konnte für seine Arbeit an „Gladiator" viele Preise einstreichen. Er hätte sich aus den zahlreichen Folge-Angeboten etwas Leichtes aussuchen können – aber den einfachen Weg zu gehen, ist nicht sein Stil. Und so spielte er in „Quills – Macht der Besessenheit" mit. Der Film schildert die letzten Lebensjahre des Marquis de Sade in der psychiatrischen Klinik Charenton in Charenton-Saint-Maurice. Es gab viel Lob für den Film, aber wenig Zuspruch an der Kinokasse. Weitere kleine Filme folgten, bis sich Phoenix mit „Signs – Zeichen" (2002) wieder dem Mainstream zuwandte. Der Mystery-Film war ein großer Kassenschlager, dessen Ruhm allerdings eher Regisseur M. Night Shyamalan zuzuschreiben ist als dem Schauspieler. Das Duo aber funktionierte gut, und es drehte 2004 noch „The Village". Shyamalan hatte die Hauptrolle extra für Phoenix geschrieben und lobte ihn groß. Phoenix ginge um spontane Gefühlszustände, er habe die benötigte Magie für seinen Film, sagte der Regisseur.
Ein Höhepunkt in der Filmografie von Joaquin Phoenix ist „Walk the Line". Das Biopic über den Sänger Johnny Cash und seiner Frau June Carter war perfekt von den Vorbereitungen (Cash soll Phoenix in „Gladiator" gesehen und ihn sich als Hauptdarsteller gewünscht haben), über die Dreharbeiten (die Chemie zum Co-Star Reese Witherspoon war ausgezeichnet) bis hin zum Kassenerfolg („Walk the Line" war weltweit ein Hit). Dass Phoenix die Johnny-Cash-Lieder selbst gesungen hat, wurde mit einer Oscarnominierung als Bester Hauptdarsteller belohnt. Aber am besten sind die Szenen mit Phoenix, wenn er lauscht, wenn er anderen zuhört. Seiner Frau etwa, die er immer wieder anschaut – mal voller Liebe, mal voller Zorn und mal voller Bewunderung, wenn sie singt. Dass das Ehepaar Cash während der Dreharbeiten starb, brachte – so bitter es erscheint – dem Film sicher große Aufmerksamkeit.
Kommerzielle Durststrecke
Nach diesem Erfolg wirkte Joaquin Phoenix in Filmen mit, die zwar aus unterschiedlichen Genres kommen, aber etwas gemeinsam haben: Sie blieben blass an der Kinokassen und bei der Kritik. Ob „Ein einziger Augenblick (Reservation Road)" (2008), „Two Lovers" (2008), „The Master" (2012) und „The Immigrant" (2013) oder „Inherent Vice –
Natürliche Mängel" (2014), „Irrational Man" (2015), „A beautiful Day (2017) oder in jüngster Zeit noch „Maria Magdalena" (2018) und „The Sisters Brothers" (2018): Die Werke knüpften nicht an den Erfolg von „Walk the Line" an und bezeichnen eine kommerzielle Durststrecke von Joaquin Phoenix. Künstlerisch hingegen ist bemerkenswert, mit wem der Schauspieler zusammengearbeitet hat: Philip Seymour Hoffman, Marion Cotillard, Owen Wilson und Emma Stone waren seine Schauspielpartner und Regisseure wie Gus van Sant und Woody Allen holten Phoenix vor ihre Kameras. In dieser Phase von zuweilen mäßigen bis höchstens durchschnittlichen Kritiken freilich blieb der Schauspieler sich treu. Seine Filmfiguren sind charakterlich stets vielfältig – oft gebrochen, verstörend, leidenschaftlich oder gefühlskalt, zuweilen sogar humorvoll. Einen normalen Menschen zu verkörpern – für Joaquin Phoenix undenkbar.
Rückblickend, so scheint es, als hätte sich Phoenix seit seiner Zeit als junger Schauspieler nur vorbereitet auf das Glanzstück seiner Karriere: „Joker". Denn für die Darstellung von Batmans späterem Gegenspieler verschmilzt er alle jemals zuvor gezeigten Charaktereigenschaften. Der Sadismus von Kaiser Commodus, die Unterwürfigkeit aus „To Die For", die Todesangst aus „Für das Leben eines Freundes" und künstlerische Kreativität eines Johnny Cash: Alle Nuancen verbindet er, um sie dann wie einen filmischen Vulkan in alle Richtungen explodieren zu lassen. Dass Joker durch das Insichtragen so vieler Emotionen nur noch den Wahnsinn verfallen kann, ist folgerichtig, brillant und besorgniserregend zugleich. Ein Oscar ist dem Schauspieler sicher. Und dann? Joaquin Phoenix ist 45 Jahre alt. Noch viel Zeit also, die Filmwelt durch zahlreiche Filmrollen zu bereichern.